Bauch oder Kopf
Unser Gehirn funktioniert nicht nach dem Prinzip einer informationsverarbeitenden Maschine, wie es die Konstruktivisten sehen. Es nimmt zwar auch Informationen auf und verarbeitet sie, aber es beruht auf weitgehend biologischen Grundlagen. Seine wetware ist von einem pulsierenden Wirrwarr neurochemischer Substanzen erfüllt und hat nichts gemein mit dem keimfreien, ordentlichen Silizium eines Computers. Die Gehirnstruktur selbst bildet die materielle Basis für das Wechselspiel von Wahrnehmen, Empfinden, Erinnern und Handeln.
Wahrnehmung
In unserem Wahrnehmungssystem sind, evolutionär bedingt, bereits gewisse Grundannahmen neuronal angelegt. So ist die Regelhaftigkeit der Welt um uns herum ebenso wie unsere eingeschliffene Methode, mit ihr umzugehen, als Schema im Gehirn repräsentiert und prägt unser Bild von der Welt, ohne dass wir etwas dazu tun – wie eine Brille, die man nicht wahrnimmt. Die gesamte Reizverarbeitung, alle geistigen Prozesse, von der Urteilsbildung über Entscheidungen bis hin zur Handlungssteuerung, sind dabei auf das sichere Erkennen und Bewerten der für uns relevanten Umwelt hin selektiert.
Die primären Sinnesdaten erreichen über Nervenbahnen verschiedene Areale des Gehirns, wo sie parallel und vorbewusst verarbeitet werden. Schon in den ersten Millisekunden wird beurteilt, ob sie gut oder schlecht für uns sind – völlig automatisch und unabhängig. Das, was als Gefahr erkannt wird, erleben wir als bedrohlich, ein fröhliches Gesicht stimmt uns heiter, eine süße Speise empfinden wir als wohlschmeckend. An diesen emotionalen Bewertungen sind vor allem limbische Strukturen wie die Amygdalae (Mandelkerne) beteiligt.
Es sind unsere primitivsten und stärksten Gefühle, die den direkten Weg über die Mandelkerne nehmen. Hier kommt aber nur ein Bruchteil der sensorischen Meldungen an, allenfalls grobe Signale, gerade ausreichend z. B. für eine Warnung. (Man braucht nicht genau zu wissen, was etwas ist, um zu erkennen, dass es gefährlich sein könnte.) Dabei kann die dringliche Meldung, die der Mandelkern aussendet, gelegentlich, wenn nicht sogar öfter, veraltet sein – besonders in der wandelbaren sozialen Welt, in der wir Menschen leben. Daher verwirren uns noch als Erwachsene viele mächtige emotionale Erinnerungen aus den ersten Lebensjahren.
Ist die Emotion besonders stark, erklärt der Mandelkern den Ausnahmezustand und stellt das übrige Gehirn unter seine Befehlsgewalt. Dann bleibt die Aktivierung jener kortikalen Prozesse, die normalerweise die emotionale Reaktion zügeln (s. u.), aus. Es kommt zu Kurzschlussreaktionen – Entscheidungen fernab jeglicher rationaler Argumente. Meist wissen die Betroffenen hinterher nicht mehr, was über sie gekommen ist.
Neben der unmittelbaren emotionalen Bewertung spielt die im Gedächtnissystem enthaltene Erfahrung eine wichtige Rolle. Zusammen beurteilen sie innerhalb der ersten etwa 100 Millisekunden, ob die wahrgenommenen Signale „wichtig oder unwichtig“, „neu oder bekannt“ bzw. „interessant oder uninteressant“ sind. In dieser umfassenden vorbewussten Phase der Wahrnehmung entscheidet es sich, ob wir etwas routinemäßig abhandeln können oder ob eine besondere Beachtung erforderlich ist – ob wir beispielsweise etwas tun oder unterlassen sollen.
Was als bekannt und unwichtig eingeordnet wird – die allermeisten Signale -, wird von uns kaum oder gar nicht bewusst wahrgenommen, z. B. Gegenstände in unserem Zimmer oder Verkehrszeichen auf der Straße. Würden wir alle Einzelheiten wahrnehmen, wären unsere Sinnessystem und unsere Großhirnrinde völlig überfordert. Ist etwas wichtig, so antworten wir darauf, wenn möglich, mit einem „vorgefertigten“ Programm, d. h., ohne dass wir uns besonders konzentrieren müssen und ohne dass es tiefer in unser Bewusstsein dringt. Der ganz überwiegende Teil unseres Handelns im Alltag erfolgt aus diesen Entscheidungen, die wir gar nicht als solche wahrnehmen („alltägliche Routine“).
Wird kein Routineprogramm gefunden, das als wichtig genug zur weiteren Bearbeitung eingestuft wurde, dann gelangen die Inhalte der unbewussten Prozesse in den sogenannten globalen Arbeitsraum, einem Netz von Neuronen, das sich wohl über das gesamte Gehirn erstreckt. Welche mentalen Inhalte diesen Arbeitsspeicher erreichen und dort weiterverarbeitet werden, darüber entscheidet die Aufmerksamkeit. Sie fokussiert unsere mentalen Ressourcen auf eine spezifische Information und blendet Dinge aus, die gerade möglicherweise irrelevant sind.
Von der riesigen Informationsflut, die die Sinnesorgane erreicht, gelangt nur ein winziger Bruchteil ins Bewusstsein. So nimmt beispielsweise die Netzhaut des Auges nur einen winzigen Bruchteil der Informationen aus unserer Umwelt auf, ein Äquivalent von 10 Milliarden Bits pro Sekunde. Die Sehrinde im Gehirn erreichen nur noch 10 000 Bits pro Sekunde. Und weniger als 100 Bits pro Sekunde gelangen zu Hirnregionen, die sich mit bewusster Wahrnehmung befassen.
Vieles deutet darauf hin, dass eine bestimmte Stelle im präfrontalen Kortex der Ort ist, wo wichtige kortikale Bahnen zusammenlaufen, die an der Bewusstwerdung einer Wahrnehmung und der Reaktion darauf beteiligt sind. Ist eine Wahrnehmung bewusst geworden, so kann man die Dinge einer neuen Bewertung unterziehen. Areale des präfrontalen Kortex wirken auf diese Weise auch an der Regulierung emotionaler Reaktionen mit, indem sie die Mandelkerne und andere limbische Bereiche dämpfen und auf diese Weise die emotionale Erregung hemmen. Dies ist die Grundlage unserer Fähigkeit, einem Handlungsimpuls zu widerstehen, und führt zu einer analytischeren oder angemesseneren Reaktion.
Subjektivität der Wahrnehmung
Der dünne Datenstrom, der schließlich den globalen Arbeitsraum erreicht, könnte allein sicherlich keine Wahrnehmung erzeugen. Das Gehirn muss dabei selbst mitwirken. Die Sehrinde beispielsweise weist über zehnmal so viele Nervenzellkontakte auf, wie zur Aufnahme der Eingangsinformationen benötigt werden. Diese dürften internen Kontakten zur weiteren Verarbeitung der Signale innerhalb dieser Hirnregion dienen. Es laufen jederzeit zahlreiche kognitive Prozesse ab, ohne dass wir auch nur das Geringste davon bemerken.
Aus den spärlichen und widersprüchlichen Informationen, die uns die Sinne liefern, und aus zunächst einmal nur unzusammenhängenden Daten versucht unser Gehirn eine bedeutungsvolle Wahrnehmung zu formen, noch bevor sie das Bewusstsein erreicht. Dabei greift unser Zentralorgan auch auf Schemata – alte Ideen und Generalisierungen – zurück, um Lücken in der Wahrnehmung zu schließen und die Signale zu einem einigermaßen plausibel und stimmig wirkenden Bild zu kombinieren. Das erspart uns in höchst effektiver Weise aufwändige Denkarbeit und erfordert damit nur einen minimalen, intellektuell eher schlichten Aufwand.
Auch unsere Erwartungen erleichtern dem Organismus die Wahrnehmung, indem sie die Menge der möglichen Interpretationen einschränken. Das Gehirn muss also nicht die gesamte Information analysieren, sondern nur die Abweichungen vom erwarteten Zustand. Der Vorteil liegt in der Zeitersparnis.
Wenn unsere Erwartungen ein zu großes Gewicht bekommen und nicht mehr hinreichend von Sinneseindrücken korrigiert werden, sehen wir Dinge, die nicht da sind. So stellen sich Halluzinationen oder psychische Störungen ein. Das andere Extrem könnte der autistischen Störung zu Grunde liegen. Die Betroffenen, so die These, halten die Welt für sehr verlässlich und messen den eigenen Prognosen wenig Bedeutung bei. Sie betrachten die Umgebung daher sehr eingehend, nehmen Details extrem wichtig und orientieren sich weniger an Kontextinformationen.
Unser Wahrnehmungsapparat scheint also alles zu tun, um mögliche Verwirrungen und Vieldeutigkeiten auszuschalten, bevor ein Sinneseindruck bewusst wird. Nicht ins Gesamtbild passende Daten werden angepasst und ersetzt oder sogar ignoriert. Das geht sogar so weit, dass unsere grauen Zellen auch Fakten aus den Daten tilgen – egal wie offensichtlich sie sein mögen. Auch das, was nicht in unser Selbstkonzept passt, wird verdrängt oder zumindest beschönigt.
Wir haben gelernt, dass die Welt eine Kausalstruktur hat. So geben wir üblicherweise Ereignisfolgen eine kausale Deutung, d. h., wir versuchen, Ursache-Wirkungszusammenhänge zu beschreiben. Dabei begehen wir oft den Fehler, in Kausalketten statt in Kausalnetzen zu denken. So vereinfachen wir komplizierte Sachverhalte und reduzieren sie möglichst auf eine einzige Ursache. Dies führt allzu schnell zu Generalisierungen: Stereotype und Vorurteile sind eine häufige Folge. Sie erleichtern uns die Interpretation von Wahrnehmungen, so dass wir in komplexen Situationen den Überblick behalten und uns schnell zurechtfinden.
Menschen erlernen ganz unterschiedliche kulturelle Wahrnehmungsmuster. Es entscheidet also auch die jeweilige Kultur, was wir wahrnehmen und wie wir etwas beurteilen. Dementsprechend verhalten wir uns dann auch meist sozial angepasst, d. h., nach erlernten Regeln und Normen, die wir uns zumeist über Erfahrungen und Gefühlserlebnissen angeeignet haben.
Wahrnehmung wird aber nicht nur durch persönliche Erwartungen, Wertmaßstäbe und Interessen beeinflusst, sondern ebenso durch den aktuellen emotionalen Zustand. Motivations- und Stimmungsschwankungen und die momentanen Bedürfnissen – etwa nach Ruhe, nach aufregenden Erlebnissen oder nach Nahrung – beeinflussen ebenfalls die aktuelle Wahrnehmung. Sind Menschen gestresst, werden sie extrem aufmerksam für negative Informationen. Das war im Laufe der Evolution von Vorteil, denn es erhöhte die Überlebenschance, indem es die Aufmerksamkeit für Bedrohungen steigerte.
Wenn uns eine Sinneswahrnehmung nach einer halben Sekunde, manchmal einer dreiviertel Sekunde, manchmal sogar erst nach einer Sekunde bewusst wird, ist sie also bereits verarbeitet, reduziert und in einen Zusammenhang gestellt. Durch die Interpretation im Lichte vergangener Erfahrungen, Erwartungen und Zielsetzungen, sowie der Reduktion der Daten, prägen wir der Welt Strukturen auf, die sie uns nicht nur verständlich, sondern auch erträglich, angenehm oder auch abstoßend erscheinen lässt. Unsere Wahrnehmung ist also weit entfernt von Objektivität. Sie ist vielmehr ausgiebig und intensiv gefärbt mit subjektiven Gedanken und Phantasien, mit Wünschen, Gefühlen und Schlussfolgerungen. Unsere Umwelt wird also nicht mit der Neutralität zur Kenntnis genommen, die wir oft voreilig voraussetzen. Verschiedene Menschen sehen tatsächlich verschiedene Dinge, was z. B. bei der Vernehmung von Augenzeugen große Probleme bereiten kann.
Die Subjektivität der Wahrnehmung ist nicht nur die Ursache gelegentlicher Missverständnisse, sondern kann auch von Dritten gezielt zur Vorspiegelung falscher Tatsachen ausgenutzt werden. Denn den meisten Menschen ist diese Subjektivität kaum bewusst. Das hat eine Illusion zur Folge: Die Welt scheint uns ganz unmittelbar zugänglich und verlässlich, obwohl das Gehirn die Sinneswahrnehmungen tatkräftig manipuliert. Als Resultat entstehen persönlich gefärbte „Eigenwelten“ und damit unterschiedliche Wirklichkeiten. Und darauf basiert auch ein Teil dessen, was das Wesen und die Persönlichkeit eines Menschen ausmacht.
Dass der Mensch die meisten Verzerrungen nicht wahrnimmt, kann durchaus als sinnvoll betrachtet werden. Irrtümer zu leugnen (eine „sture Gewissheit„) schützt das Selbstbewusstsein und stärkt das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten. Illusionen werden so zu einer Grundlage des Selbstwertgefühls und helfen dem Menschen, die Person zu sein, die er sein will. Ein einmal zusammengedrechseltes Gedankengebäude kann stabiler sein als echtes Wissen. Glaubt man einmal, etwas verstanden zu haben, hält man hartnäckig daran fest. Wir neigen sogar dazu, neue Informationen zu verdrehen, damit sie in unser Gedankenschema passen. Offensichtlich fällt es uns schwer, einmal geglaubte und „verstandene“ Erklärungen grundsätzlich in Frage zu stellen und uns so der damit verbundenen geistigen Unsicherheit auszusetzen. Vor allem bei sich rasch wandelnden Situationen, mit denen wir häufig konfrontiert werden, ist die Fähigkeit zu einer Veränderung unserer Vorstellungen überfordert.
Statt die eigene Überzeugung kritisch zu prüfen, suchen wir tendenziell eher Rückhalt z. B. durch die einseitige Auswahl oder Interpretation von Informationen. Werden uns unliebsame Gegenbelege vorgelegt, fangen wir gerne mit Haarspalterei an und verschließen die Augen vor dem Offensichtlichen. Die eigenen Glaubenssätze nüchtern an den Fakten zu prüfen, fällt sogar Wissenschaftlern sehr schwer. Im Extremfall braucht es Jahrhunderte oder gar Jahrtausende, bis eine anscheinend selbstverständliche allgemeine Überzeugung als irreführende Denkgewohnheit erkannt und durch eine neue Denkweise ersetzt wird – die dann ihrerseits zur Gewohnheit wird. Es gibt eine beeindruckende Vielzahl von Denkhindernissen, die höchst mühsam entdeckt und überwunden werden mussten, um die moderne Naturwissenschaft möglich zu machen.
Entscheidungen
In unserem Leben müssen wir auf der Basis unserer Wahrnehmungen und deren Interpretation dauernd Entscheidungen fällen. Wir halten sie meist für rational durchdacht und logisch begründet. Aber in den allermeisten realen Lebenssituationen wissen wir tatsächlich einfach viel zu wenig, um uns wirklich und zuverlässig und logisch konsistent entscheiden zu können. Außerdem geht alles, was zwei oder drei Hauptfaktoren übersteigt, über den Horizont unserer bewussten Verarbeitungskapazität. Daher beruht vieles, was wir tun, nicht auf bewussten Überlegungen, Planungen und Entscheidungen.
Die vermeintlichen Vernunftgründe, die wir für unser Tun und Entscheiden anführen, sind oft nachträgliche Rationalisierungen. Da wir zu den tatsächlichen Motiven und Impulsen schlicht keinen Zugang haben, reimen wir uns im Nachhinein oft irgendwelche Begründungen zusammen. Das geht sogar so weit, dass wir besten Gewissens selbst solche Entscheidungen begründen, die unseren ursprünglichen Intentionen völlig zuwiderlaufen. Es ist die Frage, in welchem Ausmaß unsere täglichen Handlungen nachträglich im Bewusstsein mit irreführenden Rationalisierungen erklärt werden.
An der Entscheidungsfindung sind generell grob drei Instanzen beteiligt: Bewusstes Denken, emotionale Reaktionen und die im Volksmund Intuition genannten Einflüsterungen unbewusster Verarbeitungsprozesse. Der Schweizer Psychiater Luc Ciompi spricht von funktionell integrierten affektiv-kognitiven Bezugssystemen – Fühl-, Denk- und Handlungsprogrammen, die in ihrer Kombination ein hochdifferenziertes Gesamtsystem zur Bewältigung der begegnenden Wirklichkeit bilden.
Die wichtigste Instanz bei unseren Entscheidungen sind meist nicht klare logische Argumente, sondern Gefühle. Die Mandelkerne, in denen die emotionalen Erinnerungen – vom Mutterleib bis heute – gespeichert sind, durchtränkt alles, vor allem auch den obersten rationalen Teil des Gehirns, also alles das, was wir denken, planen, usw. Der emotionale Erfahrungsspeicher kann eine rasche Entscheidung bewirken – am bewussten Denken vorbei. Oder er hilft, eine Entscheidung zu vereinfachen, indem er von vornherein gewisse Optionen ausschließt und andere hervorhebt. So werden unsere schnellen und automatischen Urteile und Entscheidungen in dem Bewusstsein nicht zugänglichen Hirnarealen maßgeblich vorbereitet.
Unterschwelligen Erfahrungen, latentes Vorwissen, Emotionen und unwillkürliche Aufmerksamkeitsmechanismen üben einen überragenden Einfluss auf unsere Entscheidungen aus. Unser bewusstes Ich ist daran nur teilweise beteiligt. Aber so genannte Bauchentscheidungen, vor allem, wenn sie unter Zeitdruck (wenn man nicht lange nachdenken kann) oder im Affekt (etwa weil man verärgert ist) gefällt werden, führen nicht immer zu besseren Ergebnissen. Gerade die Entscheidungen, über die wir uns im Alltag ärgern, haben wir übereilt bzw. überstürzt getroffen.
Doch wäre unser Verhalten nicht von unserem emotionalen Gedächtnis gesteuert, würden wir Dinge tun, die nicht übereinstimmen würden mit unserer ganzen Erfahrung. Und je mehr Erfahrung wir auf einem Gebiet oder in einer Sache haben, desto mehr können wir uns auf unser Bauchgefühl verlassen. Entscheidungen aus dem Bauch heraus lassen logische Zusammenhänge zwar scheinbar außer Acht, beziehen aber Fakten ein, die der Verstand nicht wahrgenommen oder nicht mehr parat hat.
Im Allgemeinen ist die intuitive, anschauliche Strategie die treffsicherste und somit bestmögliche für unsere alltäglichen Entscheidungen. Vor allem im persönlichen Bereich braucht man Instinkt und eine gewisse Gefühlsklugheit, die man mit der Lebenserfahrung erwirbt. Gefühle beeinflussen auch rationales Denken nicht nur viel stärker als wir annehmen, sondern sind sogar für Rationalität unerlässlich. Die Kunst besteht darin, rationale Gründe mit dem emotionalen Erfahrungswissen in Einklang zu bringen. Daher gibt es eigentlich gar keine rationalen Entscheidungen, nur rationale Abwägungen. Im Normalfall ist das Ineinandergreifen von Kognitionen und Emotionen, von Handlungsplanung und Gefühl, sowohl bewusst als auch unbewusst, der absolute Garant dafür, dass wir in der Regel genau das tun, was, aus welchen Gründen auch immer, sich für uns bewährt hat.
Im Alltag bezeichnen wir alle möglichen Formen spontaner Eingebungen, sei dies eine Wahlentscheidung, die Lösung einer Denkaufgabe oder irgendeine dunkle Ahnung als Intuition (von lat. intueri = angeschaut werden). Diese beruht, wie gesagt, auf Erfahrungswissen, also all dem, was einmal bewusst war, aber aktuell abgesunken ist. Der Schweizer Tiefenpsychologe C. G. Jung (1875 – 1961) definierte Intuition etwas enger, nämlich als unmittelbares, ganzheitliches Erfassen von Zusammenhängen – eine Voraussetzung für wissenschaftliche Kreativität.
Je vielschichtiger ein Problem ist, desto härter muss unser Gehirn grundsätzlich schuften, denn bewusste Prozesse wie Schlussfolgern und Planen sind aufwändiger als ein impulsiver Prozess und bedürfen Ressourcen, die oft knapp sind: Zeit und Gedächtniskapazität. Schwierige Entscheidungen überfordern also ganz einfach unser bewusstes Denkvermögen. Aber unser „Vor-Bewusstes“ ist ein gigantisches assoziatives Netzwerk, das „selbstorganisiert“ und hochgradig parallel arbeitet. Es zieht viele Informationen in Betracht und kann mit komplexen Situationen viel besser umgehen als unser rationale-bewusstes Arbeitsgedächtnis.
Moderne Kognitionsforscher sprechen in diesem Zusammenhang von impliziter oder unbewusster Informationsverarbeitung, die sich – scheinbar – als spontanes Gefühl äußert. Die intuitive Lösung kommt unvorhergesehen wie ein Blitzschlag, urplötzlich und allumfassend. Allerdings erfährt man die kreativ-intuitive Lösung nicht in allen Details, wobei die Nichtbegründbarkeit intuitiver Prozesse ihre Vernünftigkeit aber keineswegs ausschließt. Die Genialität von Denkern wie Newton oder Einstein basierte auf Intuition, war emotionsgeladen, folgte also oft vagen Ahnungen und spontanen Eingebungen, aber keinem logischen Ablauf.
Fazit
Wie wir Welt um uns herum wahrnehmen, was wir aus der Flut der Eindrücke herausfiltern, worauf sich unsere Aufmerksamkeit richtet, welche Gefühle, Erinnerungen und Ideen uns kommen und welche Ziele wir verfolgen – das alles resultiert aus automatischen Vorgängen im Gehirn. Dieser Autopilot im Kopf macht uns zu denjenigen, die wir sind – nicht das Bewusstsein. Aber wir sollten ein gesundes Misstrauen bewahren angesichts der Tatsache, dass unser Gehirn sich bei jeder Gelegenheit die Welt zurechtbiegt, die eigenen Züge schön färbt, an den Erinnerungen herumpfuscht, moralisch mit zweierlei Maß misst und hartnäckige Vorurteile kultiviert. Wir glauben manchmal Dinge, die nicht wahr sind, und das aus absurden Gründen, und treffen Entscheidungen, die wir im Nachhinein selbst nicht verstehen.
Nicht nur Misstrauen gegen die Wahrnehmung, auch Misstrauen gegen das Denken sind angebracht angesichts unserer Tendenz, uns viel zu schnell und bequem mit halbwegs überzeugenden Theorien und Argumentationsmustern zufrieden zu geben. So bleibt ein unheimliches Gefühl, dass wir ohne Nachdenken nicht verantwortungsvoll leben können – und dass trotzdem unser Denken immer vorläufig, höchst irrtumsanfällig bleibt und nie zum Ende kommt. Der Sozialpsychologe Timothy West (University of Virginia) hält dies für den Preis, den wir dafür zu zahlen haben, dass uns die Evolution mit einem so hocheffizienten Unbewussten ausgestattet hat, ohne das wir längst ausgestorben wären.
In der Kunst werden Wahrnehmungs- oder auch Denkzwänge gelockert und Formen und Inhalte in neuem Licht gezeigt. Dies kann zu einer erweiterten Wahrnehmung – auch im Sinne von Erkenntnis – beitragen. Allein schon das Wissen, dass unsere schnellen Überzeugungen und langsamen Vorurteile, dass Konformitätsdruck, Fixierungen, die sogenannten Ankereffekte* und andere Phänomene Urteilsqualität und Phantasie beeinträchtigen, kann uns helfen, solche Denkhindernisse im Bedarfsfall zu erkennen und zu überwinden. Mit diesem Wissen lassen sich auch merkwürdig anmutende Verhaltensweisen oder vermeintlich unlogische Denkmuster der Mitmenschen besser nachvollziehen, was zu einem besseren Verständnis beitragen könnte.
*Je hilfloser und bedrohter wir uns in einer objektiv unverstandenen Situation fühlen, desto eher versuchen wir, mit gewohnten Denkmustern weiterzukommen. Die Psychologen sprechen von Anker-Effekt.
Ein Patentrezept für bestmögliche Entscheidungen gibt es leider nicht. In den meisten Situationen garantiert uns in der Tat keine Denkform Wahrheit, Angemessenheit oder sogar Weisheit des Handelns. Die aktuellen Forschungsergebnisse legen nahe: Beim Sammeln und Abwägen entscheidungsrelevanter Informationen einen kühlen Kopf bewahren, aber dann auch den Bauch ein Wörtchen mitreden lassen. Nur bei einfachen Sachverhalten, so der Tipp der Psychologen, sollte man bewusst entscheiden. Sobald es kompliziert wird, ist es klüger, den bewussten Verstand abzuschalten. Es zahlt sich oft nicht aus, allzu sehr über ein schwieriges Problem nachzudenken und es Stück für Stück zu analysieren. Ein empirisch nachgewiesener Ansatz besagt: Wäge zunächst ausgiebig rational ab und lass die Sache dann einige Zeit ruhen. Also: Nichts überstürzen – und gegebenenfalls erst einmal darüber schlafen! In der Ruhephase vermag unser Gehirn Informationen hochintelligent zu verarbeiten. Gerade bei Gruppenentscheidungen wirkt sich ein längerer Abwägungszeitraum positiv auf das Ergebnis aus.
REM