Der römische Philosoph Cicero schrieb: „Das Gedächtnis ist der Schatzmeister und Hüter aller Dinge.“ Es ist tatsächlich alles, was unser Leben ausmacht; es dient uns durch den außergewöhnlichen Einfluss von Erfahrung und Lernen zur Gegenwartsbewältigung, verleiht uns eine individuelle Persönlichkeit und macht uns zu kulturellen Wesen.
Es spricht manches dafür, dass sich Gedächtnissysteme in der Evolution in gewissem Maße nacheinander entwickelt haben. Denkbar und auch aus der Tierbeobachtung ableitbar ist, dass als erstes das Vermögen aufkam, früher Wahrgenommenes wieder zu erkennen. Geruchs- und evt. auch Geschmackseindrücke mögen dabei zu den ersten Eindrücken gehört haben, die sich abzuspeichern lohnten. Die so entstandene Annäherungs-Vermeidungs-Funktion war überlebenswichtig und wurde im Laufe der Evolution auf die Gefühle verlagert, wobei sich die Verknüpfung von Gefühlen zum Gedächtnis in all seinen Varianten entwickelte. Während zunächst also der Duft selbst Botschaften enthielt, löst er bei höheren Tieren und beim Menschen Emotionen aus, die verhaltenssteuernd wirken können. Heute noch ist das limbische System, ein alter Gehirnkomplex (zu dem auch Amygdala und Hippocampus gehören), noch immer auch u. a. für die Bewertung von Gerüchen verantwortlich.
Gedächtnisbildung
Gedächtnisbildung ist ein komplexer Prozess im Gehirn, an dem außer dem limbischen System auch verschiedene Regionen der Großhirnrinde (Kortex) beteiligt sind. Auf der zeitlichen Ebene kann man folgende Schritte unterscheiden:
- Informationsaufnahme 2. Einspeicherung 3. Konsolidierung 4. Ablagerung 5. Abruf
Informationsaufnahme
Informationen aus der Umwelt werden von den Sinnesorganen aufgenommen und dort schon mehr oder weniger unbewusst vorverarbeitet. Anschließend gelangen sie (über Thalamus und Hippocampus) zur weiteren Verarbeitung in die sensorischen Zentren der Gehirnrinde. Hier wirken sämtliche Sinnesreize für ungefähr eine Viertelsekunde nach, wodurch es ermöglicht wird, dass die je nach Sinnesorgan unterschiedlich schnell ankommenden Signale zeitlich angeglichen werden können. Dieses sensorische Gedächtnis kann enorm viele Reize speichern, allerdings gehen sie auch schnell wieder verloren. Sie werden durch nachfolgende Reize meist überschrieben, damit sie sich nicht gegenseitig stören.
Der Input in allen sensorischen Kortexen fließt wieder zum Hippocampus zurück. Auf diesem Weg wird die Information mit bereits gespeicherten Informationen verknüpft und eine Bedeutungsanalyse vorgenommen. Dazu prüft das Emotionszentrum des Gehirns, die Amygdala, die einlaufenden, noch unbewussten Eindrücke, ob sie emotionsauslösende Reize enthalten, und gibt den Erinnerungen eine emotionale Färbung. In den Basalganglien, die unterhalb der Großhirnrinde liegen, wird überprüft, ob die eingegangene Information vor dem Hintergrund vorheriger Erfahrung hinreichend neu oder hinreichend wichtig bzw. auffällig ist. Das Ergebnis melden die Basalganglien an den Hippocampus zurück. Sind die Sinnesdaten alt und unwichtig, werden sie nicht weiterverarbeitet und gelangen dann auch nicht in unser Bewusstsein. Sind sie wichtig, aber hinlänglich bekannt, werden Verarbeitungsautomatismen aufgerufen, die wir nicht oder höchstens intuitiv erleben. Nur das, was aktuell neu und wichtig ist, nützlich oder interessant, rückt in unsere bewusste Aufmerksamkeit und gelangt ins Arbeitsgedächtnis.
Arbeitsgedächtnis
Das Arbeitsgedächtnis stellt den eigentlichen Eingang in das Gedächtnis dar und ist zuständig für die kurzfristige Verarbeitung von Sinnesinformationen. Es fokussiert die Aufmerksamkeit und ist so gut wie an allen kognitiven Prozessen beteiligt. Für Sekunden, aber auch für mehrere Stunden kann das Arbeitsgedächtnis Erinnerungen speichern. So arbeitet es im Hintergrund, während wir lesen, kopfrechnen oder ein Gespräch führen. Es sorgt für eine möglichst sinnvolle Verbindung aktuell abgerufener Gedächtnisinhalte und ermöglicht einen Vergleich mit Vorerfahrungen, wenn wir einen Gedanken verfolgen. Dabei blendet es unwichtige Details aus und schirmt die Inhalte gegen unerwünschte störende Einflüsse ab.
Insgesamt wird nur ein Bruchteil der ursprünglichen Informationsmenge in diesem Kurzzeitspeicher festgehalten. In der begrenzten Verarbeitungs- und Speicherkapazität liegt ein wesentliches Merkmal des Arbeitsgedächtnisses. Sie ist u. a. der Grund, warum es so schwierig ist, länger als wenige Minuten komplizierte Inhalte zu verfolgen. Kaum ein Mensch kann einem Vortrag über einen neuen und komplizierten Lerninhalt für mehr als ein paar Minuten konzentriert zuhören. Dann muss das Arbeitsgedächtnis Gelegenheit erhalten, „Atem zu holen“, währenddessen das Gehörte (oder Gelesene) vorläufig zusammengebunden und ins Zwischengedächtnis transportiert wird. Anderenfalls „schiebt“ neue Information die alte aus dem Arbeitsgedächtnis hinaus.
Es handelt sich beim Arbeitsgedächtnis um eine äußerst labile Form der Fixierung bzw. Speicherung von Gedächtnisinhalten. Sobald dieses die Inhalte (Informationen) nicht mehr aktiv bearbeitet oder wiederholt, verblassen die Inhalte. Der eigentliche „Zweck“ des Arbeitsgedächtnisses liegt also nicht in der Speicherung der Informationen, sondern in deren Verarbeitung. Daher der Name. Das Arbeitsgedächtnis ist unerlässlich für viele geistige Tätigkeiten und kognitive Fähigkeiten wie z. B. Kopfrechnen, logisches Schlussfolgern, Verstehen von Sprache oder Planen von Handlungen. Mit ihm bewältigen wir unser Hier und Jetzt. Dafür ist es notwendig, kurzfristig vielerlei Informationen aufzunehmen, die wir schon bald wieder vergessen können. Schließlich brauchen wir nicht die Sachen für jeden Einkauf oder die Zimmernummer des Aufenthalts in einem Hotel lange im Gedächtnis zu behalten.
Wenn das Arbeitsgedächtnis aussetzt, stehen wir in einem Raum, ohne zu wissen, was wir dort tun wollten. Oder wir lesen einen Satz immer und immer wieder, weil wir uns beim besten Willen nicht auf den Inhalte konzentrieren können.
Die Einspeicherung im Hippocampus ist die biologische Grundlage des Arbeitsgedächtnisses. Über das „Tor zum Gedächtnis“ (Hippocampus) werden Neurone im Kortex verknüpft (gleichzeitig aktiv). Das „flüchtige Gedächtnis“ entsteht dann in Form rasch abklingender Erregungsschleifen immer wieder neu aus der koordinierten Aktivität verschiedener Hirnregionen, die zuvor an der Wahrnehmung und Repräsentation einer Information beteiligt waren. Dabei kommt den Synapsen, welche die Milliarden Nervenzellen in unserem Gehirn verbinden, eine zentrale Rolle zu: Es kommt zu einer vorübergehenden funktionellen Verstärkung der Nervenverbindungen, was eine leichte und schnellere Signalübertragung ermöglicht. „Stabile“ Kontakte werden nicht ausgebildet.
Konsolidierung (Übergang ins Langzeitgedächtnis)
Sind die Informationen langfristig wichtig genug, beginnt nach etwa 30 Sekunden bis 30 Minuten allmählich die Einspeicherung ins Langzeitgedächtnis, dessen Behaltensspanne zwischen 30 Minuten bis Jahrzehnte liegt (s. u.). Den Übergang von kurzfristigen zu dauerhaften Gedächtnisspuren, also vom Arbeitsgedächtnis ins Langzeitgedächtnis, nennen Neurowissenschaftler Konsolidierung. Diese wird gefördert durch den Grad der Aufmerksamkeit (Konzentration), emotionale Bedeutung und Neuheit.
Lernen beruht aus neurobiologischer Sicht auf der langsamen Umstrukturierung neuronaler Netzwerke, die sich über verschiedene Bereiche des Gehirns erstrecken. Je häufiger Neurone gemeinsam aktiv sind, desto fester und stabiler werden die synaptischen Verbindungen innerhalb dieses Netzwerks. Neue synaptische Strukturen ermöglichen es dem Gehirn, Informationen differenzierter zu verarbeiten. Gleichzeitig werden andere Zellen eliminiert, mutmaßlich die, welche widersprüchliche Assoziationen liefern würden. Entscheidend an der Gedächtniskonsolidierung ist die Neubildung von Nervenzellen (Neurogenese) im Hippocampus, beim Menschen sind es täglich etwa 1400. Durch körperliche Aktivität oder Leben in reizreicher Umgebung lässt sich die Neurogenese erhöhen. Vermutlich dienen die neuen Neurone dazu, flexibel neue Informationen in bestehende Kontexte zu integrieren und ähnliche Information voneinander zu unterscheiden (Feinabstimmung).
[Thetawellen, die sich drei- bis siebenmal in der Minute wiederholen, helfen beim Abspeichern von Erinnerungen, aber auch beim orchestrierten Abruf (s. u.). (Feuern einzelne Neurone unabhängig von diesem Rhythmus, wird das Gelernte schnell wieder vergessen.) Thetawellen treten im Gehirn vor allem auf, wenn wir unser assoziatives Gedächtnis bemühen. Durch die Oszillationen werden vermutlich weit entfernte Hirnzentren miteinander synchronisiert. ]
Je nach Umständen gehen uns aus der Menge der Informationen, die wir alltäglich erhalten, 60 bis 80% verloren. Nur Bruchteile der ursprünglichen Information kommen also im Langzeitgedächtnis an. Die Konsolidierung kann gestört und blockiert werden, etwa durch Drogen, Medikamente oder Stress. Dann verfliegt die Erinnerung und massive Erinnerungslücken können die Folge sein.
Zur Aufnahme und Verarbeitung der Information braucht unser Gehirn eine gewisse Zeit. Offenbar findet der eigentliche Lernprozess gerade dann statt, wenn Pausen eingelegt werden. Dann arbeiten wiederholt die Bereiche, die schon vorher (z. B. während des Übens) aktiv waren, allerdings diesmal dreimal so häufig und in 20-facher Geschwindigkeit. Für die Konsolidierung ist in der Regel der Schlaf besonders wichtig. Im Schlaf gelangen keine neuen Informationen in den Hippocampus – und Wichtiges kann ungestört in die Großhirnrinde geleitet werden, wo es abgespeichert wird. Tendenziell schwächer ausgebildete Synapsenverstärkungen vom Vortag werden oft während des Schlafes zurückgebaut. Mache Erinnerungen gehen also buchstäblich über Nacht verloren. Der wesentliche Kern der Erinnerung jedoch bleibt (auch im Hippocampus) gespeichert. So können wir auch künftig eine neue Situation blitzschnell einordnen und darauf reagieren.
Langzeitgedächtnis
Erst im Laufe von Stunden oder Tagen werden Informationen – äußerst selektiv nach der emotionalen und kognitiven Bewertung und je nach individueller Situation – in das Langzeitgedächtnis übertragen. Im Vergleich zu den ungeheuren Datenmengen, die vom Gehirn aufgenommen und bewertet werden, wird nur relativ weniges davon dauerhaft gespeichert. Nur bei einem einschneidenden, also hochemotionalen Erlebnis gelangen meist auch belanglose Begleitumstände in den Dauerspeicher. Allerdings ist die Speicherkapazität des Langzeitgedächtnisses im Vergleich zum Arbeitsgedächtnis sehr groß: Man spricht von 10 Milliarden bis 100 Billionen Bit. (Schätzungsweise durchschnittlich einen Million Dinge kann ein Mensch speichern.)
Der Hippocampus legt fest, wo in der Großhirnrinde was in welchem Kontext abgespeichert wird. Da er einen geringen Speicherplatz hat, ist er langfristig nur für biografische Erinnerungen wichtig. Ansonsten verbleiben im Hippocampus lediglich Stichworte, etwa der zeitliche Kontext. Über diese Stichworte lassen sich komplexere Informationen aus dem Kortex, der im Wesentlichen für das Langzeitgedächtnis verantwortlich ist, abrufen. Fehlt der Hippocampus oder ist er beschädigt, bleibt das Langzeitgedächtnis zwar bestehen, aber es können keine neuen Erinnerungen mehr enkodiert werden. Gerade Erlebtes bleibt dann nicht länger als fünf Minuten im Gedächtnis. Im Neokortex, der äußeren Struktur der Großhirnrinde, sind die synaptischen Verbindungen in den neuronalen Schaltkreisen (Netzwerken) im Unterschied zum Arbeitsgedächtnis langfristig gefestigt. Sie befinden sich vor allem in den Regionen, die auch am ursprünglichen Erleben beteiligt waren: in den motorischen, sensorischen und emotionalen Zentren.
Unterteilung des Langzeitgedächtnisses
Es scheint verschiedene Arten von Gedächtnisprozessen zu geben, die bezüglich ihrer Lokalisation im Gehirn, aber auch funktional unterscheidbar sind. Sie arbeiten grundsätzlich aber zusammen und ergänzen sich (im Alltag z. B. beim Autofahren oder Spielen eines Musikinstruments). Die Befunde sprechen vor allem für die funktionale Unterteilung des Langzeitgedächtnisses in ein deklaratives (oder explizites) und ein prozedurales (implizites) Gedächtnis bzw. Wissen.
Das prozedurale oder Fertigkeitengedächtnis speichert Verhaltensweisen, Gewohnheiten, automatisierte Bewegungsfolgen und unausgesprochene Regeln – also Inhalte im Sinne von „gewusst, wie“ -, die unbewusst ablaufen. Kennzeichnend sind ein langsamer Erwerb (z. B. durch Einüben) sowie eine feste und langfristige Speicherung. Die Fertigkeiten sind hochgradig automatisiert (z. B. komplexe Handlungen wie Stabhochsprung oder Gitarrenspiel).
Die Informationen werden neuronal in den motorischen und sensorischen Arealen der Großhirnrinde abgelegt. Aber auch die Basalganglien und Areale des Kleinhirns sind involviert. Beim Brachliegen einer Fertigkeit (z. B. Fahrradfahren) werden die beim Lernen gewachsenen Zellkontakte im Gehirn nicht abgebaut, sondern nur stillgelegt. So bleibt eine Fertigkeit, einmal erlernt, ein Leben lang in unserem Denkorgan gespeichert.
Im deklarativen Gedächtnis wird das Wissen, das man von der Welt hat, gespeichert. Es handelt sich also um Inhalte im Sinne von „gewusst, was„. Im engeren Sinne unterscheidet man das episodische (oder autobiografische) Gedächtnis (Ereignisse oder Erlebnisse) und das semantische Gedächtnis oder Wissenssystem (Allgemeinwissen und Fakten). Beide sind wohl eng miteinander verflochten, wobei das zweite dem ersten vielfach übergeordnet sein dürfte.
Deklarative Lernprozesse laufen extrem schnell ab. Dem Hippocampus reicht häufig schon eine einmalige Konfrontation mit einem Ereignis, um eine dauerhafte Gedächtnisspur zu bilden. Das erscheint sinnvoll, denn Erlebnisse sind einmalig und erfordern daher eine sofortige Abspeicherung. Genauso schnell jedoch werden die Inhalte häufig auch wieder vergessen.
Semantisches Gedächtnis (Wissensgedächtnis)
Im Wissensgedächtnis werden kontext- und erlebnisunabhängige Wissensinhalte im engeren Sinne (Fakten) abgespeichert. Es kommt eher ohne Emotionen aus. Seine Inhalte können leicht abgerufen werden. Die Verfestigung von Fakten dauert in der Regel Tage bis Wochen. Hat sich das System noch nicht konsolidiert, kann es leicht überlagert werden.
Faktisches Wissen wird vor allem in die Assoziationsgebiete des Kortex (linke Hirnhälfte) übertragen und dort abgespeichert.
Episodisches (autobiografisches) Gedächtnis
Das episodische Gedächtnis ist der Dreh- und Angelpunkt unseres Menschseins. Es enthält Episoden mit Ketten von Ereignissen, die Menschen in ihrem Leben erfahren haben. Das autobiografische Gedächtnis wird nach überwiegender Auffassung heute als eigenständige Form angesehen. Es enthält nur Erinnerungen an selbst Erlebtes und auch semantisches Wissen über uns selbst. Das autobiografische Gedächtnis bildet sich im Laufe der Kindheit aus und ist die Basis dafür, eine eigene Identität zu entwickeln. Der Prozess ist erst zum Ende der Adoleszenz vollständig abgeschlossen. Beim alten Menschen – mitunter auch vorher – kann dieses persönliche Gedächtnis auch wieder aussetzen. Weil das autobiografische Gedächtnis so komplex ist, lässt es sich auch am einfachsten aufs Glatteis führen (s. u.).
Gemeinsam mit Teilen des Stirnlappens ist das limbische System, vor allem der Hippocampus, für das Abspeichern autobiografischer Ereignisse verantwortlich. Diese werden vor allem in den Assoziationsgebieten der Großhirnrinde (rechte Hemisphäre) abgelegt. (Forscher vermuten, dass alles, was später im autobiografischen Gedächtnis landet, vorher auch vom Faktengedächtnis überprüft wird.)
Am heranwachsenden Menschen zeigt es sich, wie die Gedächtnisfunktionen vermutlich aufeinander aufbauen. Ein Säugling lernt zunächst, Sinneseindrücke zu unterscheiden und selektiv damit umzugehen. Erst später erwirbt er die Kontrolle über die Bewegungen (Fertigkeitsgedächtnis), z. B. Greifen, Gehen, Sprechen. Die Forscher nehmen an, dass Kinder nicht früher als mit drei bis vier Jahren ein echtes episodisches Gedächtnis aufzubauen beginnen, wenn sie einen größeren und sichereren Wortschatz erworben haben. Das Wissenssystem scheint daraus erst später hervorzugehen. (siehe auch unten!)
Abruf der Gedächtnisinhalte (Erinnerungen)
Zum einen können wir aktiv (mit einem hohen Maß an Assoziationskraft) versuchen, uns zur rechten Zeit an etwas zu erinnern. Dazu breitet sich im Gehirn eine Aktivitätswelle aus. Wird dabei das gesuchte Element (in Form eines ein bestimmten Aktivitätsmusters im Gehirn) erfasst, so wird es erinnert. Dabei spult das Gehirn, ausgehend vom Hippocampus, das ursprüngliche Aktivitätsmuster erneut ab. Es kann auch passieren, dass uns eine Absicht, ein Ereignis oder ein Begriff ganz plötzlich wieder „in den Kopf schießt“, obwohl wir zuvor gar nicht darüber nachgedacht haben. Bei der Wiederaktivierung von Gedächtnisinhalten spielen wie bei der Einspeicherung auch unbewusste Anteile, z. B. Stimmungen, mit.
Die Chance, etwas im richtigen Moment abzurufen, hängt davon ab, wie gut wir die Erinnerungen sozusagen „etikettiert“ haben. Je mehr Bezüge ein Begriff zu anderen Begriffen besitzt, desto dauerhafter ist er gespeichert und umso wahrscheinlicher ist ein schneller Abruf. Eine episodische Erinnerung besteht grundsätzlich aus einem Inhalt sowie einem Kontext, sprich: dem Ort und der Zeit des Erlebens, sowie dem damaligen emotionalen Zustand. Sie ist in verschiedene Elemente (Seh-, Hör-, Tast-, Geruchsinformationen usw.) zerlegt, die an ganz verschiedenen Stellen gespeichert sind, aber alle zusammen machen die Spur einer Erinnerung aus. Je mehr dieser Repräsentationen vorhanden sind, umso stärker ist das Netzwerk organisiert und desto besser wird ein Inhalt erinnert. So entstehen komplexe Sequenzen von Erinnerungen, die uns helfen, Zusammenhänge zu erfassen und kommende Ereignisse vorauszusehen.
Beim Abrufen und Auftauchen der Erinnerungen wird das weit verteilte, vielgliedrige Netzwerk von Neuronen, das bei der Herstellung von Erinnerungsspuren in Anspruch genommen wurde, wieder aktiviert. Daran wirkt auch wieder der Hippocampus mit. (Er wird allerdings nicht beim Abruf von Wissen, das automatisiert ist, benötigt; hierbei synchronisieren sich die neuronalen Instrumente von selbst.) Aufgrund der vielen festen Verbindungen in den Netzwerken kommt es schon zur Aktivierung des gesamten Musters, wenn nur wenige oder ein Teil der dazugehörigen Neuronen aktiviert werden. Häufig reicht dann schon ein kleiner Hinweisreiz aus, um Erlebtes erneut abzurufen.
[Die oszillatorischen Theta-Muster, die während der Konsolidierung auftreten, wiederholen sich beim Abruf einer Information – und zwar umso deutlicher, je besser man sich erinnert. Können korrekte Assoziationen nicht mehr hergestellt werden, ist auch das ursprüngliche Theta-Muster nur schwach ausgeprägt.]
Gedächtnisprobleme
Erst wenn Kinder lernen, über Erlebtes zu sprechen, beginnen sie, dieses biografisch einzuordnen und gleichzeitig die Erinnerung daran zu festigen. Mit zunehmendem Alter verweilen die Erinnerungen immer länger im Langzeitspeicher. Allerdings reicht ein solches Gedächtnis noch nicht unbedingt für eine autobiografische Erinnerung. Daher können sich Erwachsene meist nicht mehr an Erlebnisse aus ihren ersten Lebensjahren, in denen wir unglaublich viel lernen, bewusst erinnern.
Der für das Gedächtnis besonders wichtige Hippocampus ist zunächst noch nicht genügend ausgereift. Ein Teil von ihm ist erst im Alter von vier bis fünf Jahren voll entwickelt. Außerdem ist die Ummantelung der Nervenfasern (Axone) mit einer fetthaltigen Isolierschicht (Myelinisierung), die für eine schnelle und sichere Weiterleitung der Nervenimpulse wichtig ist, noch nicht abgeschlossen.
Aber auch im Gedächtnis der Erwachsenen ist Wissen nicht sicher abgelegt wie in einem Computerspeicher, um es jederzeit wieder eins zu eins, also unverändert, abrufen zu können. Erinnern ist grundsätzlich eine Rekonstruktion früherer Erfahrungen – eine Neuzusammenstellung aus den vielen parallel aktiven Einzelnetzwerken, in denen Teilaspekte einer Erfahrung abgespeichert sind. Durch Schüsselreize werden sie beim Erinnern abgerufen und neu zusammengefügt, aber nicht immer korrekt. Manchmal vermischen sich neue Eindrücke mit alten, oder sie verfärben sich durch veränderte Gefühle, Stimmungen oder Meinungen. So kann sich der aktuelle Informationsabruf im Detail von der letzten Erinnerung unterscheiden.
Das Gedächtnis dient dem Leben, und dieses bedarf fließender Anpassungen des erworbenen Wissens an die Anforderungen des gegenwärtigen Augenblicks und der Zukunftsplanung. Daher nimmt es, was ihm nützt, und sortiert aus, was ihm überflüssig oder unangenehm erscheint. Wann immer wir eine Erinnerung aktivieren, ist sie also formbar – durch äußere Einflüsse, aber auch durch eigene Überlegungen. Schon das bloße Nachdenken über Vergangenes kann unsere Erinnerung beeinflussen. Auch wenn diese in eine sprachliche Form gegossen wird, büßt sie mit jedem Abrufen an sinnlicher Kraft ein. Es reicht schon eine einzige Unterhaltung unter Freunden, um die Erinnerung eines jeden Einzelnen zu verändern. Wenn ein Zeuge den Hergang eines Unfalls zum dritten Mal schildert und dabei einen Fehler macht, ist es sehr wahrscheinlich, dass er diesen Fehler als wahres Detail in die vierte und fünfte Schilderung einbaut.
Britische Forscher haben nachgewiesen, dass die Beschreibung eines Vorfalls umso phantastischer ausfällt, je länger das Ereignis zurückliegt. Dafür sorgt auch unsere ausgeprägte Vorliebe für Assoziationen. Diese verbinden unübersichtliche Fakten zu einem leicht begreifbaren Ganzen. Dabei lassen wir auch Vermutungen einfließen, die von der erlebten Realität abweichen. Besonders bei sekundenschnellen Szenen im Straßenverkehr können Erinnerungen leicht „verschmutzen“. Falsche Erinnerungen können aber auch durch starke Emotionen, Schlafmangel oder z. B. den Konsum von Cannabis entstehen.
Durch Suggestion ist unser Gedächtnis auch gezielt manipulierbar, wobei in der Regel dabei Sprache (Suggestivfragen) als vermittelndes Medium beteiligt ist. Setzt man Zeugen eines Geschehens nachträglich neuen und irreführenden Schilderungen des Ereignisses aus, beispielsweise durch Berichte aus Medien, so werden ihre Erinnerungen daran verzerrt, ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Menschen, vor allem wenn sie als Person nicht allzu gefestigt sind (z. B. auch Kinder und Jugendliche) lassen sich sogar bei Verhören oder in einer psycho-therapeutischen Sitzung durch fingierte Indizien dazu bringen, die Schuld für eine nie begangene Tat zu übernehmen; sie schmücken dann sogar die falschen Erinnerungen mit Details aus, die sie in ihren Schuldgefühlen bestärken.
Unsere Erinnerungen sind also keineswegs in Stein gemeißelt, sondern verändern sich mit jedem Abruf. Die Vergangenheit sei eine Nachbildung, die Zukunft eine Abbildung, meinte schon der griechische Philosoph Aristoteles vor über 2300 Jahren lebte. Es ist der Normalfall, dass wir keine stabilen Daten wiedergeben, obwohl wir das, was wir „aus dem Gedächtnis“ reproduzieren, nur allzu gerne für „wahr“ halten. Meist wird die Vergangenheit verklärt und wir stehen in unserem Bild vergangener Tage in einem zu guten Licht da. „Jeder von uns“, schrieb der Schweizer Schriftsteller Max Frisch, „wird eines Tages die Biographie erfinden, die er für sein Leben hält.“
Der Abruf manch alter Erinnerung kann auch zumindest zwischenzeitlich erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht werden. Bestimmte Umweltsituationen können sich so auf das Gehirn auswirken, dass es zu Gedächtnisblockaden kommt. Unter Stress wird die Produktion des Hormons Cortisol gesteigert. Geschieht dies in moderatem Umfang, verbessert sich dadurch die Gedächtnisleistung. Tritt Stress aber zu stark oder chronisch auf, ist der normale Informationsfluss blockiert und das Abrufen von Gedächtnisinhalten gehemmt. Die Denkleistung fokussiert sich dann ausschließlich auf den Stressauslöser oder schaltet sich sogar komplett ab.
Dies führt oft so weit, dass andauernde oder sehr starke Stresserfahrungen die kognitiven Fähigkeiten langfristig verschlechtern. Erfahrungen, die uns (im positiven wie im negativen Sinn ) emotional aufwühlen, bleiben außergewöhnlich gut im Gedächtnis haften. So brennt sich etwa ein schweres Trauma tief ins Gedächtnis ein. Bei solch schrecklichen Erfahrungen kann der Abruf der Erinnerung aber auch blockiert sein und tritt nur bruchstückhaft in Form von Flashbacks auf.
Vergessen
Das biologische Gehirn ist nicht nur dafür bekannt, dass es sich immer wieder irrt, ihm gehen auch allzu leicht Dinge verloren – offensichtlich nicht nur mangels Aufmerksamkeit. Vergesslichkeit gehört neben Fehlern zur Natur des Menschen. Längerfristiges Speichern und Erinnern leisten wir uns nur bei einem verschwindend kleinen Teil unserer Erlebnisse. Im Allgemeinen aber werden Informationen nach einiger Zeit in den Hintergrund gedrängt, manche von neueren, interessanteren Informationen überlagert, ähnliche und damit potenziell störende Informationen unterdrückt. Das verhindert die Anhäufung großer Mengen langfristig unnützer Gedächtnisinhalte und schafft Platz für neue. Im Alltag nutzt uns das z. B., wenn sich unsere Handynummer ändert. Da wir uns die neue Zahlenfolge immer wieder in Erinnerung rufen und so diese Information stärken, verabschiedet sich allmählich die alte Nummer aus dem Langzeitgedächtnis.
Häufig kommunizierende Kontaktstellen zwischen Nervenzellen schwächen weniger benutzte Synapsen, indem sie von ihnen sog. Wachstumsfaktoren (körpereigene Proteine) abziehen, die wichtige Funktionen regulieren. Innerhalb von Stunden oder Tagen können Synapsen sogar einfach von der Bildfläche verschwinden. Auch neue Nervenzellen können zum Vergessen beitragen: Sie beeinflussen bestehende Schaltkreise, indem sie sich offenbar in diese teilweise integrieren und so alte Erinnerungen mit neuen Informationen überschreiben. Allerdings werden ungenutzte Synapsen im Normalfall nicht ganz abgebaut, sondern nur in eine Art Dornröschenschlaf versetzt. Sie können später wieder reaktiviert werden. (s. u.)
Würde jede belanglose Information ewig in unserem Kopf bleiben, wären wir schnell überfordert. Daher behalten wir nur das im Gedächtnis, was für unsere aktuelle Lebenssituation von Bedeutung ist. Vergessen erlaubt es dem Gehirn, sich auf die jeweils wichtigen Informationen zu fokussieren. Auch abstraktes Denken funktioniert nur, wenn wir Unmengen von Informationen weglassen, ignorieren und vergessen. Das Gedächtnis absolviert dabei eine Gratwanderung: Es darf nämlich auch nicht zu viel vergessen, um eine Stabilität im Leben zu gewährleisten.
Vereinzelte Menschen verfügen über ein verblüffend exaktes autobiografische Gedächtnis und erinnern sich detailliert ab einem bestimmten Zeitpunkt in ihrer Kindheit an jeden einzelnen Tag ihres Lebens. Ihr Gedächtnis trennt dabei Wichtiges nicht von Unwichtigem, für viele Betroffene eine äußerst belastende Bürde. Sie haben das Gefühl, in einem reißenden Strom aus Informationen unterzugehen. Andere besitzen ein herausragendes semantisches Gedächtnis und können sich mühelos riesige Mengen eher bedeutungsloser Fakten merken, beispielsweise Reihen und Spalten von Zahlen. Die Betroffenen haben es oft sehr schwer im Alltag, ihr Wissen kreativ und konstruktiv einzusetzen. Häufig gehen solche herausragenden punktuellen Gedächtnisleistungen mit mehr oder weniger starken Defiziten im Allgemeinen einher.
(Verantwortlich könnte ein Versagen der Kontrolle über die Proteinproduktion an den Synapsen sein, aufgrund dessen bereits geringe Reize diese schnell und nachhaltig verändern.)
Heute schließen sich immer mehr Wissenschaftler der Ansicht an, dass wir das Allerwenigste wirklich vergessen, es verschwindet nur aus dem Bewusstsein. Die meisten einmal erlernten Inhalte und erlebten Episoden sind in Form chemischer Markierungen nach wie vor im alternden Hippocampus vorhanden. Die ständigen Umbauprozesse, die mit dem Lernen neuer Informationen einhergehen, haben lediglich bewirkt, dass wir alte Inhalte nicht mehr wiederfinden. Es handelt sich dabei also nicht um ein Speicher-, sondern um ein Zugriffsproblem: die Erinnerungen bleiben gespeichert, nur die zu ihnen führende Pfade sind nicht mehr vorhanden. Es genügt aber lediglich ein Schlüsselreiz, um eine „vergessene“ Information wieder zu reaktivieren. Auf diese Weise lässt sich auch das leichtere Lernen von Dingen, die schon einmal gelernt wurden, erklären.
Bei älteren Menschen arbeitet das System von Lernen und Gedächtnis offenbar nicht mehr so gut. Bereits ab dem 30. Lebensjahr nimmt die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses ab, das ja u. a. die selektive Aufmerksamkeit im Gehirn steuert. Vor allem verringert sich im Alter die Leistung des sog. prospektiven Gedächtnisses („sich rechtzeitig erinnern, dass man etwas machen wollte“), das viel Aufmerksamkeit benötigt. Bis zu zwei Drittel unserer täglichen Gedächtnisprobleme sind darauf zurückzuführen. Das Arbeitsgedächtnis wird zudem beispielsweise auch durch Schlafmangel, Stress und seelische Belastung eingeschränkt.
Das implizite Gedächtnis, das automatisch arbeitet, hat sogar schon in einem Alter von etwa 12 Jahren seine höchste Leistungsfähigkeit, die dann kontinuierlich abnimmt. Mit 35 Jahren beginnt das Nachlassen des deklarativen Gedächtnisses. Je älter wir werden, umso mehr Wissen mit ähnlichen Elementen speichern wir ab. Dadurch kommt das Gedächtnis immer häufiger in die Lage, zwischen ähnlichen Erinnerungsspuren zu schwanken. So arbeitet das semantische Gedächtnis immer langsamer und unpräziser. Namen sind dabei häufiger betroffen als die Bezeichnungen für Gegenstände. Der Klang eines Wortes (seine Phonologie) und die Informationen darüber (der Inhalt) befinden sich in verschiedenen Gehirnregionen. Mit dem Alter lockert sich die Verbindung zwischen diesen – und die Erinnerung an Namen wird schwächer, wenn sie nicht oft benutzt werden. Die Gedächtnisleistung insgesamt nimmt jedoch zunächst noch nicht wesentlich ab.
Im Alter wird es immer schwieriger, gezielt auf Erinnerungen zurückzugreifen und neue Informationen in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Schließlich müssen Ältere einen deutlich größeren Datenbestand durchforsten als jüngere, um die gesuchten Fakten oder die gesuchte biografische Erinnerung zu finden. Länger zurückliegende Ereignisse scheinen stabiler und reichhaltiger erinnert zu werden als kürzer zurückliegende, denn im jungen Erwachsenenalter haben Erinnerungen meist eine hohe emotionale Bedeutung – die mit ihnen verbundenen Erlebnisse sind neu und stellen oft Weichen für das weitere Leben. Daher sind Erinnerungen daran nicht nur resistenter gegenüber Veränderungen, sondern auch gegen Reflexionen.
Ältere Menschen achten bei neuen Erfahrungen nicht mehr so sehr auf Details, da ihr Gehirn eine große Zahl an ähnlichen, generalisierbaren Erinnerungen beherbergt. So gelangen im Alter vieler Senioren auch nur noch wenige neue Erinnerungen in den Langzeitspeicher der Großhirnrinde. Vorfreude, Neugier und das Erkunden von Neuem können aber das Lern- und Gedächtnissystem positiv beeinflussen – und es so im Alter fit halten. Dazu scheint auch ein gesunder Lebensstil, eine Kombination aus körperlicher und kognitiver Anstrengung, hilfreich.
REM