Hervorgehoben

Unser Mesokosmos

Unser Gehirn hat nur einen indirekten Zugang zur Welt. Von dem, was „da draußen“ (in der Außenwelt) vorgeht, bekommt es nur etwas mit, wenn es entsprechende Signale erhält, die von unseren Sinnesorganen aufgenommen werden können. Diese sind unsere „Fenster zur Außenwelt“, durch die das Gehirn mit Informationen über unsere Umwelt versorgt wird.

Die Leistungen unserer Sinnesorgane sind das Resultat der Evolution. Sie haben sich in unserer Stammesgeschichte in Anpassung an unsere unmittelbare Umwelt zum Zwecke der Orientierung entwickelt. Ihre Strukturen passen heute auf die Strukturen der Wirklichkeit um uns herum aus demselben Grund, aus dem die Flügel eines Vogels zur Luft oder der Fuß eines Kamels auf den Wüstensand passt. In einer Welt, in der es beispielsweise gar keine elektromagnetische Strahlung im sichtbaren Licht gäbe, hätten sich auch dafür keine Augen entwickelt. Wozu hätten sie dienen sollen? Die Evolution steckt aber keine Energie in nicht unbedingt nötige Strukturen.

Auch die Reichweite unserer körperlichen Sinne ist auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt, ihr Empfindungsbereich ist eng begrenzt. Unsere Sinne erfassen vor allem nur jenen Teil der Realität, der für die Orientierung und das Überleben in der Umwelt unserer stammesgeschichtlichen Vorfahren besonders wichtig war. Andere Dinge fallen in unserer Wahrnehmung aus der für uns objektiven Wirklichkeit normalerweise heraus.

Daher ist unsere Wahrnehmung günstigenfalls nichts anderes als ein abstrahiertes Abbild der Umwelt. Die Evolutionäre Erkenntnistheorie bezeichnet jenen Ausschnitt der Welt, den unser Organismus ohne künstliche Hilfsmittel erkennend, also rekonstruierend und identifizierend bewältigt, als kognitive Nische oder Mesokosmos. Diese mesokosmischen Strukturen sind demnach solche, die wir als anschaulich bezeichnen.

Der Mesokosmos des Menschen entspricht einer Welt der mittleren Dimensionen. Er reicht von Millimetern bis zu Kilometern, vom subjektiven Zeitquant (eine sechzehntel Sekunde) bis zu Jahren, von Gramm bis Tonnen, von Stillstand bis etwa Sprintgeschwindigkeit, von gleichförmiger Bewegung bis zu Erd- und Sprintbeschleunigung, vom Gefrierpunkt bis zum Siedepunkt des Wassers, usw. Er schließt Licht ein, Röntgen- oder Radiostrahlung dagegen aus. Elektrische und magnetische Felder gehören nicht zu der kognitiven Nische des Menschen (allerdings mancher Tiere). Im Hinblick auf Komplexität reicht der Mesokosmos von Komplexität null (isolierte Systeme; gleichförmige Zusammensetzung) bis zu bescheidener Komplexität (lineare Zusammenhänge).

Aus dem breiten Spektrum elektromagnetischer Wellen, das von Gammastrahlung auf der kurzwelligen Seite bis zu Infrarotstrahlen auf der langwelligen Seite reicht, kann unser Auge nur einen verschwindend kleinen Ausschnitt verarbeiten: Wellenlängen zwischen 380 und 760 Nanometern (1 nm = ein Milliardstel Millimeter). Von den mechanischen Schwingungen in Gasen (z. B. Luft), Flüssigkeiten (z. B. Wasser) oder festen Körpern (z. B. Knochen) kann unser Ohr nur Frequenzen zwischen 16 und 20 000 Hertz (Schwingungen pro Sekunde) registrieren, die wir dann als Töne oder Geräusche hören.

Die reale Welt umfasst also weit mehr Strukturen, als wir mesokosmisch bewältigen – einfach ausgedrückt, vor allem die besonders kleinen (Mikrowelt), die besonders großen (Makrowelt) und die besonders komplizierten (komplexen) Systeme. Diese sind für uns nicht unmittelbar zugänglich. Sie wahrzunehmen hätte für unsere Vorfahren einfach auch keinerlei Selektionsvorteile gebracht.

Erschließung der Welt

Im Laufe der Evolution aber hat sich die Fähigkeit zur Erschließung der nicht sinnlich erfahrbaren Welt offenbar als nützlich erwiesen. Die Erkenntnisstrukturen des Gehirns befähigten den Menschen, den eigenen Körper, Raum und Zeit zu überwinden.

Schon die Herstellung eines zweckmäßigen Steinwerkzeugs ist ohne eine Ahnung des künftigen Gebrauchs kaum denkbar. Als die Menschen es im Laufe der Evolution verstanden, ihr Wissen systematisch weiterzugeben und auszutauschen, konnten sie ihr technologisches Know-how hochtreiben. So verfügten sie bald über eine Reihe von Technologien, mit deren Hilfe sie nicht nur die für sie nutzbare Umwelt erweiterten, sondern auch ihre körperlichen Grenzen sozusagen verschoben: Fertigkeiten von der Werkzeugherstellung über das Kochen bis zum Bau von Behausungen.

Zu einem wichtigen Hilfsmittel zur Erschließung der Welt wurde die menschliche Sprache. Mit ihrer Hilfe können wir Erwartungen und Vermutungen aussprechen, Fragen und Zweifel äußern. Sie erlaubt uns, Sachverhalte zu entwerfen und Dinge zu beschreiben, die wir uns nicht mehr anschaulich vorstellen können (z. B. vierdimensionale Welten oder nicht-kausale Ereignisfolgen), sogar solche, die überhaupt nicht existieren können (wie z. B. „fliegende Teppiche“). Und mit ihr sind wir in der Lage, abstrakte Zusammenhänge zu erkennen.

Der Mensch strebte nach zuverlässigem Wissen über die Natur und die Welt, unabhängig von Phantasie und Spekulation. Dazu entwickelte er die Wissenschaft. Dabei war sein ursprüngliches Ziel, die göttlichen Prinzipien in der Welt zu entdecken. Er begann, seine Umwelt systematisch zu beobachten. Aus einer oder mehreren Einzelbeobachtungen schloss er auf das Allgemeine: Die Sonne geht auf und die Sonne geht unter, also wird die Sonne auch in Zukunft auf- und untergehen – ein Induktionsschluss. Später tritt zur Induktion, also der Erkenntnisgewinnung durch Beobachtung, das Experiment: Lernen durch Versuch und Irrtum. Die Wissenschaft akzeptierte nur noch das, was durch Experiment oder Beobachtung, also empirisch, überprüft war.

Nach der „Kopernikanischen Wende“ stimmte das, was die Wissenschaft erkannt hatte, zum ersten Mal nicht mehr mit dem Augenschein überein. Als Geburt der modernen Wissenschaft in Europa gilt der Beginn des 17. Jahrhunderts. Zu ihren Gründungsvätern gehörte der Italiener Galileo Galilei. Seither sind die Wissenschaftler bei der Erforschung der Wirklichkeit immer mehr auf Abstand zum sinnlichen Erleben gegangen und konzentrierten sich auf das technisch messbare.

Überwindung des Mesokosmos

Eine unverzichtbare Brücke zwischen den experimentellen Messungen und Beobachtungen auf der einen Seite und dem Auffinden von Naturgesetzen und Grundprinzipien auf der anderen ist eine Theorie. Sie ist dann eine gute Theorie, wenn sie zu einem Modell führt, das sich an nachprüfbaren Fakten orientiert und eine Fülle von Beobachtungen widerspruchsfrei beschreiben kann. Außerdem muss es imstande sein, die Ergebnisse zukünftiger Beobachtungen vorherzusagen. Wenn die Voraussage sich bestätigt, ist das ein Test für den Wirklichkeitsgehalt des Modells.

Die Ebene der Modelle ist der Bereich, der heute die wissenschaftliche und technische Innovation immer schneller – und immer weniger kontrollierbar – vorantreibt. Modelle sind aber immer Vereinfachungen. Sie sollen die größte Vielfalt an komplexen Phänomenen mit der einfachsten Menge an Konzepten erfassen, die für das menschliche Gehirn verständlich sind. Ob sie die Realität treffen, ist eine abstrakte Frage.

Über Gedankenexperimente müssen sich die Wissenschaftler oft erst mal einen Weg bahnen, wie etwas ungefähr vorstellbar ist. Selbst wenn Versuche im Geist oft mehrere Interpretationen zulassen, werfen sie ein neues Licht auf althergebrachte Ansichten und erzeugen fruchtbare Diskussionen. Mit dieser Methode lassen sich gedanklich auch Annahmen überprüfen, die experimentell nicht erforscht werden können, und Theorien hinterfragen.

Die menschliche Sprache taugt für die physikalische Wirklichkeit nur begrenzt. Sie hat sich an den Gegenständen unserer alltäglichen Erfahrung entwickelt und hält, beispielsweise für die Befunde der subatomaren Realität, keine Begriffe mehr bereit. Auf der Wirklichkeitsebene des Atoms lassen sich die Befunde und Entdeckungen endgültig nur noch in der Sprache der Mathematik ausdrücken.

Bedeutung der Mathematik

Die Mathematik erwies sich als ein wirkungsvolles Instrument, um die Umwelt, die Natur, besser verstehen und beschreiben zu können. Sie gehörte von Anfang an zur menschlichen Kultur. Die Basis aller Mathematik ist der angeborene Zahlensinn: Mengen von bis zu vier Gegenständen werden auf einen Blick erfasst. Größere Mengen können wir zunächst nur näherungsweise schätzen. Dieser angeborene Schätzsinn erlaubt keine Genauigkeit, war aber wohl in der Evolution von Nutzen. Wahrscheinlich schaffte die Fähigkeit, Mengen zu erfassen, Vorteile im Überlebenskampf.

Stanislas Dehaene nimmt an, dass unser angeborener Zahlensinn logarithmisch funktioniert – wie auch unser Gehör, das Lautstärken nach logarithmischen Dezibel wahrnimmt. Die Zahlenreihe sei erst durch kulturelle Einflüsse zur Gerade gestreckt worden. Darauf deutet hin, dass z. B. einzelne archaisch lebende Völker, wie die Mundurucu- Indianer vom Amazonas, Zahlen nicht linear, sondern logarithmisch ordnen – wie das auch europäische Kindergartenkinder tun.

Auf dem evolutionär alten Schätzsystem basiert unser exaktes Rechenvermögen, wozu aber erst die Fähigkeit, Symbole zu schaffen, beitrug. Auf den Zahlsymbolen, die noch vor den Schriftzeichen erfunden wurden, baut das Denksystem der Mathematik auf.

Die Wissenschaftler benutzen die Mathematik als Formelsprache in ihren Modell-vorstellungen. Weil unser Anschauungsvermögen nur mesokosmischen Strukturen gerecht wird, ist eine Naturwissenschaft, die sich nicht mit Beschreibungen zufrieden gibt, sondern Erklärungen sucht, auf die Verwendung mathematischer (und damit oft unanschaulicher) Strukturen unabdingbar angewiesen. Eine Theorie muss daher in aller Regel zunächst in mathematischen Gleichungen ausgedrückt werden, erst dann ist sie durch Beobachtungen überprüfbar.

Mathematik kann die verschiedensten Dinge und Ereignisse in der Realität modellieren, d. h. durch Gleichungen beschreiben. Sie liefert aber keine direkte Erkenntnis über die Welt, sondern stellt in vielfältige Weise nur Strukturen zur Verfügung, die wir auf ihre Anwendbarkeit bei der Beschreibung der Natur prüfen können. Ihre Gleichungen formulieren exakt oder sogar quantitativ, was wir uns vage und qualitativ immer schon vorgestellt haben, erfassen aber auch Strukturen, die uns anders überhaupt nicht zugänglich sind, darunter auch sehr komplizierte und komplexe Systeme.

So vermögen wir mit Hilfe der Mathematik zu einer tieferen Ebene des Verständnisses der Welt vorzudringen und zu weiterführenden Schlussfolgerungen über sie zu gelangen. Auf Grund seiner mathematischen und technologischen Fähigkeiten schuf der Mensch technische Hilfsmittel, mit denen es ihm gelang, die Grenzen des Mesokosmos zu überwinden. Zunächst waren das Teleskope und Mikroskope. Er schuf Ultraschallgeräte und Tomographen, er erzeugte Laser und entwarf unter Zuhilfenahme eines Rechners komplizierte logische Konstruktionen. Bald wird der erste Quantencomputer anwendungsbereit sein. Die Vielfalt der Anwendungen, der Inspirationen und der Methoden ist unermesslich.

Die mathematischen Strukturen wie Zahlen, Vektoren, Gleichungen und geometrische Objekte beschreiben die Welt erstaunlich wahrheitsgetreu. Über den Zusammenhang zwischen Mathematik und Natur gibt es zwei diametral entgegengesetzte Meinungen, die bis auf die antiken Philosophen Platon und Aristoteles zurückgehen. Nach Aristoteles ist die physikalische Realität grundlegend und die mathematische Sprache nur eine nützliche Annäherung. Platon zufolge ist die mathematische Struktur das eigentlich Reale, das von Betrachtern nur unvollkommen wahrgenommen wird. Kinder, die noch nie von Mathematik gehärt haben, sind spontane Aristoteliker. Die platonische Sicht wird erst allmählich erworben.

Theoretische Physiker neigen heute mehrheitlich zum Platonismus. Sie vermuten, dass die Mathematik das Universum so gut beschreibt, weil es an sich mathematisch ist. Schon Galilei schrieb: „Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben.“ Algebraische und geometrische Systeme sind nicht nur nützliche Instrumente und Erfindungen, sie existieren auch außerhalb von Raum und Zeit, meinen heute die meisten Wissenschaftler. Mathematische Strukturen werden demnach nicht erfunden, sondern entdeckt. Sie sind im ganzen Universum wahr.

Die Welt um uns herum lässt sich mit den seltsamen Symbolen und Zeichen der Mathematik beschreiben und erklären. „Verstehen“ können wir sie trotzdem nicht, denn das, was die Formeln ausdrücken, entzieht sich unserer Vorstellungskraft – es liegt außerhalb unseres Mesokosmos. Viele der tiefgründigsten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts – Relativitätstheorie, Quantenmechanik, Kurt Gödels Unvollständigkeitssatz, Chaos-Theorie – ziehen dem begreifenden Geist bestimmte Schranken. Quantenfelder, Strings, Wurmlöcher, Urknall oder die Topologie des Universums lassen sich nur über den schmalen Grat der höheren Mathematik erreichen.

Die Physik muss zusätzlich zu den mathematischen Beschreibungen die Wirklichkeit erklären: mit theoretischen Modellen. Sie haben aber keinen absoluten Wahrheitsanspruch. Sie müssen immer wieder kritisch hinterfragt werden und im Licht neuer Indizien und Entdeckungen gegebenfalls modifiziert oder sogar ersetzt werden. Daher nähern sich unsere Theorien und Vorstellungen der Wirklichkeit nur an und sind lediglich begrenzt gültig. Man weiß keineswegs, ob der Raum wirklich gekrümmt ist, wie das die Allgemeine Relativitätstheorie behauptet. Aber bis heute ist keine physikalische Sicht der Welt bekannt, die überzeugender wäre als diejenige, sich den Raum „gekrümmt“ vorzustellen.

Das Realismusproblem ist ein Dauerthema der Philosophie und Wissenschaftstheorie. „Wir können nicht fragen, was die Wirklichkeit ist, denn wir haben keine modellunabhängigen Überprüfungen von dem, was real ist“, schrieb Stephen Hawking. „Ich stimme nicht mit Platon überein, nach dem die Naturgesetze unabhängig von uns existieren.“

Der theoretische Elementarteilchenphysiker Henning Genz setzt der These, dass das Universum mathematisch und Gott ein Mathematiker sei, die These entgegen, dass im Universum Prinzipien regieren, die ohne Mathematik formuliert und verstanden werden können. „Man kann geradezu sagen, dass fundamentale Fortschritte der Physik mit der Ablösung mathematischer Prinzipien durch nichtmathematische einhergehen.“ (Henning Genz: „Gedankenexperimente“; S.177) Die Mathematik sei praktisch gezwungen, ihre selbst auferlegten Grenzen zu verlassen, um zu immer komplexeren und reicheren Systemen vorzustoßen.

Es führt kein Weg daran vorbei, dass wir die reale Welt von ihrer mathematischen Beschreibung unterscheiden müssen. Daher werden wir sie nie mit vollkommener Genauigkeit erfassen, also nie endgültig erklären können. „Dort reicht das Auge nicht hin, die Sprache nicht, nicht der Geist.“ (Upanischaden)

REM

Verantwortung für die Erde

Die Erde ist wie ein Organismus mit vielen Bestandteilen, die alle ineinander greifen und ein Gleichgewicht anstreben. Für die Balance sorgen die Teile selbst mit Hilfe vieler Rückkopplungsmechanismen. Auch der Mensch ist in dieses System mit eingebunden – ein Rädchen im globalen Getriebe. Allerdings greift er inzwischen auch drastisch in die Selbstregulierung der Erde ein. Schon seit dem ersten Auftreten von Homo sapiens vor rund 300 000 Jahren hat er die Umwelt verändert: Anfangs unmerklich, seit der neolithischen Revolution vor etwa 12 000 Jahren stärker und ab der Mitte des 18. Jahrhunderts radikal. Sein Wirken ist zu einem maßgeblichen Faktor im System Erde geworden, durch den der Planet grundlegend verändert und dabei viel Schaden angerichtet wurde.

Verwandlung der Erde

Homo sapiens hat sich zum Herren über die Natur aufgeschwungen und beeinflusst durch sein Handeln die Kreisläufe der Biosphäre. Die gesamte bisherige Kulturgeschichte des Menschen lässt sich als Indienstnahme und schrittweise Unterwerfung der ihn umgebenden Natur beschreiben. „Macht euch die Erde untertan“ ist wohl eine der folgenschwersten Aufforderungen gewesen, die je formuliert wurden. Sie führte dazu, dass sich die Menschen als etwas Besonderes, Einmaliges, ganz Anderes als Tiere und Pflanzen ansahen. Dieser Anthropozentrismus ist für die Vorstellung verantwortlich, als Eigentümer dieses Planeten seien wir Menschen weise genug, um zu wissen, wie wir damit umgehen müssen.

Jede der technischen Revolutionen – Werkzeugherstellung, Landwirtschaft, Industrialisierung – hat die Zahl der Menschen auf der Erde vervielfacht und ihre direkte Abhängigkeit von der Natur verringert. Seitdem ist der Mensch emsig dabei, die Erde auf jede erdenkliche Weise zu schädigen. In den letzten Jahrhunderten hat die Umweltverschmutzung, der Abbau von Ressourcen und die Auswahl der Arten, die gefördert werden, wichtige Materie- und Energieströme umgelenkt.

Die Explosion menschlicher Aktivitäten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die enormen Fortschritte in Wissenschaft, Technik und Medizin wird als „Große Beschleunigung“ gerühmt. Diese unglaubliche Zunahme an Geschwindigkeit und Mobilität bezahlen wir jedoch mit einem ungeheuren Energie-, Rohstoff- und Landschaftsverbrauch sowie mit Schadstoffbelastungen. Heute stehen wir in der Gefahr, diesen Prozess zu weit getrieben zu haben. Der Verbrauch an Wasser, Luft und Boden übersteigt in unserem Lebensraum schon heute deutlich die verfügbaren Kapazitäten.

Der Mensch ist also emsig dabei, die Erde auf jede erdenkliche Weise zu schädigen. Innerhalb von nur fünf bis sechs Generationen hat er die Erdoberfläche großräumig und tiefgreifend verändert. Wir haben riesige Regionen entwaldet, Berge abgetragen, Flüsse begradigt und das Klima verändert. Durch die Abholzung und Brandrodung der Wälder wurden wichtige Kohlenstoffspeicher vernichtet. Durch die Veränderung der Beschaffenheit der Erdoberfläche (z. B. Ackerflächen anstelle von Wäldern) wurde das Reflexionsvermögen (Albedo) erhöht.

Er pumpt Wasser aus dem Boden, so dass sich der Grundwasserspiegel absenkt. Er stört empfindlich den Wasserkreislauf durch Flächenversiegelung und Umleitung von Wasser für Trinkwasser, Bewässerung, aber auch zur Beseitigung von Fäkalien und Müll. Umfassende Flussregulierungen und der Bau von Staudämmen verhindern, dass genügend Sedimente ins Meer gelangen, wodurch sich die Deltas zurückziehen und das Meer ins Hinterland vordringt. Gerade dort leben besonders viele Menschen in Megastädten. Der Mensch ändert den Gehalt der Atmosphäre an Spurengasen und Schwebteichen, was die irdische Strahlungsbilanz sowie die Eigenschaften der Wolken beeinflusst. Wir verwandeln Luftstickstoff in Dünger und erschaffen Stoffe und Organismen, die es vorher in ihrer Umwelt so nicht gab.

Fast überall auf dem Planeten hat der Mensch die Urnatur zur Neonatur umgewandelt – in aller Regel auf Kosten der biologischen Vielfalt, Fruchtbarkeit der Böden und natürlichen Klimapuffern wie Wäldern und Feuchtgebieten. Nur noch 23% der eisfreien Erdoberfläche sind noch weitgehend unberührt, knapp 80% hingegen mehr oder weniger von uns geprägt. Die Erde, sagen Forscher, sei inzwischen zu einem „Humansystem mit eingebetteten, natürlichen Ökosystemen“ geworden. Wir sind tatsächlich längst nicht mehr Teil der Natur, sondern ihr Beherrscher. Das natürliche Gleichgewicht auf der Erde gerät ins Wanken. Die Rückkopplungen, die den Zustand des Amazonas-Regenwaldes langfristig stabil halten, funktionieren schon heute nur noch eingeschränkt. Lebensraum wird fragmentiert oder sogar vernichtet, so dass vielen Tier- und Pflanzenarten die natürlichen Lebensgrundlagen entzogen werden. Die Folge ist das heute beobachtbare massenhafte Artensterben.

Hinzu kommt die Belastung von Boden, Luft und Meeren mit Schadstoffen. Schwermetalle und Chemikalien verunreinigen unsere Böden und Gewässer. Fast 100 Millionen unterschiedliche chemische Produkte entstanden bis heute, die meisten künstlich synthetisiert, darunter langlebige organische Schadstoffe wie Insektizide oder toxische Industriechemikalien wie Dioxine. Viele der am weitesten verbreiteten, hartnäckig überdauernden Umweltgifte können über Nahrungsketten schließlich in Organismen angereichert werden und als Nervengifte und Enzymblocker wirken – oder Fortpflanzung und körpereigene Abwehrkräfte beeinträchtigen.

Die Folgen der Kunststoffschwemme sind überall in der Natur, in den Ozeanen und an den Stränden zu beobachten. An der Küste von Hawaii wurden so viele Gebilde aus geschmolzenen Kunststoffen, Vulkangestein, Korallenfragmenten und Sandkörnern entdeckt, dass man ein neues Gestein taufte: Plastiglomerat. Eine ökologische Zeitbombe ist das Radioaktivitätsrisiko aus Uranabbau, alternden Reaktoren und Wiederaufbereitungsanlagen. Dabei ist die Entsorgung des gefährlichen, radioaktiven Abfalls noch überhaupt nicht richtig geklärt. Plutonium hat eine extrem lange Halbwertzeit von 24 400 Jahren. Selbst in 100 000 Jahren wird sich die 3333ste Generation nach uns noch um die giftige Substanz kümmern müssen, die in der Natur eigentlich gar nicht vorkommt.

Klimawandel

Der Einfluss anthropogener Aktivitäten hat auch zu einem für paläoklimatische Verhältnisse drastischen Klimawandel geführt. Immer mehr Treibhausgase (Kohlenstoffdioxid, Methan, Lachgas bzw. Distickstoffmonoxid) gelangten in die Atmosphäre. Noch nie in den letzten 650 000 Jahren enthielt die irdische Lufthülle so viele wie heute. Die Zunahme der globalen Durchschnittstemperaturen setzte bereits ab 1830 herum durch die zunehmende Nutzung fossiler Brennstoffe zur Energiegewinnung ein. Heute gehen fast ein Drittel der globalen Emissionen auf den Nahrungsmittelsektor zurück: Rodung von Wäldern für Acker- und Weiseflächen, die Produktion und der Einsatz von Düngemitteln, die vermehrte Nutzviehhaltung sowie der Transport von Lebensmitteln.

Der Klimawandel wird sich mindestens über einige Jahrzehnte noch weiter verschärfen. Davon betroffen sind alle Regionen des Planeten und alle Fassetten des Klimasystems, von den Temperaturen über den globalen Wasserhaushalt bis hin zu den Eisschilden der Polargebiete. Der derzeitige Temperaturanstieg entspricht dabei dem seit der letzten Eiszeit – allerdings mit der hundertfachen Geschwindigkeit. Die Atmosphäre hätte sich noch weit stärker erwärmt, als wir beobachten, hätten nicht die Ozeane die Wärme zunächst aufgenommen, wobei das anthropogen erzeugte Kohlenstoffdioxid zur Versauerung des oberflächennahen Meerwassers beiträgt.

Bis 2100 (nach IPCC-Bericht) erwarten die Forscher eine globale Erwärmung von 4,5°C und einen Meeresspiegelanstieg um 1,40 Meter, falls die Menschheit den Klimawandel nicht in den Griff bekommt. Menschliche Siedlungen sind bedroht, eine weiträumige Abschwächung oder Verlagerung der globalen Ozeanzirkulation wird befürchtet. Das träge, großräumige System von Meeresströmungen könnte sogar fast ganz zum Stillstand kommen. Längerfristig könnten auch die polaren Eiskappen zum Schmelzen gebracht werden. Fast alle Klimamodelle sagen voraus, dass bis spätestens zum Ende des 21. Jahrhunderts die Arktis im September komplett eisfrei sein wird – wenn die Treibhausgas-Emissionen weiter so steigen wie bisher. Das Abschmelzen der Eiskappen auf Grönland und in der Antarktis könnte nicht Jahrtausende dauern, wie bisherige Simulationen ergaben, sondern nur Jahrhunderte, befürchten Wissenschaftler. Eine ganz eisfreie Welt gab es im warmen Eozän vor über 50 Millionen Jahren.

Die weltweite Erwärmung ist ein globales Pulverfass – und die Lunte brennt bereits. „Es ist bereits fünf nach zwölf!“ mahnt der Paläoklimatologe Gerald Haug von der ETH Zürich. Selbst Skeptiker unter den Forschern leugnen nicht die Gefahr, dass der weitere Anstieg der Temperatur die Klimamaschine des Globus über eine Schwelle treiben könnte, hinter der das System chaotisch zu werden droht. Es sind nichtlineare geophysikalische Phänomene – d. h. kleine Änderungen, die in Zeitspannen von wenigen Jahren auftreten -, die das herrschende Gleichgewicht in Teilen der Welt und global aus den Fugen geraten lassen und in einen anderen Zustand kippen können.

Wissenschaftler haben bis zu 16 entscheidende „Kipp-Elemente“ ausfindig gemacht, z. B. das Schmelzen der großen Eisschilde oder das Verschwinden des Amazonas-Regenwaldes. Ist einmal eine solche kritische Schwelle überschritten, können die resultierenden Veränderungen Jahrtausende anhalten. Das Erreichen eines Kipp-Punkts ist in den meisten Fällen nicht vorhersagbar. Heute scheinen einige der Kipp-Elemente dem Kollaps schon nahe zu sein, z. B. Teile des arktischen Permafrosts.

Experten schätzen, dass in diesem Jahrhundert durch die Klimaerwärmung zwischen 5 und 15% des Kohlenstoffs in auftauenden Permafrostböden freigesetzt werden, meist in Form von CO2. Dabei dürften aber auch die Methanemissionen steigen, bis Ende des Jahrhunderts schätzungsweise um 20 bis 40%. Die Jahresmitteltemperatur der Erde könnte dadurch um zusätzliche 0,32°C steigen.

Biosphäre

Es gibt keinen Zweifel: Die Biosphäre der Erde ist schon heute durch menschliche Eingriffe radikal erschüttert. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hat allein der rasche, menschengemachte Klimawandel einschneidendere Folgen für Flora und Fauna als die letzte Eiszeit. Viele Tier- und Pflanzenarten können nicht schnell genug reagieren, um sich an die rasanten Veränderungen anzupassen, zumal mögliche Rückzugsgebiete schon heute nicht mehr ungestört sind. Vor allem kalkbildende Organismen wie Muscheln, Korallen und Kieselalgen haben mit der Versauerung der Meere zu kämpfen, denn die Säuren lösen Kalkschalen und -skelette auf. In manchen Gegenden, von der Karibik bis zum Ostpazifik, sind wohl schon über 70% der empfindlichen Korallenriffe zerstört. Doch der geringe pH-Wert erschwert nicht nur die Kalkbildung, er kann auch die Stoffwechselfunktionen von Fischen und anderen Lebewesen beeinflussen.

Wenn sich die CO2-Emissionen nicht verringern, werden die Ozeane nicht nur saurer, auch die sauerstoffarmen Zonen werden zunehmen. Schon in den letzten 50 Jahren ist der Sauerstoffgehalt in den tropischen Ozeanen um bis zu 15% zurückgegangen. Wenn sich die Atmosphäre unseres Planeten bis zum Ende des Jahrhunderts um mehr als 4% erwärmt, ergeben die Klimamodelle, dass es in einer Tiefe von 100 bis 600 Metern allein durch den Klimaeffekt bei etwa 70% der Meeresfläche zu Sauerstoffverlust kommt. In diesen sogenannten „Todeszonen„, die sich vor allem in den tieferen Schichten der tropischen Meere befinden, kann kein höheres Leben mehr existieren.

Die derzeitige Aussterberate ist im Vergleich zum Durchschnitt der letzten 10 Millionen Jahre je nach Schätzung 10 bis 100mal so hoch. Wird sich die Rate dieses Artenschwunds in Zukunft nicht drastisch vermindern, könnte es zu einem Massensterben und einem Artenverlust vergleichbar jenem an der Kreide-Tertiär-Grenze kommen, als die Dinosaurier verschwanden. Die sogenannte „Krone“ der Schöpfung wäre damit das erste Lebewesen, das die Erde mitsamt ihrer Evolutionsgeschichte und mit all ihren Wundern innerhalb kurzer Zeit auslöschen kann.

Aber auch wir Menschen selbst werden an den Folgen des selbstverschuldeten Klimawechsels schwer zu tragen haben. Schon 1988 hieß es auf der Weltklimakonferenz: Die fortschreitende Veränderung der Erdatmosphäre bedrohe die globale Sicherheit, die Weltwirtschaft und die natürliche Umwelt. Steigt die globale Mitteltemperatur über zwei Grad, werden sich die Tage mehren, an denen kritische Toleranzschwellen für Land- und Forstwirtschaft und menschliche Gesundheit erreicht werden. Nachteilige Einflüsse wird es auf jeden Fall auf die Verfügbarkeit von Süßwasserressourcen geben: Wassermangel und Versteppung großer Gebiete in vielen Teilen der Welt.

Es wird heute schon erwartet, dass der Klimawandel in den kommenden Jahrzehnten mindestens 12 Millionen Menschen in extreme Armut treiben wird. Krankheitserreger werden sich weltweit ausbreiten, Naturkatastrophen sind unvermeidbar: Jedes Jahr eine Jahrhundertflut an einer Küste, mehr Hochwasserkatastrophen auch im Binnenland, und dazu häufigere Stürme, Dürren und Waldbrände mit unabsehbaren Folgen für Bevölkerung und Ökosysteme.

Evolutionäres Erbe

Die Evolution hat uns zur überlegenen Spezies gemacht, aber diese Entwicklung schlug in Überheblichkeit und Zügellosigkeit um. Ein beispielloses Artensterben und ein Verlust von einzigartigen Landschaften infolge Klimawandel, wirtschaftlicher Ausbeutung und zunehmender Umweltzerstörung steht uns bevor. Stephen Hawking warnte immer wieder, dass wir mit dem Klimawandel, den steigenden Temperaturen, dem Schmelzen der polaren Eiskappen, der Abholzung der Wälder und der Dezimierung der Arten unseren Planeten ruinieren.

Expansion, Konsum und Unterwerfung sind anscheinend in unserer DNA festgeschrieben. Der Mensch ist sozial und kognitiv an weit einfachere Lebenswelten adaptiert als jene, in der wir uns heute bewegen. Er lebte in einer überschaubaren Kleingruppe, musste um begrenzte Nahrung kämpfen und war mit hoher Sterblichkeit konfrontiert. Die Natur um ihn herum schien grenzenlos und unerschöpflich. Dies bestimmt auch heute noch sein Denken und sein Handeln. Aber die Welt, die ihn gemacht hat, ist verschwunden; und für die neue Welt, die er gemacht hat, hat er nur eine geringe Kapazität entwickelt, um sie zu verstehen. Wir stehen also vor den Problemen des 21. Jahrhunderts mit Gehirnen, die zum großen Teil noch die Welt von vor 50 000 Jahren widerspiegeln.

Es scheint, als ob der Mensch aus Schaden nur dann klug wird, wenn dieser sofort eintritt. Kurzfristige Erfolge werden demnach für wichtiger gehalten als langfristige Nachteile. Aufgrund dieser erkennbaren Defizite, des oftmals nicht an langfristiger Lebenssicherung orientierten Denkens und des Dranges, alles, was machbar ist, auch in der Tat umzusetzen, gefährden wir unsere Zukunft. Die Vorstellung, welche Konsequenzen heutiges Handeln in der „fernen Zukunft“ haben könnte, übersteigt wohl unsere Antizipationsfähigkeit. Selbst das Wissen, dass unser Handeln zukünftige Schäden bewirken kann, hält uns nur bedingt davon ab. Gerade in dieser ungenügenden Berücksichtigung der Zeitdimension wird heute eine der Hauptursachen der gegenwärtigen Umweltprobleme gesehen.

Immer wieder wird die wertebasierte Diskussion über die Konsequenzen aus Forschungsergebnissen mit einer Diskussion über die objektiven Forschungsergebnisse an sich verwechselt. Eine solche Vermischung erschwert es ungemein, effektiv und in einem breiten gesellschaftlichen Konsens auf die Herausforderungen unserer immer komplexeren Zukunft zu reagieren. Die Frage ist auch, ob wir angesichts unseres evolutionären Erbes kollektiv handlungsfähig sind, denn kollektive Krisen erfordern auch eine weltweite Koordination von Gegenmaßnahmen.

Die Menschen sind von Natur aus skeptisch, wenn kurzfristige persönliche Einschränkungen gefordert werden. Treffen sich Menschen aus verschiedenen Nationen oder Kulturen zu politischen Gesprächen, will man den eigenen Vorteil nicht verspielen und scheut Kosten und Kooperation, wenn andere vermeintlich davon mehr profitieren. Verzicht zugunsten der Allgemeinheit zur Lösung einer globalen Krise ist in der Wirtschaftspolitik nicht vorgesehen. Jeder verfolgt seine eigenen Interessen. Das galt und gilt auch bei der Verteilung der Impfstoffe, der Aufnahme von Flüchtlingen und der Bekämpfung von Fluchtursachen.

Dazu liefert die Spieltheorie Erkenntnisse: In sogenannten Öffentliche-Güter-Spielen profitiert jeder in der Gruppe von der Kooperation; aber unter sonst gleichen Bedingungen erhöhe ich meinen Gewinn, wenn ich von Kooperation zu Selbstsucht übergehe. Das heißt: Obwohl ich möchte, dass die anderen kooperieren, verhalte ich mich „schlau“, wenn ich sie hintergehe. Das Problem ist, dass jeder in der Gruppe genauso denkt, wodurch anfängliche Kooperation unweigerlich in allgemeiner „Abtrünnigkeit“ endet.

Schon jetzt treibt der Raubbau an Natur und Rohstoffen und der fehlende soziale und kulturelle Ausgleich unter den Gesellschaften der Welt die Menschheit in den Ruin. Um die Gefahr, unser Überleben aufs Spiel zu setzen, abzuwenden, sind wir gezwungen, zusammenzuarbeiten. Ob uns das rechtzeitig gelingt, ist die große Frage. Denn es kommt noch eine weitere psychische Besonderheit des Menschen hinzu: unsere Illusionsneigung. Längst sind aus lokalen Umweltproblemen globale Umweltkrisen geworden, wir aber bilden uns nach dem „Prinzip Hoffnung“ ein, dass es schon irgendwie weitergehen wird – mit verbesserter Technik.

Diese Hoffnung aber hält der Verhaltensforscher Kurt Kotrschal (und andere Wissenschaftler) angesichts der gegenwärtigen Probleme für einen „Kopf-in-den-Sand-Optimismus“. Daraus leitet er die Überzeugung ab, dass, wenn der Mensch nicht doch noch die Probleme in den Griff kriegen kann, unsere Art über kurz oder lang aussterben wird. Die heutige Zivilisation wäre zumindest nicht die erste Hochkultur, die einfach verschwindet. Die Maya in Zentralamerika bauten große, prachtvolle Städte, hatten eine Schrift und astronomische Kenntnisse. Wahrscheinlich haben sie sich mit ihren Rodungen und dem intensiv betriebenen Ackerbau aber der eigenen Lebensgrundlage beraubt. Als noch eine Klimakrise eintrat, waren sie offenbar nicht mehr in der Lage, sich schnell genug an die raschen Veränderungen anzupassen.

„Der Mensch glaubt, die Natur zu beherrschen, bevor er gelernt hat, sich selbst zu beherrschen“, meinte Albert Schweitzer. Wir haben uns heute zu weit fortbewegt von den Grundprinzipien der Natur. Die Natur aber ist unsere eigene Lebensgrundlage, von der wir abhängen. Sie ist an ihre eigenen Zeitrhythmen gebunden, und ihre Fähigkeit, auf Veränderungen zu reagieren und zivilisatorische Störungen auszugleichen, ist begrenzt. Wenn wir sie durch die Ausrottung von Arten nachhaltig manipulieren, verändern wir auch die Ökofaktoren, die unser eigenes Leben bestimmen. „Gaia gibt auf sich acht. Und die beste Art und Weise, dies zu erreichen, könnte die sein, uns loszuwerden“, soll Lovelock einmal gesagt haben.

Verpflichtung

Mensch und Erde bilden eine Schicksalsgemeinschaft. Wir sind ein integrativer Bestandteil der Natur, dieses großen Schöpfungswerks, vor dem wir Achtung haben sollten. Für uns Menschen sollte die Verantwortung darin bestehen, durch kollektiven Einfluss auf die Erde eine merkliche Rolle bei ihrer künftigen Entwicklung zu spielen. Das 21. Jahrhundert wird möglicherweise von entscheidender Bedeutung (im Sinne von „Scheideweg„) für unsere Spezies und unseren Planeten sein. Eine gesellschaftliche Transformation ist unausweichlich, ob wir sie nun wollen oder nicht. Die Frage ist nur, ob sie „by design“ (also kontrolliert) kommt, oder „by desaster“ (also in einem katastrophalen Prozess).

Selbst wenn manche Prozesse nicht mehr aufzuhalten sind, lassen sie sich doch bremsen. Je mehr wir vom Gen-Pool der Erdgeschichte zu retten vermögen, um so eher werden wir die technologischen, landwirtschaftlichen, medizinischen und ökologischen Herausforderungen der Zukunft bewältigen. Generell gilt: Die Versorgung einer größeren und dichter siedelnden Menschheit und die Entsorgung der von ihr produzierten Abfall- und Schadstoffe ist nur durch sparsamere und effizientere Nutzung der Ressourcen sicherzustellen. Dazu bedarf es einer „reduktiven Moderne“ – einer Lebensweise, die den heutigen zivilisatorischen Standard bewahrt, dabei aber ohne Wirtschaftswachstum, exzessiven Konsum und Raubbau an der Natur auskommt.

Was wir also brauchen, ist ein Wandel unserer Werte und Einstellungen, eine Ethik, die darauf basiert, dass wir die Zukunft mitbeachten und unsere Lebensgrundlage, nämlich das Ökosystem Erde, schützen. Dazu müssen wir uns bescheidener einpassen in die Geflechte wechselseitiger Beziehungen und Wechselwirkungen, die das Dasein auf unserer Erde zusammenhalten. Nur durch einen grundlegenden Wandel der Lebens- und Konsumbedingungen (insbesondere im Energiebereich) bzw. Änderung bestimmter Lebensstile kann die Erde für die nächsten Generationen bewohnbar bleiben.

Erforderlich ist also, eine Kultur der Achtsamkeit (aus ökologischer Verantwortung) mit einer Kultur der Teilhabe (als demokratische Verantwortung) sowie mit einer Kultur der Verpflichtung gegenüber zukünftigen Generationen (Zukunftsverantwortung) zu verbinden. Ganz wichtig: Der alte Adam, der mit seiner altsteinzeitlichen Gen-Ausstattung ins dritte Jahrtausend stolpert, muss die ihm angeborenen Wahrnehmungsmuster und Lösungsangebote („gesunder Menschenverstand„) immer wieder in Frage stellen und ihnen vor allem dort misstrauen, wo Probleme in ihrer Komplexität oder Reichweite den Nahbereich überschreiten.

Laut dem Popul Vuh, dem heiligen Buch der Quiche-Maya, ging ihr Volk unter, weil die Götter eines Tages nicht mehr mit den Sterblichen zufrieden waren. „Müssen die Menschen sich zu Göttern erheben?“ fragten die wahren Götter und beschlossen, den Maya all ihre Größe zu nehmen und sie nur noch das Nötigste wissen zu lassen. Die letzten Überlebenden der Maya hatten bei der Einwanderung der Spanier die Rodung und den intensiven Ackerbau ihrer Vorfahren aufgegeben und lebten bescheiden – mit der Natur und nicht gegen sie.

Für den Astronauten William Anders von Apollo 8 wurde, als er in der Umlaufbahn des Mondes zurück auf die knapp 400 000 Kilometer entfernte Erdkugel blickte, zum ersten Mal so richtig bewusst, welch unbedeutendes und doch überaus einzigartiges Objekt unser Planet in der Weite des Kosmos ist – und wie behutsam wir damit umgehen müssen.

REM

Plattentektonik und Evolution

Die Erde ist ein dynamischer Planet. Als einziger aller neun Planeten unseres Sonnensystems ist er, was seine Kruste angeht, tektonisch noch aktiv. Alfred Wegener veröffentlichte 1912 die Theorie über die Kontinentaldrift (oder Kontinentalverschiebung), auf der die heutige Lehre von der Plattentektonik fußt. Diese beschreibt die unaufhörliche Mobilität der äußersten, starren Schale der Erde, der Litosphäre, und die dabei wirkenden Kräfte.

  1. Plattentektonik

Die Theorie der Plattentektonik geht von dem Grundprinzip aus, dass die gesamte starre Litosphäre aus vielen, sich im Verhältnis zueinander ständig verschiebenden großen und kleinen Platten besteht; heute zählt man sieben große und Dutzende kleinere. In diese Platten ist ein Kontinent (kontinentale Kruste) oder ein Stück Meeresboden (ozeanische Kruste) oder beides eingebettet. Die riesigen Gebilde sind ständig in Bewegung und treiben langsam auf dem obersten Teil des Erdmantels, dem zähplastischen Gesteinsbrei der sogenannten Asthenosphäre (griechisch asthenos = weich).

Die Stärke der Platten beträgt durchschnittlich 33 Kilometer (kontinentale Kruste 30 bis 70 Kilometer, ozeanische 6 bis 13 Kilometer). Ihre subkrustalen Kiele können sogar bis zu 400 Kilometer mächtig sein. Die Platten sind aber keine geologischen Einheiten, denn langsam, aber beharrlich, werden sie auseinandergerissen und neu zusammengeschoben; sie erneuern sich in diesem dynamischen Kreislauf stetig. Bei ihrer Reise im Schneckentempo – wenige Zentimeter bis etwa 10 Zentimeter pro Jahr – legen sie im Laufe von Jahrmillionen tausend Kilometer zurück. Der derzeitige Plattenverband auf unserem Planeten besteht vermutlich seit mindestens 150 Millionen Jahren.

Generell sind die Plattenbewegungen relativ gleichförmig. Eine Ausnahme bilden nur die Plattenrandgebiete. An den sogenannten konvergenten Grenzen stoßen Platten zusammen. Dabei wird die leichtere Platte zusammengedrückt und unter die andere geschoben. Die Stelle, an der sie in den Mantel abtaucht, wird als Subduktionszone bezeichnet. Da sie sich an ihrem gegenüberliegenden Rand von einer anderen Platte entfernt, entsteht dort eine divergente Plattengrenze. Dort quillt frisches Magma aus dem Erdinnern nach oben und kühlt ab. Es türmt sich an der Oberfläche auf und bildet einen untermeerischen Höhenrücken. Stoßen zwei gleich schwere Platten aus kontinentaler Kruste zusammen, werden sie miteinander verschweißt. Sie verschieben sich in mehrfachen Schichten ineinander, falten sich und türmen die kontinentale Kruste zu gewaltigen Gebirgen auf. An anderen Plattengrenzen wiederum schieben sich Platten aneinander vorbei.

Viele Kräfte spielen zusammen, um die riesigen Krustenteile anzutreiben. Dabei überschneiden sich Kräfte im tiefen Erdmantel mit denen an der Erdoberfläche. Daher haben die Geologen inzwischen das dynamische Modell der Plattentektonik auf das Platteninnere ausgedehnt („Intraplattentektonik„). Während früher die einen Vorgänge im Mantel für das Driften der Platten verantwortlich machten (bottom-up), hielten die anderen den Einfluss der Platten auf den Mantel für die Ursache (top-down). In Wirklichkeit halten sich beide Vorgänge über eine Rückkopplungsschleife wahrscheinlich gegenseitig in Gang.

Der große Temperaturunterschied zwischen dem etwa 4000°C heißen flüssigen Erdkern in 2000 Kilometern Tiefe und der Erdoberfläche lässt die plastische Gesteinsmasse des Erdmantels zirkulieren. Heiße Bereiche sind lokal leichter und neigen dazu, aufzusteigen, während kalte Bereiche dichter sind und absinken. Chemische Unterschiede beeinflussen ebenfalls den Auftrieb, denn eisenreiche Gesteine z. B. sind normalerweise dichter (und damit schwerer) als magnesiumreiche. So steigen Magmatröpfchen in dünnen Fäden langsam empor, nur wenige Zentimeter pro Jahr. Ihre Bahnen erzeugen ein Netz aus Millionen von Schmelzfäden, die sich nach oben zu immer größeren Kanälen zusammenschließen und baum- oder girlandenähnliche Strukturen bilden. Das Magma gelangt schließlich bis dicht unter die Erdkruste.

Wo sich an der Kern-Mantelgrenze viel heißes Material sammelt, können auch große Materieblasen (Hot Blobs) entstehen, die dann pulsartig aufsteigen. Diese auch als Plumes bezeichnete heiße Blasen (Aufstrombereich ähnelt einem Helmbusch = Plume) können mächtige „Blähungen“ verursachen und die Erdoberfläche ausbeulen.

Manchmal gibt es einen Stau, wenn das Magma im oberen Mantel auskristallisiert und „Dämme“ bildet. Diese brechen von Zeit zu Zeit und es treten vorübergehen große Mengen an heißer Flüssigkeit aus einem einzigen Kanal aus. Geophysiker nennen solche Bereiche Hotspots, die ebenso wie die Platten wandern. Von diesen relativ eng begrenzten vulkanisch aktiven Regionen existieren mehrere Dutzend über den gesamten Globus verteilt. Womöglich haben aber nach neueren Erkenntnissen nur die heißesten Hotspots ihren Ursprung an der Kern-Mantel-Grenze. Viele entstehen wohl auch in geringeren Tiefen durch lokale Konvektion. (Warum sich heute alle heißen Hotspots im Pazifikraum sammeln, die kühleren dagegen rund um Afrika, ist unklar.)

Nach Ansicht der meisten Fachleute ist das Gewicht des abtauchenden Krustenfragments, das den Rest der Platte hinter sich herzieht, der anteilsmäßig bedeutendste Antrieb für die Bewegung der Erdplatten. Wenn zwei Platten zusammenstoßen und sich die eine unter die andere schiebt, entsteht eine Zugspannung, da der absinkende Teil während der Subduktion die restliche Platte ein Stück nach unten Richtung Mantel zieht. Durch diese ungeheuren Zugkräfte reißt am anderen Ende der Platte die Erdkruste auf. Das Magma kann hier nach oben steigen und bildet an der Oberfläche eine (neue) Spreizungszone, wo das erstarrende Magma unablässig neuen Meeresboden bildet.

Die dominierenden Kräfte an den Subduktionszonen befinden sich in den ersten 100 Kilometern unter der Erdoberfläche. Die abtauchenden Gesteinsplatten beeinflussen offensichtlich hier auch die Konvektionsströme, die die horizontale Wanderung der Erdplatten nicht nur antreiben, sondern auch bremsen können. An manchen Stellen steigt Magma unabhängig von Plattengrenzen aus dem Erdinneren hoch. Und nicht nur die Platten sind in Bewegung, sondern auch die Nähte. Daher wollen manche Forscher die herkömmliche Lehre von der Plattentektonik durch das Modell der Konvektionstektonik ersetzen.

Manche Ereignisse und Plattenbewegungen aber lassen sich nicht so einfach erklären. So steht manchmal die Bewegung einer Platte nicht im Einklang mit der Art, wie ihre Ränder abtauchen. Außerdem kann z. B. nicht erklärt werden, warum die pazifische Platte derzeit um fünf Millimeter pro Jahr schrumpft, während der Atlantik immer breiter wird. So bleiben für ein umfassendes Verständnis der Plattentektonik noch viele Fragen offen.

Nur ein paar lächerliche Zentimeter im Jahr verschieben sich die Platten – und lösen doch auf der Erde gewaltige Erdbeben aus, lassen Vulkane bersten und türmen Gebirge auf. So sind beispielsweise die weitgehend stabilen Kontinentalplatten umgeben von seismisch und vulkanisch aktiven Gürteln. Eine abtauchende Platte ist noch kühl und spröde und zerbricht unter den Spannungen, hervorgerufen durch Zug in mittleren und Kompression in großen Tiefen. Dabei werden Erdbeben erzeugt, deren Weg wir bis in fast 700 Kilometer nachzeichnen können. Starke Erdbeben können auch dann entstehen, wenn Platten sich beim Vorbeigleiten ineinander verhaken. Die dabei entstehenden Spannungen können sich dann mit einem plötzlichen Ruck lösen. (Es gibt sogar Beben, die entstehen, wenn zwei Platten voneinander wegdriften.)

An den Rändern kollidierender Platten treten die meisten Vulkaneruptionen auf. Meist lässt die Subduktion etwa 200 bis 300 Kilometer hinter dem Tiefseegraben eine Kette hochexplosiver Vulkane emporwachsen. Das Gestein einer abtauchenden Platte schmilzt teilweise in der Tiefe, weil eingebrachtes Wasser und andere flüchtige Teile dort den Schmelzpunkt des umgebenden Gesteins herabsetzen. Magma bahnt sich seinen Weg zur Oberfläche. Nahe der Kruste verliert die aufsteigende Schmelze so viel Wärme, dass sie teilweise auskristallisiert und den Aufstrom völlig blockiert. Wenn das spröde Gestein unter dem wachsenden Druck des nachfließenden Magmas schließlich zerbricht, kommt es zu spektakulären, explosiven Eruptionen (so jüngst die Ausbrüche des Pinatubo auf den Philippinen und des Mount St. Helens in den USA).

Am Meeresboden treten mächtige Lavaströme teilweise an Hotspots aus. Die Vulkane können nach einiger Zeit sogar einige tausend Meter über den Wasserspiegel aufragen. Nach vielen Jahrtausenden versiegt der Lavanachschub. Der erloschene Vulkan schrumpft durch die Erosion, bis er irgendwann wieder unter dem Meeresspiegel verschwindet. Längst hat sich dann aber der Hotspot schon etliche Kilometer entfernt und dort erneut durch die Erdplatte geschweißt: Ein neuer Vulkan bricht aus. In vielen Jahrmillionen entsteht so eine lange Kette von Vulkaninseln. (Hawaii oder die Galapagos-Inseln sind beispielsweise so entstanden.)

Beim Zusammenstoß von Kontinentalplatten liegen die entscheidenden Kräfte tiefer als in Subduktionszonen, meist in 100 bis 500 Kilometern Tiefe. Aber auch ohne dass Krustenplatten miteinander kollidieren, können sich heiße Gesteinsströme auf das Festland auswirken. Vor allem besonders riesige Pakete heißen Gesteins, sogenannte Superplumes, können einen ganzen Kontinent nach oben drücken und sogar auseinanderreißen. (Auf diese Weise trugen die Ströme heißen Gesteins, die heute unter Island, Tristan da Cunha oder Bouvet hervorquellen, dazu bei, den letzten Superkontinent Pangäa im Lauf der vergangenen 200 Millionen Jahre in verschiedene Teile zu zerlegen.)

Wenn auf einem Kontinent ein Riss entstanden ist, bildet sich an dieser Stelle zunächst ein Grabenbruch oder Rift Valley. In diese Senke ergießt sich die basaltische Lava der Vulkane und erstarrt. Der Graben senkt sich weiter ab und gelangt mit der Zeit schließlich unter den Meeresspiegel, so dass er überflutet wird. Ein neuer Ozean ist geboren. Die Vulkane des Grabenbruchs bilden nun einen mittelozeanischen Rücken, an dem neue Erdkruste entsteht; die beiden Bruchstücke des alten Kontinents werden weiter auseinandergedrückt. Diesen Kreislauf von Grabenbruch über Meeresbildung und erneutem Plattencrash mit neuen Gebirgen sowie dem Abtauchen der Plattenränder nennt man Wilson-Zyklus – nach John Tuzo Wilson, einem 1998 verstorbenen kanadischen Geophysiker.

Magma kann auch unter der Granitdecke der Kontinente stecken bleiben und sich in Magmakammern sammeln. Diese sogenannten Konvektionszellen sind kilometergroß und liegen relativ nahe (etwa 50 Kilometer) unter der Oberfläche. Da die kontinentale Kruste allgemein recht gut isoliert ist – viel besser jedenfalls als die dünne ozeanische Kruste -, kann das Magma in den Kammern auch langsam abkühlen und erstarren, um nach Millionen von Jahren feste Gebirgsarten zu bilden.

2. Geschichte der Plattentektonik

Wann genau die Plattentektonik auf der Erde einsetzte und was genau den Anstoß dazu gab, darüber rätseln die Geophysiker seit Jahrzehnten. Es finden sich aber immer mehr Indizien, dass tektonische Vorgänge – im Gegensatz zu manchen theoretischen Erwartungen – fast während der gesamten Zeit seit Bildung der festen Erdkruste auf ähnliche Weise wirksam waren wie heute. Demnach haben sie bereits vor mehr als vier Milliarden Jahren eingesetzt, als sich über dem glühenden Erdinneren eine erste primitive Kruste gebildet hatte.

Eine Theorie besagt, dass diese Kruste sich unter den Gezeitenkräften des Mondes dehnte und schließlich in Stücke zerbrach. Andere Wissenschaftler vertreten die Ansicht, dass die Einschläge von Asteroiden die Ursache für die Zersplitterung der Erdkruste waren. Teile der erkalteten äußeren Kruste seien dann irgendwann in den heißen oberen Mantel gedrückt worden und hätten damit die globale Plattentektonik angestoßen. Vielleicht passierte aber auch das genaue Gegenteil: Statt dass kalte Kruste ins Innere der Erde eindrang, könnten heiße Gesteinsschmelzen (Magma) im Mantel aufgestiegen sein und die Kruste aufgebrochen und auseinandergedrückt haben. Dabei wäre Kruste an anderer Stelle gestaucht worden und ein weiteres Mal zerbrochen. Erstmals könnte es hier zu Subduktionsvorgängen gekommen sein.

Jedenfalls legen Analysen der ältesten Gesteine der Erde nahe, dass bereits vor etwa vier Milliarden Jahren Prozesse stattgefunden haben könnten, die der Subduktion zumindest ähnelten. Damit hätten jener komplexen Vorgänge begonnen, durch die letztlich die Ozeane und Kontinente entstanden. (Nach Ansicht einiger Wissenschaftler könne man aber erst seit etwa 3,8 Milliarden Jahren von Plattentektonik sprechen, da die Protokontinente zunächst vergleichsweise klein und dünn waren und die Erde noch heiß war. Damals hätte weder eine horizontale Plattenbewegung noch Subduktion stattgefunden. Erst als die Erde hinreichend abgekühlt gewesen sei, hätten sich die ersten Platten in Bewegung gesetzt.)

Während das Erdinnere heute bestenfalls köchelt, musste es in der Frühzeit der Erde regelrecht gebrodelt haben, weil es noch mehr kurzlebige radioaktive Elemente gab, deren Zerfall den Erdmantel aufheizte und intensivere Wärmeausgleichsströmungen verursachte. Der noch heiße Planet schwitzte im Zeitraffer neue Kruste aus, die noch relativ heiß wieder in den Mantel abtauchte. Folglich begann sie in geringeren Tiefen zu schmelzen, als dies heute normalerweise geschieht. Das erklärt die Bildung natriumreicher magmatischer Gesteine auf der frühen Erde.

Der rasche Umsatz führte schließlich auch dazu, dass riesige Gesteinsblöcke entstanden, die dick und leicht genug waren, um nicht mehr ins heiße Erdinnere zurückzusinken. Durch Vulkanismus wurden hochgradig differenzierte Magmen erzeugt, deren Zusammensetzung eher der des hellen Granits entsprachen. Weniger dichte Gesteine wie Granit sind leichter als Basalt. Während basaltische Kruste wegen ihres hohen Eisengehalts ziemlich schwer ist und daher nach dem Erkalten immer wieder absank, blieb weniger dichtes Gestein an der Oberfläche und bildete schließlich die Bestandteile der Kontinente.

Die Landmassen sind also der Teil der Erdkruste, der nicht unablässig erneuert wurde. Allerdings haben nur wenige sehr frühe Kontinental-Gesteine das unablässig arbeitende Mahlwerk der Erde – geologische Vorgänge wie Faltung, Erosion und Metamorphose – unverändert überstanden. Die ältesten kontinentalen Fragmente sind 4,03 Milliarden Jahre alt. (Dagegen ist der Ozeanboden erdgeschichtlich gesehen sehr jung: Die älteste ozeanische Kruste ist gerade einmal 200 Millionen Jahre alt. ) Auf welche Weise genau – und wie schnell – aber Kontinente entstanden und wuchsen, ist noch nicht endgültig geklärt. Auch wie groß die ersten Kontinente waren und wo sie auf der Asthenosphäre schwammen, vermag niemand exakt zu sagen.

Vor etwas mehr als drei Milliarden Jahren begannen sich die Konvektionsströme und die chemische Zusammensetzung des Erdmantels infolge der Abkühlung des Planeten zu verändern. Die tektonische Aktivität nahm dauerhaft Fahrt auf. Immer noch gab es heftige Einschläge, allerdings seltener. Die meisten Geologen gehen heute davon aus, dass durch teilweises Aufschmelzen und Fusion älterer Krustenteile jetzt erstmals ein richtiger Kontinent entstand, sicherlich kleiner als das heutige Australien. Da es damals unter der Kruste immer noch heftig brodelte, zerbrach er wieder, während anderswo neue Landmassen entstanden.

Vor 3 bis 2,5 Milliarden Jahren war das Wachstum kontinentaler Kruste besonders stark. Einigen Schätzungen zufolge entstanden damals bis zu 65% der heutigen Festlandsmasse. Am Übergang vom Archaikum zum Proterozoikum (vor ungefähr 2,5 Milliarden Jahren) veränderte sich auch die Zusammensetzung der Lithosphäre, was wohl mit der Geschwindigkeit der plattentektonischen Bewegungen an der Erdoberfläche zusammenhing. Während die obere Kruste bis dahin aufgrund des schnellen Recyclings aus relativ wenig differenzierten Gesteinen, im Wesentlichen einer Mischung aus Basalt und natriumreichen Graniten, bestand, dominierten jetzt in der oberen Kruste kaliumreiche Granite. Seither ist auch die relative Höhe der Ozeanbecken und der Kontinentalplattformen ziemlich konstant geblieben.

Mehr als einmal scheint der Antrieb der Plattentektonik in den vergangenen drei Milliarden Jahren weltweit ins Stocken geraten zu sein, nur um nach einiger Zeit in alter Frische wieder anzuspringen. Solche Zyklen dauerten wahrscheinlich etliche hundert Millionen Jahre, und es sieht nicht so aus, als ob sie nur von den gigantischen Strömungen im Erdmantel abhingen. Vielmehr vermuten Forscher, dass auch die Erosion auf der Oberfläche des Planeten Erde eine wichtige Rolle spielte.

Es gibt eine gut dokumentierte Serie von Aufspaltungen und Vereinigungen von Kontinenten. Geowissenschaftler schätzen, dass sich alle 500 bis 700 Millionen Jahre die Kontinente durch Schließung von Ozeanbecken zu Superkontinenten zusammenfügen. Diese zerbrechen nach kurzer Zeit durch Wärmestau unter ihrer isolierenden Decke. Warum sich Erdteile immer wieder auf einem Haufen versammeln, bleibt allerdings rätselhaft.

Vermutlich entstand vor etwa 2,5 Milliarden Jahren der erste (noch hypothetische) Superkontinent Kenorland – eine Rieseninsel am Äquator. Nach einem Intermezzo mit kleineren Kontinent-Bruchstücken wuchs vor etwa 1,1 Milliarden Jahren der größte Teil der Landmassen zum ersten gut dokumentierten „echten“ Superkontinent Rodinia (russisch: Mutterland) zusammen. Er zerfiel bis vor rund 750 Millionen Jahre wieder. Als sich die Plattentektonik anschließend stark abbremste, kam es zu Phasen starker globaler Abkühlung, in der große Teile des Globus viele 100 Millionen Jahre unter einem gigantischen Eispanzer begraben wurden („Schneeball-Erde„). Gegen Ende des Paläozoikums vor 250 Millionen Jahren kam es wieder zu einem großen Crash, als sich die Großkontinente Laurasien und Gondwana zum neuerlichen Superkontinent Pangäa vereinigten, der von einem einzigen großen Ozean (Panthalassa) umgeben war. Der Koloss begann für geologische Verhältnisse ziemlich rasch an den heutigen mittelozeanischen Rücken auseinanderzubrechen, und aus dem Urmeer Panthalassa gingen unsere heutigen Ozeane hervor.

3. Plattentektonik und Leben

Möglicherweise haben die tektonischen Prozesse auf der frühen Erde die Zutaten für einen einfachen Stoffwechsel geliefert und damit die Basis für die ersten sich teilenden Zellen gelegt. Das Leben hätte wohl auch nie ohne Subduktion auf dem Meeresboden Fuß gefasst, denn der Meeresgrund wäre kalt und chemisch weniger komplex geblieben. Durch die Tektonik aber werden Wärme und chemische Verbindungen zwischen dem oberen Erdmantel und der Kruste ausgetauscht und so das Oberflächengestein erneuert – und damit auch die Salze, von denen sich einige Bakterien ernähren. Zudem wird durch die tektonischen Vorgänge die Strömung im flüssigen Erdkern in Gang gehalten, durch die letztlich das Erdmagnetfeld erzeugt wird, welches die Biosphäre vor der kosmischen Strahlung schützt und erst den Gang des Lebens an Land ermöglichte.

Der mit den tektonischen Aktivitäten einhergehende Vulkanismus änderte die Zusammensetzung der Erdatmosphäre drastisch, indem er diese kontinuierlich mit Kohlenstoffdioxid und anderen Gasen anreicherte. CO2 reagiert mit dem Wasser in der Luft zu Kohlensäure, die mit dem Regen auf den Erdboden gelangt und dafür sorgt, dass sich das Gestein auf den Kontinenten schneller auflöst und verwittert. Wichtige mineralische Nährstoffe werden in die Flüsse geleitet und gelangen schließlich in die Meere. Dort reagiert das im Wasser gelöste atmosphärische CO2 mit dem eingetragenen Kalziumsilikat zu Kalziumkarbonat (CaCO3 / Kalkstein), welches sich schließlich als Sediment am Meeresboden ablagert. Wenn die ozeanische Kruste nach vielen Millionen Jahren wieder per Subduktion in den Mantel abtaucht, nimmt sie die kohlenstoffhaltigen Sedimente mit und reichert den Mantel erneut mit Kohlenstoff an, der schließlich wieder bei Vulkanausbrüchen in Form von Kohlenstoffdioxid zurück in die Atmosphäre gelangt. Durch diesen Kohlenstoff-Silikat-Zyklus bleibt der CO2-Gehalt der Atmosphäre über lange Zeiträume relativ konstant und sorgt so für eine recht stabile Mitteltemperatur auf der Erde – und damit über lange Zeiträume hinweg auch für stabile Lebensbedingungen.

Auf ähnliche Weise wie den Kohlenstoff recycelt die Tektonik auch fortlaufend andere Mineralien und Gase, die für das Leben wichtig sind. So wird beispielsweise Schwefel ständig zwischen verschiedenen Reservoirs in den Ozeanen, der Erdkruste und der Biosphäre ausgetauscht, dabei chemisch verändert und neu verwertet. Der energiereiche Schwefelwasserstoff könnte vor Entstehung der Fotosynthese als Energielieferant für Archaeen und Bakterien gedient haben. Würde der Meeresgrund nicht immer wieder unter die Kontinente geschoben und stiegen Teile von ihm nicht ständig infolge von Vulkantätigkeit und Gebirgshebung erneut nach oben, würde der Verlust unerlässlicher Stoffe für das Leben dessen Ende bedeuten.

Als im mittleren Erdaltertum (Proterozoikum) die Plattentektonik die Gebirgsbildung auf dem damals entstandenen, langlebigen Superkontinent Rodinia bremste und Erosionsprozesse die alten Bergmassive verschwinden ließen, wurden auch immer weniger essenzielle mineralische Nährstoffe wie etwa Phosphate vom Land in die Ozeane getragen. Das war möglicherweise der Grund, warum zu dieser Zeit die Evolutionsprozesse im Meer einen eher statischen Verlauf nahmen. Überraschend ist, dass diese Nährstoffe auch in Zeitaltern, in denen es zu Massenaussterben auf der Erde kam, in deutlich geringeren Konzentrationen vorlagen. Zwischen 560 und 550 Millionen Jahren v. h. hatte sich dagegen die Menge der mineralischen Nährstoffe etwa verzehnfacht – wohl durch intensivere Verwitterung als Folge einer aktiveren Tektonik. Es folgte die explosionsartige Entfaltung des tierischen Lebens zu Beginn des Erdmittelalters im Kambrium (541 – 485 Millionen Jahre vor heute).

Auch wie sich das Leben entwickelte, wurde nicht zuletzt von der Drift der Kontinente mitbestimmt. Sofern Eruptionen am Meeresgrund stattfanden, änderten sie nicht nur die chemische Zusammensetzung des Meerwassers, sondern auch die Meeresströme. Deren Umorganisation konnte die Entwicklung des Klimas noch verschärfen und zu einem dramatischen Klimawandel führen.

Als sich vor 34 Millionen Jahren zwischen der Südspitze Südamerikas und der Antarktischen Halbinsel eine neue Meeresstraße (die Drake-Passage) öffnete, löste dies gewaltige Umwälzungen in der Region aus. Aus der in großen Teilen eher noch milden Antarktis wurde der heutige Gefrierschrank. Fast alles Leben auf ihr ging zugrunde.

Die physische Umgebung änderte sich durch die Plattenverschiebungen ständig. Es entstanden neue Lebensräume, andere wurden vernichtet, meist jedoch nicht auf chaotische Weise. Unaufhörlich mussten sich die Lebewesen an sich wandelnde Verhältnisse anpassen und sich darin fortpflanzen. So konnte sich nie ein statischer Zustand herausbilden. Die Evolutionsmaschinerie blieb immer in Bewegung. Räumliche Trennung von Populationen ist wesentlich für die Entstehung neuer Arten. So gingen beispielsweise beim Auseinanderbrechen eines Urkontinents Populationen auf allen Einzelkontinenten eigene Wege. Wenn sich die Festlandssockel wieder neu zusammenfügten, trafen unterschiedlichste Spezies aufeinander und der zwischenartliche Konkurrenzkampf wurde intensiviert.

Tektonische Aktivität bestimmte also das Schicksal des Pflanzen- und Tierreiches auf der Erde ganz entscheidend mit, ja war absolut notwendig für den Fortbestand und die Entwicklung des Lebens. Einige Forscher spekulieren sogar, dass sich ohne Plattentektonik nie hätten komplexe höhere Lebewesen – und auch der Mensch – entwickeln können. So übten tektonische und klimatische Ereignisse auch wesentliche Impulse auf unsere Stammesentwicklung aus. Zu Beginn des jüngsten Eiszeitalters spielten sie z. B. (neben anderen Faktoren) eine zentrale Rolle in der Menschwerdung. Die klimatisch-tektonischen Veränderungen in Afrika – Entstehung eines Riftsystems und Trennung der Klimazonen – sind nach Ansicht vieler Fachleute die Ursache für die Abspaltung der Homininenlinie von den afrikanischen Menschenaffen.

Lebewesen passen sich aber nicht nur einfach der Umwelt an, sondern schaffen sich die Umwelt, die zu ihnen passt, bzw. nachfolgenden Generationen günstige Lebensbedingungen bietet. So wurden sie von Anfang an selbst zu einem machtvollen Faktor in der Geschichte der Litho-, Hydro- und Atmosphäre. Lebewesen tragen aktiv dazu bei, den Planeten in einem zum Leben geeigneten Zustand zu halten. In einer gezielten Wechselbeziehung sorgen Erde und Leben dafür, dass jedes Ungleichgewicht wieder aufgehoben wird. Lebewesen sind z. B. an der Steuerung der auf der Erde herrschenden Temperaturen, des Salzgehalts der Ozeane und des Gleichgewichts des Chemikalienhaushalts beteiligt. Ohne diese Selbstregulierung wäre das irdische Leben wohl schon lange ausgestorben. Zusammen mit Atmosphäre, Ozeanen und festem Land bildet somit die gesamte lebende Materie auf der Erde ein komplexes System, das über alle typischen Kennzeichen der Selbstorganisation verfügt.

Auch der Mensch ist als Teil der Natur zweifellos in diese Kreisläufe mit eingebunden. Er hat in den letzten Jahrhunderten massiv in diese natürlichen Kreisläufe eingegriffen und die Materie- und Energieströme in hohem Maße umgelenkt. Das Beziehungsgeflecht, das die Menschheit untereinander und mit der übrigen Biosphäre verbindet, ist heute so komplex, dass jeder Aspekt in einem überaus engen Wirkungszusammenhang mit allen übrigen Aspekten steht. Da es der Mensch ist, der heute die Biosphäre massiv beeinflusst, trägt er auch einen Großteil der Verantwortung für den Fortbestand des Lebens auf unserem Planeten. Darüber muss sich der Mensch im Klaren sein und sollte sein Handeln danach ausrichten.

REM

Das Schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße

Aufbau der Milchstraße

Die Milchstraße ist eine ziemlich durchschnittliche Spiralgalaxie mit einem Durchmesser von 170 000 bis 200 000 Lichtjahren. Die Astronomen unterscheiden grob insgesamt vier mehr oder weniger deutlich abgegrenzte Gebiete: Dünne Scheibe, dicke Scheibe, zentrale Verdickung (Bulge), galaktischer Halo.

Vom galaktischen Zentrum aus erstreckt sich ein balkenförmig langgestreckter Bereich sowie eine zentrale kugelförmige Verdickung, der sogenannte Bulge (engl.: Wulst, Ausbuchtung, Bauch). Letzterer ist 16 000 Lichtjahre dick und hat einen Durchmesser von 10 000 Lichtjahren und besteht hauptsächlich aus Gas, Staub und rund 10 Milliarden, überwiegend sehr massereichen Sternen. Der gewaltige Balken, eine gerade Ansammlung besonders vieler Sterne und Gase, hat eine Länge von 11 400 bis 16 300 Lichtjahren. Wegen dieser Struktur wird die Milchstraße heute auch als Balkenspirale bezeichnet. Die flache Scheibe (insgesamt 3000 Lichtjahre dick; Durchmesser rund 100 000 Lichtjahre) rotiert langsam um das Zentrum der Galaxis; jeder Stern in ihr folgt, wie die Sonne, seiner eigenen kreis- oder ellipsenförmigen Bahn, auf der er gravitativ gehalten wird. Auch die Sterne im zentralen Bulge und die interstellare Materie rotieren um den Schwerpunkt des Milchstraßensystems.

Die leuchtende Scheibe besteht aus vier Spiralarmen, die von der balkenförmigen Sternansammlung in einer Entfernung von 10 000 bis 40 000 Lichtjahren vom Zentrum ausgehen. Sie sind genau nach dem Magnetfeld ausgerichtet, das überall in der Milchstraße die interstellare Materie durchsetzt. In den Spiralarmen verdichten sich Gas und Staub und es entstehen zahlreiche neue, helle Sterne. Der Raum zwischen den Spiralarmen enthält zwar fast ebenso viel Material wie die Spiralarme, nur leuchtet er kaum.

Die Scheibe der Milchstraße (Spirale) und die zentrale Verdickung (Bulge) schweben nicht isoliert im Raum, sondern sind eingebettet in eine Art kugelförmiger Wolke aus ionisierten Gasen, relativ wenigen Sternen und Kugelsternhaufen und wohl viel Dunkler Materie. Dieser galaktischen Halo hat einen Durchmesser von ungefähr 165 000 Lichtjahren. Auf einer noch großräumigeren Skala ist die Milchstraße wahrscheinlich in einen unsichtbaren Halo aus Dunkler Materie eingebettet. Er ist leicht abgeflacht und allenfalls langsam rotierend. Sein Durchmesser könnte über 2 Millionen Lichtjahre betragen. Damit reicht er bis fast zur 2,5 Millionen Lichtjahre entfernten Andromeda-Galaxie heran.

Die Gesamtmasse der Milchstraße setzt sich aus den Sternen (geschätzt rund 100 bis 300 Milliarden) und Gaswolken in der Scheibe sowie vor allem der Dunklen Materie aus dem Halo zusammen und beträgt 1,5 Billionen (1500 Milliarden) Sonnenmassen. Dazu trägt das supermassereiche Schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße (s. u.) etwas über vier Millionen Sonnenmassen bei.

Schwarze Löcher

Schwarze Löcher sind eine der befremdlichsten Konsequenzen der Allgemeinen Relativitätstheorie. Überschreitet nach deren Gleichungen die Masse in einem Raumgebiet eine kritische Grenze – oder anders gesagt: wird eine Masse auf einen genügend kleinen Raum zusammengedrängt -, werden die Gravitationskräfte so groß, dass weder Materie noch Licht oder ein anderes Signal mehr entweichen kann. Die physikalischen Gesetze brechen an der Grenze dieses Objekts offenbar derart dramatisch zusammen, dass hier sogar Raum und Zeit enden könnten.

Albert Einstein wurde auch nicht müde, immer wieder zu beweisen, dass es die „mathematische Katastrophe“ nicht geben kann. Erst 1939 konnten Wissenschaftler beweisen, dass beim Kollaps eines massiven Sterns mit mindestens 25-facher Sonnenmasse der entstandene Sternrest von mehr als 3,2 Sonnenmassen keine Möglichkeit mehr hat, sich gegen die Schwerkraft zu behaupten. Die Gravitation gewinnt die Oberhand über alle Druckkräfte, die sich ihr entgegenstemmen können – sei es der thermonukleare Druck (Strahlung) im Inneren des Sterns, die abstoßende Kraft zwischen den positiven Ladungen im Inneren der Atomkerne oder der Druck eines Gases entarteter Elektronen oder Neutronen (Entartungsdruck). Der Stern stürzt unter der Gewalt seiner eigenen Schwerkraft zusammen, und die riesige Menge verdichtet sich auf einen winzigen Punkt mit praktisch unendlich hoher Dichte und Temperatur. Dieser unendlich kleine Raum besitzt so viel Anziehungskraft, dass er alle Materie aus der Umgebung aufsaugt. Sogar Licht kann seinem Gravitationsfeld nicht entkommen. Das Objekt wird unsichtbar, nach außen hin also schwarz: Daher der Name „Schwarzes Loch„. Indiz für seine Existenz ist sein Schwerkrafteinfluss auf die Umgebung.

Die einfallende Materie – interstellares Gas und Staub, Teile eines eng benachbarten Sterns, ja ganzer Sterne – sammelt sich am sog. Ereignishorizont. Er legt eine „Struktur in der Raumzeit“ fest, einen Horizont, der unausweichlich das in sich geschlossene Universum des Schwarzen Loches vom umgebenden Raum abtrennt. Je näher man diesem kommt, umso mehr ist die Raumzeit gekrümmt. Unterschreitet man diesen Rand, so schließt sich der umgebende Raum und es gibt kein Entkommen mehr. Keinerlei Information vermag über ein Ereignis im Inneren dieses Bereichs zu künden, daher auch der Begriff „Ereignishorizont“. Er bestimmt die Größe des Schwarzen Lochs.

Sichtbar ist der Ereignishorizont durch die typische Akkretionsscheibe, eine große, teils flache, teils sich von innen nach außen stark auffächernde Scheibe, die mit nahezu Lichtgeschwindigkeit um den Massegiganten rotiert. Hier sammelt sich die aus dem Umfeld angezogene Materie und leuchtet zum letzten Mal intensiv auf, bevor sie im Schwarzen Loch verschwindet. Mit zunehmender Dichte heizt sich der Mahlstrom immer weiter bis auf Temperaturen von Millionen und Milliarden Grad auf. Vor allem der Innenbereich der Akkretionsscheibe, der am dichtesten und damit am heißesten ist, emittiert energiereiche Ultraviolett-, Röntgen- und Gammastrahlung.

Auch Jets – lange, hochverdichtete Materiestrahlen, die intensive elektromagnetische Strahlung im Radiofrequenzbereich aussenden – sprechen für die Anwesenheit von Schwarzen Löchern. Diese gerichteten, eng begrenzten Teilchenstrahlen aus energiereichen, oft fast lichtschnellen Elektronen, Protonen und Positronen, entstehen entlang der Rotations- oder Magnetfeldachse der Akkretionsscheiben und rasen mit annähernd Lichtgeschwindigkeit Tausende bis Millionen von Lichtjahren weit ins Universum, wo sie mit Gas und Staub interagieren. Sie bleiben über riesige Entfernungen sichtbar.

Nach der Allgemeinen Relativitätstheorie wird ein klassisches Schwarzes Loch durch drei Größen vollständig definiert: Masse, Drehimpuls und elektrische Ladung. Die Masse gibt an, wie „schwer“ das Schwarze Loch ist, und der Drehimpuls, wie schnell es sich um seine Achse dreht. Die elektrische Ladung ist in der Regel gleich null, da sich positive und negative Ladungen ausgleichen. Kein anderes Objekt im Universum lässt sich mit so wenig Information vollständig beschreiben. Mit der einfallenden Materie nimmt die Masse eines Schwarzen Loches und damit die Stärke seines Gravitationsfeldes immer weiter zu.

Was sich im Inneren des Objekts genau abspielt, wissen wir allerdings nicht. Schwarze Löcher sind zwar die am genauesten erforschten theoretischen Gebilde der Menschheit, aber bis heute noch nicht vollständig verstanden. Dazu bedarf es einer Theorie der Quantengravitation, die auch Raum und Zeit quantenphysikalisch beschreibt.

Typen Schwarzer Löcher

Schwarze Löcher scheint es massenhaft zu geben. Sie haben zwischen einigen wenigen und mehr als einer Milliarde Sonnenmassen, und ihre Durchmesser reichen von ein paar bis zu vielen Millionen Kilometern. Die Astronomen unterscheiden heute drei Klassen nach ihrer Masse: -Stellare Schwarze Löcher mit rund 5 bis 15 (maximal 20) Sonnenmassen, -Mittelgroße Schwarze Löcher mit Tausenden von Sonnenmassen, die im Zentrum von Kugelsternhaufen entdeckt wurden, -Supermassereiche Schwarze Löcher mit Millionen bis 100 Milliarden Sonnenmassen, die im Zentrum vieler Galaxien (auch der Milchstraße) sitzen.

Stellare Schwarze Löcher bilden sich, wenn ausgebrannte massereiche Riesensterne in sich zusammenstürzen. Dabei explodieren die äußeren Schichten des Sterns meist als Supernova, und der übrig gebliebene Kern von mehr als 3,2 Sonnenmassen kollabiert zum Schwarzen Loch. Stellare Schwarze Löcher können sich auch bilden, wenn ein anderes kompaktes Objekt (wie z. B. ein Neutronenstern) aus seiner Umgebung so viel Materie anzieht, dass es den Grenzwert von 3,2 Sonnenmassen überschreitet. Schließlich können sie auch das Ergebnis einer Karambolage und Verschmelzung zweier Neutronensterne sein. (Das ist allerdings der seltenste Fall!)

Stellare Schwarze Löcher kommen millionenfach in jeder größeren Galaxie vor. Sie bleiben aber überwiegend unbeobachtbar, wenn sie nicht gerade große Gasmassen aufheizen und verschlingen. In der Milchstraße gibt es, grob gerechnet, rund 100 Millionen stellare Schwarze Löcher. Doch man hat erst wenige Dutzend davon entdeckt, weil die meisten inaktiv sind und sich daher nicht durch einen strahlenden Ring aus einstürzender Materie verraten. Möglicherweise wachsen die stellaren Schwarzen Löcher im Laufe vieler Millionen oder Milliarden Jahre zu mittelgroßen heran, indem sie viel Materie (Gas, Staub und ganze Sterne) schlucken. Diese können auch aus der Verschmelzung stellarer Schwarzer Löcher hervorgehen. Mittelgroße Schwarze Löcher sind im gegenwärtigen Universum selten. Durch Verschmelzungen sind wohl die meisten längst in den supermassereichen Exemplaren in den Zentren der Galaxien aufgegangen.

Entstehung massereicher Schwarzer Löcher

Supermassereiche Schwarze Löcher sind die Standardausrüstung großer Galaxien. Als Quasare bilden sie die ultrahellen Zentren in den Urgalaxien – die fernsten noch erkennbaren Objekte im Universum. Da diese auf den ersten Blick fast wie normale Sterne aussehen, nannte man sie „quasistellare„, also sternähnliche Radioquellen – kurz: Quasar. Ihre enorme Strahlungsleistung, die aus einem Raumvolumen kommt, das nicht größer ist als unser Sonnensystem ist, übertrifft häufig die von tausend normalen Galaxien.

Verkleinert man eine Galaxie z. B. auf die Größe Berlins, dann würde der Quasar im Zentrum ein millimetergroßes Körnchen auf dem Brandenburger Tor sein und tausendmal heller strahlen als alle Straßenlampen, Leuchtreklamen und Wohnungslichter der Stadt zusammen.

2017 wurde ein Schwarzes Loch von 800 Millionen Sonnenmassen und fast dem Durchmesser der Uranusbahn entdeckt, das bereits existierte, als das Universum erst 690 Millionen Jahre alt war. Eine derart schnelle Entstehung von Urgalaxie und supermassereichem Schwarzen Loch ist verblüffend und stellt die Forscher noch vor ein Rätsel. Die ursprüngliche Idee (Sternkollapsmodell) geht davon aus, dass die ältesten großen Schwarzen Löcher die Überreste explodierter extrem massereicher Sterne sind, welche einige Millionen Jahre nach dem Urknall zu einem Schwarzen Loch kollabierten und sich anschließend unter geeigneten Bedingungen zu einem Quasar auswuchsen. Dazu musste das Schwarze Loch nur kontinuierlich gefüttert werden.

Aber auch durch Verschmelzung miteinander könnten Schwarze Löcher weiter zu supermassereichen Exemplaren herangewachsen sein – und zwar viel schneller. Bei der Kollision von Galaxien verschmelzen auch die zentralen Schwarzen Löcher miteinander und fressen einen Teil der einströmenden Gaswolken. Trotzdem bleibt es rätselhaft, wie die Quasare schnell genug ihre enorme Masse erhalten haben. Eine neuere Idee (Gaswolkenkollapsmodell) geht davon aus, dass große Gasscheiben direkt zu Schwarzen Löchern mittlerer Masse kollabierten und durch einfallendes Gas weiter anwuchsen.

Die meisten Beobachtungsdaten und die stärksten theoretischen Argumente sprechen dafür, dass Starbursts (Gebiete mit hoher Sternentstehungsrate) die Bildung extrem massereicher Schwarzer Löcher nach sich gezogen haben. Die aus ihnen hervorgegangenen massereichen Sterne kollabierten zu stellaren Schwarzen Löchern, die anschließend zu solchen mittlerer Masse verschmolzen und sich danach allmählich zum Kern der Galaxie bewegten. Dort vereinten sie sich über die Jahrmillionen hinweg zu einem extrem massereichen Schwarzen Loch.

Noch ist die Kontroverse nicht vollends entschieden, zumal auch kompliziertere Entwicklungsverläufe denkbar sind.

Einfluss der supermassereichen Schwarzen Löcher

Mit der Zeit wuchsen supermassereiche Schwarze Löcher in den Zentren fast aller Galaxien heran. Sie können aufgrund der enormen Massekonzentration und den damit verbundenen extremen Gravitationsfeldern eine ganz Galaxie beherrschen und Entwicklung und Erscheinungsbild ihrer Heimatgalaxie kreativ prägen.

Wenn supermassereiche Schwarze Löcher Materie verschlingen, schleudern sie eine Unmenge an Energie zurück – bis in die Außenbezirke der Galaxie. Dabei gibt es zwei Arten des Energietransports: Beim radiativen Energietransport strömen Teilchen und Strahlen in alle Richtungen. Er dominierte in der frühen Jugend der Galaxien, als sich das Schwarze Loch mit der höchstmöglichen Rate Materie einverleibte. Der kinetische Energietransport, der später dominierte, erfolgt hingegen gebündelt durch Jets, welche Energie sogar in Gaswolken außerhalb ihrer Heimatgalaxie feuern.

Zwischen vielen Galaxien und ihren zentralen Schwarzen Löchern besteht eine enge, dynamische Beziehung. So können aktive Schwarze Löcher die Temperatur und die Verteilung des interstellaren Gases beeinflussen und bewirken, dass mehr Sterne geboren werden. Besonders in jungen Galaxien korreliert die enorme Sternentstehungsrate mit den Aktivitäten des Schwarzen Loches. Ist die Aktivität aber besonders groß, wird das aufgeheizte und durcheinandergewirbelte Gas in der Galaxie durch den Strahlungsdruck nach außen getrieben und die Sternentstehungsrate gebremst. Damit wird auch der Nachschub ins Schwarze Loch gemindert und dessen weiteres Wachstum begrenzt. Allerdings sind noch viele Details dieser Rückkopplung unklar.

Beobachtungen belegen, dass das Universum einige (etwa drei bis vier) Milliarden Jahre nach dem Urknall eine Ära mit einer ungewöhnlich hohen Quasar-Aktivität durchlief. Ursache waren die im jungen Weltall noch häufigen Zusammenstöße und Verschmelzungen von Galaxien. Mit der Zeit verschob sich aber das Kräfteverhältnis zwischen anziehender Materie und Dunkler Energie, bis die zeitweise Verlangsamung der Expansion des Universums vor etwa sieben Milliarden Jahren in eine Beschleunigung umschlug. Die Dunkle Energie wurde zur dominierenden Kraft im Kosmos. Der Raum expandierte und großräumige Strukturen, in denen sich die Galaxien befanden, wurden auseinander gezerrt, Verschmelzungen durch Kollisionen seltener.

Als es kaum noch zu Galaxien-Zusammenstößen kam, ließ der Nachschub für die zentralen Schwarzen Löcher nach. Immer häufiger kam es nur noch zu Vorbeiflügen, bei denen sich die Galaxien zwar auch beeinflussen, aber weniger Materie ins Zentrum gelangt. Vom Nachschub weitgehend abgeschnitten, verlangsamte sich das Wachstum der massereichen Schwarzen Löcher in den Galaxienzentren dramatisch. Ihre Strahlung kam rasch zum Erliegen und sie fielen gewissermaßen in Schlaf. So entstanden die relativ lichtschwachen Galaxien mit einem auf Diät gesetzten Massemonster im Zentrum, die heute das Weltall bevölkern. Helle Quasare sind daher im heutigen Universum selten.

Derzeit sind nur noch 0,001% aller Galaxien aktiv – drei Milliarden Jahre nach dem Urknall waren es noch tausendmal mehr. Ein inaktives Schwarzen Loch im Zentrum macht sich nur indirekt über seine gewaltige Schwerkraft bemerkbar, indem es die Bewegung naher Sterne und Gaswolken beeinflusst. Es kann wiedererweckt werden, wenn interstellares Gas abkühlt und wieder mehr davon ins Zentrum strömt. Dann nimmt die radiative und vor allem die kinetische Energieabgabe des Schwarzen Loches zu, was wiederum das Gas in der Umgebung anheizt und die Sternbildung neu entfachen kann.

Bei Elliptischen Galaxien, die quasi nur Bulge sind und die massereichsten Schwarzen Löcher enthalten, ist allerdings die Entwicklung bereits in der Endphase angelangt. Spiralgalaxien wie unsere Milchstraße besitzen in ihren Spiralarmen außerhalb des Bulge hingegen noch Reserven an kühlem, dichtem Gas und können so neue Sterne bilden. Vor allem in einer großen Zahl von Galaxien mittlerer und kleiner Größe (überwiegend kleinen Spiralgalaxien und irregulären Galaxien) lassen sich noch die Entstehung neuer Sterne und der Einfall von Materie in die zentralen Schwarzen Löcher beobachten.

Zentrum der Milchstraße

Unser Sonnensystem befindet sich in einer Schicht interstellarer Materie, deren Staub fast jede optische Strahlung, die aus dem Zentrum der Milchstraße kommen könnte, blockiert. Zudem erschwert uns die Materie unmittelbar um das Schwarze Loch selbst die Sicht, so dass uns ein direkter Blick in den Zentralbereich praktisch verwehrt ist. Nur ein Billionstel des von dort abgestrahlten sichtbaren Lichts erreicht uns. Aber schon im infraroten Spektralbereich (Wärmestrahlung) und für Radiowellen ist der interstellare Staub viel durchlässiger, d. h., mit Radio-und Infrarot-Teleskopen können wir durch ihn „hindurchsehen“.

Die Position der kompakten Radioquelle Sagittarius A* (sprich „Sagittarius A Stern“) definiert das massereiche Schwarze Loch im Zentrum unserer Milchstraße, 26 700 Lichtjahre von unserem Sonnensystem entfernt. Nach neuesten Berechnungen ist es rund 4,1 Millionen Sonnenmassen „schwer“ und hat einen Durchmesser von 24 Millionen Kilometern (etwa 21% des Bahndurchmessers des Merkur um die Sonne). Das Himmelsobjekt gehört damit zu den eher kleinen seiner Art; in weiter entfernten Galaxien können zentrale Schwarze Löcher mehr als tausendmal massereicher sein.

Zwar reißt die Massedichte des Schwarzen Lochs einen tiefen Trichter in den Raum, aber der unmittelbare gravitative Einfluss kann sich nur über die innersten Regionen der Galaxis erstrecken. Nicht einmal 1% der Materie, die von der Schwerkraft des Schwarzen Loches eingefangen wird, erreicht letztlich den Ereignishorizont. Der Rest verlässt diesen Einzugsbereich wieder. Die Leuchtkraft des Schwarzen Lochs ist gerade einmal hundertmal stärker als die unserer Sonne und liegt damit weit unter seiner maximalen Effizienz. Das Objekt scheint sich also in einem Aktivitätsminimum zu befinden; die Astronomen sprechen von einem „verhungernden Schwarzen Loch“.

Das war nicht immer so: Vor 3,5 Milliarden Jahren veranstaltete das zentrale Schwarze Loch offenbar ein gewaltiges Feuerwerk, bei dem es innerhalb relativ kurzer Zeit 100 000- bis 1 000 000-mal so viel Energie freisetzte wie die Sonne in ihrer gesamten Lebenszeit. (Und noch vor 60 oder 70 Jahren scheint es eine regelrechte Fressorgie gefeiert zu haben. Die Ursache waren höchstwahrscheinlich sich verdrillende und neu verknüpfende Magnetfelder in der das Schwarze Loch umkreisenden Materie.)

Einen großen Anteil an der Gesamtleuchtkraft des Milchstraßenzentrums hat die Strahlung von etwa 25 massereichen Sternen, die von einem Starburst vor rund zehn bis einigen Dutzend Millionen Jahren übrig geblieben sind. Ihre Atmosphären speisen die gewaltige Akkretionsscheibe (mit einem sehr dünnem, 20 Millionen Grad heißen, ionisierten Gas), die alle 50 Minuten mit einem Drittel der Lichtgeschwindigkeit einmal um das zentrale Schwarze Loch rast.

In größerer Distanz drängen sich auf engem Raum – milliardenmal dichter als unsere galaktische Region – Millionen Sterne zusammen und umkreisen den Kern unserer Milchstraße auf engen Bahnen. In weniger als einem Promille des Gesamtvolumens der galaktischen Scheibe finden sich hier 10% der Masse von Sternen und interstellarer Materie der gesamten Milchstraße. Nur ein Schwarzes Loch ist in der Lage, auf so kleinem Raum (kleiner als der Abstand Erde-Sonne) soviel Masse zu vereinen. In der Umgebung des Schwarzen Loches (weniger als 100 Lichtjahre) entstehen auch noch immer massereiche Sterne, obwohl dieser Bereich der Milchstraße sehr alt ist. (Offenbar sind Schwarze Löcher also nicht nur Todesengel, sondern auch Geburtshelfer.) Diese jungen Sterne tragen ihrerseits zur Gesamtleuchtkraft unseres Sternsystems bei.

Alle nahegelegenen Sterne werden auf Umlaufbahnen gezwungen, auf der sie sich schneller bewegen, als ihnen nach Keplers Gesetzen erlaubt ist. Sie zapfen die Rotationsenergie des Schwarzen Lochs an und erfahren dadurch eine immense Beschleunigung: Mit mehreren Prozent der Lichtgeschwindigkeit rasen sie um das Schwarze Loch herum. Einige dieser S-Sterne nähern sich dem Schwerkraftgiganten bei ihren schnellen Umläufen stark an. Den engsten und kürzesten Orbit (Umlauf nur 4,02 Jahre) hat S4716, der dabei Geschwindigkeiten von bis zu 8000 km/s erreicht. Vermutet wird, dass dieser Stern woanders entstanden ist und durch äußere Einflüsse auf seine heutige Bahn gedrängt wurde.

In der Region um das Schwarze Loch herum wurden auch über 100 Wolken aus atomarem Wasserstoff entdeckt, einige Dutzend bis über 100 Lichtjahre groß. Diese Gebilde bewegen sich mit bis zu 400 km/s in einer Scheibe, die leicht gegen die galaktische Ebene geneigt ist und etwa 6500 Lichtjahre in beiden Richtungen in den intergalaktischen Raum ragt. Eine größere Menge an ionisiertem Wasserstoff-Gas im Zentrum ist typisch für sogenannte LINER-Galaxien (Liner = kurz für „Low-Ionisation Nuclear Emission-Line-Region„), zu denen rund ein Drittel der Galaxien in unserer kosmischen Nachbarschaft gehören. Sie gelten als Übergangstyp zwischen Galaxien mit einem inaktiven Schwarzen Loch im Zentralbereich und solchen mit einem Materie verschlingenden Kern. Nach den vorliegenden Daten könnte die Milchstraße zu den LINER-Galaxien gehören.

Im Zentrum der Milchstraße sitzen auch zwei gigantische, etwa 1400 Lichtjahre große Blasen, die nur im Gammastrahlenbereich sichtbar sind. Sie bestehen aus heißen, sich schnell bewegenden Gasen und zwei kleineren, schornsteinartigen Schloten aus heißem Plasma, die sich wie die Wasserstoffwolken oberhalb und unterhalb der Milchstraße ausdehnen – jedoch über 50 000 Lichtjahre. Ihr physikalischer Ursprung sowie der Zusammenhang mit den Wasserstoffwolken sind bis heute rätselhaft. Der galaktische Ausfluss könnte von Sternexplosionen im Zentrum stammen – oder von Trümmern der Sterne, die vom Schwarzen Loch zerrissen wurden.

Um das supermassereiche Schwarze Loch kreisen offenbar zahlreiche kleinere Exemplare. Bei diesen stellaren Schwarzen Löchern handelt es sich wahrscheinlich um die Überbleibsel großer Sterne, die sämtlichen Brennstoff aufgebraucht haben und dann unter ihrer eigenen Schwerkraft kollabiert sind. Insgesamt gehen die Astrophysiker von mindestens 300 bis 500 stellaren Schwarzen Löchern aus, die in einem Abstand von 3,3 oder weniger Lichtjahren um Sagittarius A* kreisen, eventuell könnten es aber auch mehr als 10 000 sein. Da sie allein durchs All treiben, sind sie für Teleskope nicht sichtbar.

Wenn sich die Entdeckung des Japaners Tomoharu Oka (Yokohama) bestätigt, gibt es auch ein mittelschweres Schwarzes Loch (mit rund 100 000 Sonnenmassen) im Zentralbereich unseres Milchstraßensystems. Oka und sein Team glauben, dass es der ehemalige Kern einer Zwerggalaxie ist, die von unserer Milchstraße einst verschluckt wurde und deren Sterne durch die Gezeitenwirkung abgestreift wurden. Seine Lage im Zentrum ist ein Hinweis auf den galaktischen Kannibalismus unseres Sternsystems.

Ein Ensemble von Materiewolken nähert sich langsam dem Zentrum unseres Milchstraßensystems. Irgendwann wird dieses Material beim Schwarzen Loch ankommen und dann auch dort hineinfallen. Nach Abschätzungen wird das in einigen zehn Millionen Jahren so weit sein. Dann ist eine heftige Aktivitätsperiode zu erwarten: Das Zentrum unserer Milchstraße wird für geraume Zeit wieder als aktiver galaktischer Kern erstrahlen.

REM

Säugetier Mensch

In jeder Zelle unseres Körpers tragen wir das Erbe unserer stammesgeschichtlichen Vergangenheit. Unsere biologische Ausstattung ist vor allem die von mit einer Plazenta ausgestatteten Säugetieren. Als Primaten gehören wir zu einer sehr artenreichen Säugergruppe, zu der man heute Halbaffen, (echte) Affen, Menschenaffen und Menschen zählt. Den Namen Primaten – die „an höchster Stelle stehenden“, die „Vorrangigen“, die „Herrentiere“ – erhielten sie, dem Menschen zu Ehren, von dem Systematiker Carl von Linne.

Die Arten der Säugetiere haben zwar ein unterschiedliches Aussehen, ähneln sich aber auffallend sowohl in der Zahl ihrer grob um die 20 000 Gene, als auch teilweise in deren Anordnung im Genom. Unterschiede resultieren vor allem aus Mutationen in Genschaltern (Enhancern), welche die Gene regulieren, das heißt: steuern, wann und wo Gene im Körper aktiv werden. Dadurch konnten einzelne Körpermerkmale, aber auch ganze Körperteile grundlegend umgestaltet werden, ohne dass sich die entsprechenden Gene selbst verändern.

Die Vorfahren der Säugetiere

Vor 365 Millionen Jahren verließ eine Abstammungslinie der Knochenfische das Wasser und es entstanden die ersten vierfüßigen Landwirbeltiere. Von einer Gruppe lungenatmender Amphibien, den Labyrinthodontiern, stammen die ersten Reptilien, die Cotylosaurier, ab, die vor 340 Millionen Jahren im Oberkarbon auftraten. Diese spalteten sich in zwei große Linien auf: Die Sauropsiden, aus denen die Saurier und alle rezenten Reptilien und Vögel hervorgingen, und die Synapsiden, aus denen sich einige fossile Reptiliengruppen sowie fossile wie rezente Säugetiere entwickelten.

Am Ende des Erdzeitalters Perm, vor etwa 252 Millionen Jahren, ereignete sich das schlimmste Massenaussterben der Geschichte, als Megavulkane im Bereich des heutigen Sibirien Millionen Jahre lang Lava und Kohlenstoffdioxid ausspuckten. Sie verursachten dadurch eine globale Hitzewelle, der bis zu 95% aller Spezies zum Opfer fielen. Auch die meisten Amphibien und Reptilien, die bis dahin die Tierwelt beherrscht hatten, wurden ausgelöscht. In den frei gewordenen Räumen entwickelten sich viele noch heute bedeutende Tiergruppen: Frösche, Echsen, Schildkröten, Krokodile, Dinosaurier und die Vorläufer der echten Säugetiere.

Unter den vielfältigen Arten, die Eier legten, befand sich auch ein unauffälliges kleines Tier von der Größe eines Hundes, Cynognathus (245 bis 237 Millionen Jahre v. h.). Anders als die herkömmlichen Reptilien hatte dieser Vierbeiner schon ein schwach ausgeprägtes Haarkleid und nur einen einzigen durchgehenden Unterkieferknochen (und nicht mehrere, wie die anderen Reptilien). Der Waldbewohner gilt als Bindeglied zwischen Echsen und Säugern.

Vor etwa 232 Millionen Jahren begann auf der Erde nach Millionen Jahren trockenen Klimas eine warme, regenreiche Zeit, in der sich die frühen Dinosaurier zu zahlreichen verschiedenen Spezies diversifizierten. Bei den Säugerartigen (Protosäuger), meist kleine Pflanzenfresser, erhöhte sich plötzlich die Anzahl der typischen Säugereigenschaften. Sie besaßen zwar noch Reptilienmerkmale, wiesen daneben aber schon etwa im Schädelbau und der Stellung der Gliedmaßen (unter dem Köper) charakteristische Merkmale für Säuger auf. Auch trugen sie bereits ein Fell und konnten schon kräftiger und präziser zubeißen und kauen als ihre Vorgänger. Möglicherweise entwickelten sie sogar schon scharfe Sinne und das Säugen ihrer Jungen.

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Noch gibt es allerdings Unsicherheiten, was den zeitlichen Ablauf der Evolution der säugertypischen Schlüsselmerkmale angeht. Älteste Hinweise auf das typische Säugergebiss sind wohl 220 Millionen Jahre alt. Während Reptilien ein relativ einfaches Gebiss besitzen, entwickelten sich bei Säugern nach und nach unterschiedliche Formen und Funktionen. (Die ersten eindeutigen Zähne tauchten bei den Kieferfischen auf. Sie stammen von spezialisierten Fischschuppen ab, die während der Evolution nach und nach zur Mundöffnung wanderten und immer härter wurden.)

Ein Überschuss an Eiweiß und Fett in der Ernährung ermöglichte es den Säugetier-Ahnen, die Eier im Körper zu entwickeln und Milchdrüsen auszubilden. Durch das Trinken von Muttermilch erhielten die Jungtiere eine besonders gehaltvolle Nahrung, was zu einem intensiveren Stoffwechsel führte. Die Säugetierjungen wuchsen so rascher heran und überlebten eher. Zudem förderte die längere Zeit in der Obhut der Mutter bzw. Eltern das Imitationslernen, was zur Entwicklung eines größeren Gehirns beitrug. Auch Hirnbereiche für Riechen und Hören sowie für Berührungsreize von der Haut und den Haaren vergrößerten sich. Zudem entwickelte sich ein komplexeres Verhalten als bei ähnlich großen Reptilien – obwohl der Unterschied zu den modernen Säugern nochmals beträchtlich war.

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Spätestens irgendwann gegen Ende der Trias, vor gut 200 Millionen Jahren, tauchten die ersten Tiere mit typischem Säuger-Lebensstil auf. Dann folgte die nächste geologische Katastrophe, als der Superkontinent Pangäa zerriss und Vulkane ausbrachen, deren Eruptionen die Atmosphäre vergifteten und Ökosysteme zusammenbrechen ließen. Möglicherweise überstanden die Säugerartigen diese Zeit nur, weil sie dank ihres größeren Gehirns und erhöhten Stoffwechsels, der geschärften Sinne und eines gesteigerten motorischen Geschicks auch im Dunkeln und in kühlen Nächten aktiv sein konnten.

Auch etliche Dinosaurier kamen bei dem Massensterben davon. Die meisten von ihnen waren warmblütig, flink, gefiedert und hatten hohle Knochen. In mancherlei Hinsicht – etwa bei der Atmung – waren sie den Säuger-Ahnen überlegen, wuchsen in der Folgezeit zu Riesen und grenzten die Vorfahren der Säuger aus den ökologischen Nischen der Großtiere aus. Diese konnten dagegen mit ihrer geringen Körpergröße Nischen erobern, die den größeren Sauriern verschlossen blieben. Dort machten sie eine eigene rasche Entwicklung durch.

Die frühen Säugetiere

Vor mindestens 178 Millionen Jahren traten im mittleren Jura im Schatten der Dinosaurier die ersten echten Säuger (Mammalia) in Erscheinung. Ihre geringe Körpergröße war letztlich entscheidend für die Entwicklung ihrer Warmblütigkeit. Fehlt die Sonne, dann ist es kalt, und kleine Körper kühlen schneller aus. Mit der inneren Heizung aber konnten die Säuger vor allem nachts und bei niedrigen Temperaturen beweglich und aktiv bleiben. Dazu hatten sie ja schon eine neuartige Wärmeisolation hervorgebracht: das Fell. So erleichterte die Warmblütigkeit den kleinen Säugetieren Lebensweisen, die den wechselwarmen Reptilien verschlossen blieben, insbesondere Nachtaktivität und das Leben in Gängen unter der Erdoberfläche.

Um ihre Körpertemperatur stabil zu halten, benötigten sie sehr viel Energie. Das wiederum erforderte eine weitere Verbesserung in der Nutzung der Nährstoffe. Durch Kauen und Herunterschlucken der Nahrung in kleinen Stücken war es gelungen, mehr Kalorien herauszuholen. (Schlangen und Alligatoren etwa verschlingen dagegen ihre Beute als Ganzes.) So stand den ersten echten Säugetieren mehr Energie zur Verfügung, als es für ihre Bewegungen nötig gewesen wäre, so dass sie einen großen Teil davon zur Aufrechterhaltung der Körperwärme verwenden konnten.

Für eine verbesserte Kauleistung müssen die Zähne korrekt funktionieren, d. h. die gegenüberliegenden Oberflächen müssen auf Millimeterbruchteile genau zusammenpassen. Sie schleifen sich dann ein und können nicht beliebig gewechselt werden. Darin liegt der Grund, warum bei den meisten Säugetieren – und auch bei uns – im Gegensatz zu Fischen und Reptilien keine neuen Zähne (außer beim Milchgebiss in der Kindheit) nachwachsen, wenn die alten abgenutzt oder zerbrochen sind.

Die nächtliche Lebensweise führte zur weiteren Verfeinerung des Geruchs- und Tastsinns und zur Verbesserung des Gehörs. Dadurch konnten die frühen Säuger ihre Lebensräume besser nutzen und beispielsweise Beutetiere besser orten. Von den zwei Kiefergelenken, die ihre Vorfahren noch besaßen, wurde eines aufgegeben. Die entsprechenden Kiefergelenksknochen wurden zu Gehörknöchelchen – eine Verlagerung, wie sie auch beim Menschenembryo noch zu beobachten ist. Im weiteren Verlauf der Evolution wurde der empfindliche Hörapparat im Innenohr in eine feste Knochenhöhle eingebettet und so von lauten Kaugeräuschen einigermaßen abgeschirmt, wodurch sich seine Leistungsfähigkeit steigerte.

Die Umbildung des Kiefergelenks zu Gehörknöchelchen und die Entwicklung von Ohrmuscheln erleichterten auch die Kommunikation und waren wichtige Voraussetzungen für die Erschließung einer Nahrungsquelle, die gerade in der Zeit der beginnenden Säugerevolution im Jura anfing, reicher zu fließen: Insekten. Insgesamt kristallisierte sich zu der Zeit schon ein evolutionäres Leitmotiv der Säugetiere und ein Schlüssel zu ihrem Erfolg heraus: Sie begegneten veränderten Bedingungen, indem sie unterschiedlichste Lebensweisen ausbildeten: Anpassung durch Hervorbringung von Vielfalt.

Die Säuger der Kreidezeit

Viele Linien der diversen Säuger des Jura sind inzwischen ausgestorben. Sie gediehen noch in der Kreide, während die Vorfahren der modernen Säuger bereits ihre eigenen Wege gingen. Diese hatten am Anfang der Kreide die wesentlichen Merkmale endgültig ausgebildet. Während der ersten 30 Millionen Jahre der Kreide bestimmten aber noch etwas urtümlichere Säuger (Triconodonten und Symmetrodonten) die Szene.

Mitten in der Kreide waren die bedecktsamigen Pflanzen entstanden, die Angiospermen – oft auch, nicht ganz korrekt, Blütenpflanzen genannt -, und breiteten sich weltweit aus. Sie boten den damaligen Säugertieren nie dagewesene Futterquellen: Wohlschmeckende Früchte, aber nicht zuletzt auch eine Fülle angelockter Insekten. (Dinosaurier sind nie eine solche enge Verbindung mit Früchten eingegangen wie die Säuger.)

In dieser Zeit blühte die Säuger-Gruppe der Multituberculata („Vielhöckrige“) auf und erschlossen sich neben Knollen, Wurzeln und anderen Pflanzenteilen nun auch die neue Nahrung: Früchte und Samen. Sie bildeten viele verschiedene und zunehmend größere Arten aus. Mit ihren diversen Lebensformen gelten sie als erfolgreichste Säugergruppe der Kreidezeit. (Sie wurden im Tertiär aber von Plazentatieren, den Nagern, verdrängt und starben vor 34 Millionen Jahren aus – lange nach dem Ende der Dinosaurier.)

Auf den südlichen Kontinenten hatten sich die Theria (nach griechisch: Thär/Thärion = „wildes, behaartes Tier“) von den noch eierlegenden Kloakentieren, deren genaue Herkunft im Dunkeln liegt, getrennt und viele insektenfressende Arten hervorgebracht. Ihre Zähne waren besonders vielseitig und wandlungsfähig und bestens dafür geeignet, sich an die neue Nahrungspalette anzupassen. Die Theria begannen sich schon bald in diverse Richtungen auseinanderzuentwickeln und spalteten sich in die Vorläufer der Plazentatiere (höhere Säugetiere; Eutheria), die einen Mutterkuchen (eine Plazenta) zur Ernährung des heranwachsenden Embryos ausbilden, und die Beuteltiere (Metatheria), zu denen heute die meisten vierbeinigen Warmblüter Australiens gehören, auf. Die Exemplare beider Gruppen waren in der ganzen Kreide allerdings noch kleinwüchsig (meist weniger als 100 Gramm schwer) und wenig zahlreich. Sie lebten am Waldboden, sozusagen unter den Füßen von gefiederten Dinosauriern, und fügten sich noch in die Nahrungsnetze ein, an deren Spitze die gigantischen Raubsaurier standen.

Die ersten Plazentatiere, zu denen auch der Mensch gehört, traten vor mindestens 120 Millionen Jahren auf, erblühten nach genetischen Daten allerdings erst so richtig vor 100 bis 75 Millionen Jahren. Womöglich hat in dieser Zeit bereits die Aufspaltung in die modernen Säugetier-Ordnungen stattgefunden. Eine Radiation, eine auffällige morphologische Differenzierung in Familien innerhalb der Ordnungen, vollzog sich aber erst (wie bei den Vögeln) nach dem Aussterben der Dinosaurier, also im Tertiär. Frühe Vertreter der Beuteltiere sowie die Multituberculata bildeten bis zum dramatischen Ende der Kreidezeit die überwiegende Mehrheit der Säugetiere.

So wuselten also während der Jura- und Kreidezeit (vor 200 bis 66 Millionen Jahren) zwischen den Beinen der Dinosaurier eine Fülle von bestenfalls dachsgroßen Säugetieren herum, die Luft, Wasser und Erdreich als Lebensraum eroberten und sich krabbelnd, kletternd, grabend, schwimmend oder gleitend fortbewegten. Sie hatten bereits fast alle bedeutenden Lebensweisen hervorgebracht, die wir von heutigen kleinen Säugern kennen, führten aber noch ein eher langsames Leben.

Ohne den katastrophalen Einschlag eines Himmelskörpers vor rund 66 Millionen Jahren würden die Dinosaurier womöglich heute noch die Erde beherrschen und den Säugetieren weiterhin nur eine Nebenrolle erlauben. Die hohe Strahlungsdosis und die langfristige Klimaänderung am Ende des Mesozoikums (Erdmittelalters) traf die riesigen Saurier tödlich, während die kleinen Säugetiere in Höhlen Schutz fanden. Mit ihren winzigen Körpern, ihrer flexiblen Ernährung sowie mit ihrer vermutlich hohen Wachstums- und Vermehrungsrate konnten diese das Schlimmste überstehen Außerdem zahlte sich aus, dass sie warmblütig waren und ihren Nachwuchs lebendgebaren, so dass die Kleinen so lange gesäugt werden konnten, bis sie alleine klar kamen.

Viele der größeren Säugetiere gingen allerdings gleichzeitig mit den Dinosauriern zugrunde, ebenso Arten mit spezialisierter Ernährungsweise. Insgesamt überstanden gerade einmal 7% der Säugetierarten die Katastrophe. Fast wären auch die Beuteltiere und ihre Verwandten ausgestorben, aber einige Arten von ihnen konnten überleben.

Aufstieg der Säugetiere

Nach dem Aussterben der Dinosaurier war jedenfalls der Weg frei für den Aufstieg der Säugetiere (vor allem der Plazentatiere) und der Vögel. Während die Vögel und auch die überlebenden Schuppentiere ihren Lebensraum weitgehend auf die schon zuvor von ihnen besetzten Nischen begrenzten, erlebten die Plazentatiere einen enormen Aufschwung und vermochten binnen kurzer Zeit – praktisch einigen Jahrtausenden – verwaiste ökologische Nischen zu besetzen und neue Nahrungsnetze aufzubauen. Schon 500 000 Jahre nach dem Ende der Kreide hatten sie im Treibhausklima der ersten Epoche des Tertiärs, im Paläozän (66 bis 56 Millionen Jahre vor heute), unzählige neue, völlig verschiedene Arten hervorgebracht. Die meisten von ihnen waren viel größer und massiger als die kreidezeitlichen Säuger, starben aber nach kurzem Aufschwung wieder aus.

Trotz der vielfältigen Spezialisierung dürften die Säuger des Paläozäns nicht besonders intelligent gewesen sein. Sie hatten sich wohl körperlich so rasch vergrößert, dass ihre Gehirne nicht mithalten konnten. Umfangreiche Gehirne könnten während dieser instabilen Periode, die ständig neue Überlebenschancen bot, wegen ihres hohen Energiebedarfs sogar hinderlich gewesen sein.

Vor etwa 56 Millionen Jahren, als das Eozän begann, wurde es sogar noch wärmer. Innerhalb weniger Jahrtausende, geologisch gesehen ein Wimpernschlag, erwärmte sich die Erde dramatisch – in den höheren Breiten sogar um bis zu 10°C. Niemals danach war es auf der Erde wieder so heiß! Die Arktis war damals völlig eisfrei, Regenwälder konnten plötzlich bis in den hohen Norden vordringen. Subtropischer Wald bedeckte den größten Teil der Landmassen, vor allem Nordamerika, Asien und Afrika.

Es gab eine explosionsartige Vermehrung der Säuger. Nahrung gab es reichlich, wenngleich das Walddickicht zunächst kaum Platz für größere Lebewesen bot. So waren es wiederum kleinere Waldbewohner unter den Säugetieren, die im Schlepptau des Klimawandels zu einem Eroberungszug rund um die Erde ausschwärmten. Tiere mit besseren Sinnesleistungen und erweiterten motorischen Fähigkeiten hatten in den ausbrechenden Konkurrenz- und Verteilungskämpfen die besseren Karten, was einen Selektionsdruck in Richtung Hirnwachstum erzeugte. Besonders Raubtiere und Allesfresser legten an relativer Gehirngröße zu und überflügelten die damaligen Pflanzenfresser.

Die vorher dominierenden primitiven Säugerarten überlebten die gewaltige Wanderungswelle nicht und verschwanden allmählich von der Erde. Die Beuteltiere starben auf den nördlichen Kontinenten aus; einige konnten sich aber nach Südamerika und mit einem anschließenden Sprung über die Antarktis nach Australien retten. Dort überlebten sie und entwickelten sich zu den heutigen Beuteltieren. In Südamerika blieben nur wenige Arten, u. a. die Beutelratten mit den Opossums, von denen zumindest ein Exemplar sich nach der Vereinigung der beiden Amerika auch nach Nordamerika ausbreitete. Kloakentiere wie Schnabeltiere und Ameisenigel fanden Zuflucht in Australien und Neuguinea, wo es heute allerdings nur noch fünf Arten von ihnen gibt.

Die Zukunft gehörte des Plazentatieren. Schon bald, als die Erwärmung nachließ, schwangen sich einige von ihnen durch die Bäume, andere erhoben sich mit ledrigen Flügeln in die Lüfte, und manche tauschten Arme gegen Flossen und wuchsen zu Kolossen des Meeres heran. Zu den Gewinnern des Klimawandels zählten auch die Primaten, die vor etwa 70 Millionen Jahren als kleine, nachtaktive Säuger die Baumwipfel erobert hatten und sich vorwiegend von Insekten ernährten. Der neue Lebensraum hatte bei ihnen eine ganze Reihe wesentlicher anatomischer Veränderungen zur Folge, vor allem im Bereich der Sinnesorgane, der geistigen Fähigkeiten und der Fortbewegungsorgane.

Als jetzt vor 55 Millionen Jahren weltweit riesige Wälder entstanden, führte der dreidimensionale, vielfältige Lebensraum zu einer weiteren Radiation. Neue Arten wurden größer und kräftiger, blieben aber immer auf den Bäumen. So entwickelten sich die Affen (genauer: Halbaffen), die sich in Feuchtnasenaffen (Lemuren, Loris) und Trockennasenaffen (ähnelten damals den heutigen Mausmakis) aufspalteten. Vor etwa 40 Millionen Jahren vollzog sich bei Letzteren der wichtige Schritt vom Nasen- zum Augentier: Die Augen waren immer enger zusammengerückt und ermöglichten binokulares (räumliches) Sehen. Zudem erwarben die Affen eine dritte Zapfensorte für das Farbsehen – jene, die die Unterscheidung von rot und grün ermöglichte -, womit sie im dichten Blattwerk der Bäume die reifen Früchte besser erkennen konnten.

Die ursprünglichen, kleinen Säugetiere hatten zwei der vier Zapfensorten ihrer Vorfahren verloren. Da sie sich tagsüber verkrochen und vorwiegend nachts herauskamen, war komplexeres Farbsehen nicht mehr nötig. Die Augen vieler Säugetiere blieben fortan dichromatisch. Meeressäuger wie Wale und Robben, die ihren Lebensraum vom Land ins Meer verlagerten, verloren sogar noch ihre zweite Zapfenart. Ihre Augen sind monochromatisch, sie sehen die Unterwasserwelt nur in blaugrünen Schattierungen. Reptilien und Vögel allerdings behielten ihre vier Zapfensorten; sie können in der Regel auch im ultravioletten Bereich sehen.

Die Vordergliedmaßen entwickelten sich zur Greifhand. Innerhalb des Merkmalskomplexes Greifhand/räumliches Sehen/Gehirn kam es zu einer positiv rückgekoppelten, sich gegenseitig aufschaukelnden Evolution, bei der auch die Ernährung (Früchte) eine wichtige Rolle spielte. Bei den Echten Affen, die zu den Trockennasenaffen gehören, lag der Gesichtsschädel in der Regel schon unter dem Gehirnschädel. Aus den Krallen hatten sich Finger- und Zehennägel entwickelt. Diese boten auch ein Widerlager für die Fingerkuppen, die zu sensiblen Tastorganen wurden.

Aus den Echten Affen entwickelten sich in Südamerika die Neuwelt- oder Breitnasenaffen, die Baumbewohner blieben, in Afrika und Asien die Altwelt- oder Schmalnasenaffen. Letztere konnten ihre Finger bereits einzeln bewegen und den Daumen aktiv den übrigen Fingern gegenüberstellen. So waren sie schon zu feinmotorischen Greifbewegungen (z. B. Lausen, Nahrungsaufnahme) fähig.

Am Ende des Eozäns (vor etwa 34 Millionen Jahren) kam es zu einer deutlichen globalen Abkühlung, die die Polkappen in der Antarktis wachsen und den Meeresspiegel sinken ließ. Gleichzeitig trieben die Nordkontinente auseinander. Die Lebensräume veränderten sich, die Waldflächen schrumpften. Ein mittelschweres Artensterben war die Folge. Auch viele Säugerarten verschwanden und jüngere Arten übernahmen ihre Plätze.

Die in den Kälteperioden plötzlich erfolgreichen Bilchmäuse beispielsweise profitierten womöglich von einem uralten Programm von Verhaltensanpassungen und Stoffwechseltricks, um im Winter lange Zeit ohne Nahrung von Reserven leben zu können. Vermutlich hatten sie sogar schon die Fähigkeit zum Winterschlaf.

Offene Landschaften wurden jetzt auch von wesentlich größeren Tieren durchstreift, etwa von solchen Riesengestalten wie den Indricotherien, den größten landlebenden Säugetieren aller Zeiten, gegen die selbst heutige Breitmaulnashörner wie Kuscheltiere wirken. Nie zuvor und auch nicht später sind größere Säugetiere auf dem Land umher gestampft. Irgendwann sind sie dann wieder ausgestorben; derart spezialisierte Arten haben bei konstanten Bedingungen zwar einen Vorteil, sind aber plötzlichen Umweltveränderungen oft nicht gewachsen.

Die Menschenähnlichen (Hominoidea)

Vor frühestens 29 Millionen Jahren, im Oligozän, trennten sich bei den Altweltaffen die Tieraffen von den Menschenähnlichen (Menschenaffen). Der Schritt zum Menschenaffen war der Verzicht auf einen kleinen Körper, und damit auch ein deutlich höheres Körpergewicht. Mit zunehmender Körpergröße begannen die Tiere, in den Bäumen unterhalb der Äste zu schwingen, anstatt auf diesen zu balancieren. Die Schulterblätter spreizten sich nach außen und verbreiteten so den Körper. Die Anzahl der Wirbel bildete sich zurück, die Wirbelsäule wurde starr und half damit, den Körper aufrechter zu halten. Die Gliedmaßen waren jetzt äußerst beweglich, die Hände sehr groß und kräftig. Da die Tiere zum Springen zu schwer wurden, brauchten sie keinen Schwanz und keine langen Beine mehr.

Zu Beginn des Miozäns (vor rund 24 Millionen Jahren) wurde das Klima wieder feuchter und wärmer: Jahresdurchschnittstemperaturen um die 20°C. Ursache war der Zusammenstoß der eurasischen mit der afrikanischen Platte. In den Wäldern wurden Laubbäume wieder häufiger. Die miozäne Zeitenwende wird oft als die Geburtsstunde unserer aktuellen Säugetierwelt bezeichnet, denn von da an sind sämtliche heutigen Säugerfamilien in der Fossildokumentation nachgewiesen. Auch für die Großen Menschenaffen (zu denen man heute Orang-Utans, Schimpansen und Bonobos, Gorillas sowie die Menschen zählt) war jetzt der Boden bereitet.

Der beim Leben auf den Bäumen erworbene primatentypische Merkmalskomplex, zu dem z. B. relativ großes Gehirn, Beweglichkeit der Hände und Füße, räumliches Sehen, sich anklammernde Babys gehören, machte eine evolutive Weiterentwicklung unter ganz anderen ökologischen Bedingungen (Savanne) möglich. Mit der fortschreitenden Hirnentwicklung war auch eine zunehmende Lernbereitschaft (Auseinandersetzung mit der Umwelt) verbunden. Dabei spielte auch die verlängerte Abhängigkeit der Primatenkinder („Traglinge„) und die lange Jugendzeit eine immer größere Rolle. Erst durch die individuelle Verhaltensflexibilität in Verbindung mit starker sozialer Abhängigkeit wurde das Entstehen komplexer Sozialsysteme überhaupt möglich.

Die zunehmende soziale Lebensweise ist ein extrem primatentypischer Verhaltenstrend. Anhaltender Entzug des sozialen Umfeldes führt bei den modernen Primaten zu Entwicklungsstörungen im gesamten Verhaltensrepertoire, im Extremfall zu totaler Unfähigkeit, sich sozial angemessen zu verhalten. Ein isolierter Affe ist kein Affe, sagt man.

Unser Erbe

Das Schlüsselereignis für die Entstehung des Menschen war wohl die Umstellung auf den aufrechten Gang. Der Anreiz zum Aufrichten des Körpers muss stark genug gewesen sein, um dafür einen anatomischen Komplettumbau in Kauf zu nehmen – samt vieler Kompromisse: Unser Rücken etwa ist zwar für den aufrechten Gang ausgerichtet, allerdings nicht optimal. Einige funktionslos gewordene Überbleibsel der evolutionären Entwicklung (Rudimente) blieben erhalten, wie z. B. das Steißbein, Ohrmuskeln und männliche Brustbehaarung. Gelegentlich treten auch Rückfälle in ein früheres, eigentlich schon überwundenes menschliches Entwicklungsstadium (Atavismen) auf: Ganzkörperbehaarung, überzählige Brustwarzen, kleiner Schwanz (bis zur siebten Woche beim Embryo normal). Menschenbabies haben auch noch einen Greifreflex, um sich im Fell der Mutter festzuklammern.

Aber nicht nur körperliche Merkmale weisen auf unsere Abstammung hin. Das Erbe unserer Vergangenheit prägt und steuert nach wie vor unser Verhalten, unsere Gefühle und unsere Handlungen (und auch unser Denken) – oft sogar, ohne dass wir uns dessen bewusst werden. Es steckt in Imponiergesten, Drohgebärden und Beschwichtigungsgesten, treibt uns den Angstschweiß auf die Stirn und lässt uns das überwältigende Gefühl des Verliebtseins empfinden. Und manches, was wir für eine freie Entscheidung des Willens halten, ist nicht viel mehr als die Wirkung des uralten Erbes, das auch in unseren Genen steckt – aber eben nicht körperliche Merkmale erzeugt, sondern „Entscheidungen“ und Verhalten.

REM

Die Zeit der Megalith-Bauten

Die Kultur der Bandkeramiker ging um 7000 v. h. allmählich unter. Das europäische bandkeramische Gebiet zerfiel in kleinräumige Provinzen mit unterschiedlichem Schönheitsempfinden. Die Archäologen unterscheiden im siebten Jahrtausend v. h. mindestens sieben Keramikkulturen, z. B. die Rössener Kultur (in Süd- und Westdeutschland), die Stichbandkeramik-Kultur (in Mitteldeutschland) und die Lengyel-Kultur (von Böhmen/Mähren bis Kroatien). Letztere verbreiteten sich rasch über Österreich (Schwerpunkt Niederösterreich) und Polen bis in den Westen Deutschlands. Im heutigen Polen entwickelte sich die Trichterbecherkultur, die langgestreckte Grabhügel errichtete und trichterförmige Keramik anfertigte. Sie breitete sich weiter nach Westen aus und gewann im Lauf der Zeit immer mehr an Einfluss. Die Michelsberger Kultur bildete sich wahrscheinlich um 6400 v. h. im Pariser Becken heraus, bevor die Bauerngruppen auch ins Elsass und nach Deutschland zogen.

Während zur Zeit der Bandkeramiker noch einzelne Familien in verstreut gelegenen, riesigen Langhäusern wohnten, lebten die Menschen nun mit mehreren Familien in einem Haus oder drängten sich in Dörfern mit großer Einwohnerzahl zusammen und nutzten bestimmte Einrichtungen gemeinsam. Die Bevölkerung war gewachsen, die Gesellschaft bereits streng hierarchisch (in Schichten) gegliedert. In West- und Mitteleuropa war es wohl eine dunkle Zeit gesellschaftlicher Krisen. Es kam öfters zu Auseinandersetzungen mit anderen Gruppen. So grenzte man sich stärker voneinander ab – nicht nur in den keramischen Stilen. Die Siedlungen wurden jetzt eindeutig wehrhaft strukturiert und erhielten eine schützende Umfriedung mit Gräben, Wällen und Palisaden.

Kreisgrabenanlagen

Schon zur Zeit der Bandkeramiker hatte es vereinzelt ring- oder ellipsenförmige Graben- und Wallkonstruktionen in Dörfern gegeben. Ab 7000 v. h. wurden solche Anlagen möglicherweise das Wahrzeichen eines jeden Dorfes, mit dem Macht und Reichtum demonstriert wurde. Mit einem Alter von fast 7000 Jahren gehört die unweit von Nebra (Mitteldeutschland) gelegene Kreisgrabenanlage von Goseck zu den ältesten ihrer Art. Vor allem in Niederösterreich im Raum nördlich von Wien, aber auch in Bayern zeigen rund 200 Kreisgrabenanlagen, die fast gleichzeitig vor etwa 6800 Jahren entstanden, die fundamentale Veränderung der damaligen Gesellschaft.

Die niederösterreichischen Anlagen gürteten sich mit bis zu vier Gräben – drei bis sechs Meter breit. Sie umschlossen einen Innenraum mit einem Durchmesser zwischen 40 und 160 Metern. Ein bis fünf Stege führten als schmale Zugänge über die tiefen Gräben. Im Innenbereich umschlossen zwei Reihen Palisaden einen Innenraum, wodurch der Blick auf den Mittelpunkt der Anlage gänzlich versperrt blieb.

Die Kreisanlagen (auch Rondelle genannt) lagen immer von der Siedlung isoliert, oft auf Hügeln. Es waren wohl bedeutende Zentralplätze für gesellschaftliche, religiöse und politische Zusammenkünfte, für Feste, Kulte und Opfer, vielleicht auch Friedhof, Gerichts- und Handelsplätze – ähnlich Marktplätzen im Mittelalter. Besonders in Niederösterreich, Südwest- und Mitteldeutschland folgten sie auch einer astronomischen Ausrichtung; einige sind regelrechte Kalenderbauten, Uhren für wichtige Zeitpunkte des Jahres (z. B. Sonnenwendtage).

Schon früh hatten die Menschen einen geheimen Zusammenhang zwischen dem Himmel und der Erde entdeckt, eine kosmische Ordnung. Das Aufgehen oder letztmalige Erscheinen von Sternbildern läutete bestimmte landwirtschaftliche Tätigkeiten ein. Das Prinzip war relativ einfach: Wenn das Sternbild des Schützen zu sehen ist, kann nicht Winter sein, da im Winter die Sonne das Sternbild überstrahlt. Sind dagegen die Zwillinge zu sehen, dann kann aus den gleichen Gründen nicht Sommer sein. Auch das Sternbild Orion, das im Herbst am östlichen Morgenhimmel erscheint, während des Winters aber in Richtung Süden wandert, um im Frühjahr am westlichen Abendhimmel zu erscheinen, gab wichtige Hinweise zum Jahresverlauf.

Die Beobachtung des Sonnenlaufs und der nächtlichen Sternbilder ermöglichte den Ackerbauern, ohne schriftliche Aufzeichnungen die für das Bauernjahr wichtigen Fixpunkte zu definieren. So konnten also Frühjahrs- und Herbstbeginn exakt vorhergesagt und damit der Anfang der Aussaat und der richtige Zeitpunkt für das Einbringen der Ernte festgelegt werden.

Überschätzen sollte man aber das astronomische Wissen dieser Zeit allerdings nicht. Die Kreisgrabenanlagen dienten in erster Linie wohl dem Kult. Die Menschen begleiteten die Stationen des Vegetationszyklus mit Festen, Opfern und Ritualen. Opfergruben, Tierknochenreste und vereinzelte Gräber in der Nähe der Anlagen geben davon Zeugnis. Wenn die Sonne an den Wendepunkten am rechten Ort unterging, befand sich die Welt im Einklang mit dem Himmel. Fast noch wichtiger als die Sommersonnenwende war wohl die Wintersonnenwende, mit der das Ende des Mangels und die Rückkehr des Lebens verbunden war. Um 6500 v. h. – 300 Jahre nach dem Bau der ersten Anlagen – wurden die Kreisgrabenanlagen größtenteils wieder aufgelassen. Vielleicht waren sie außer Mode gekommen.

Megalithe (von griech.: megas=groß und lithos=Stein)

Vor ungefähr 7000 Jahren begannen die Menschen in Westeuropa auch, riesige Steine aufzustellen und für die damalige Zeit gigantische Grabanlagen zu errichteten. Es waren Vorläufer der vielfältigen „Megalith-Architektur„, die im Nordwesten des heutigen Frankreich – in der Bretagne – offenbar in nur rund 200 bis 300 Jahren entstand.

Eines der frühen und imposantesten Bauwerke der „Megalithkultur“ ist der trapezförmige Cairn (gälisch: Steinmal) von Barnenez auf einer bretonischen Halbinsel. Das große, längliche Grab (75 Meter lang, bis zu 25 Meter breit und 8 Meter hoch) aus geschichteten seitlichen Steinplatten und Decksteinen kann begangen werden (Ganggrab). Seine Entstehung wird auf 6500 v. h. datiert (Teile davon sogar auf 6800 v. h.). Es ist damit wohl das älteste Bauwerk in ganz Europa und enthält insgesamt elf Gemeinschaftsgräber.

Während die Cairns für Gemeinschaftsbegräbnisse genutzt wurden, waren die kleineren Dolmen (bretonisch: dol=Tisch und men=Stein) meist Einzelgrabstätten. Von ihnen wurden bisher mehr als 1000 in der Bretagne gefunden. Das Grundprinzip der Megalithgräber, die überall im Norden und Westen des Kontinents zu finden sind, ist oft ähnlich: Auf senkrecht stehenden, tonnenschweren Felsblöcken liegen waagerechte Decksteine. Baumaterial waren in der Regel Findlinge, große Granitblöcke, bis zu 50 Tonnen schwer. Mit Hilfe von Zugseilen und einfachen hölzernen Rollen schleiften und hebelten die Menschen die Steingiganten kilometerweit zu ihrem Bestimmungsort. (Erst aus späterer Zeit gibt es auch Hinweise auf Wagen.)

Zum Bau der Gräber wurde zunächst ein Erdhaufen aufgeschüttet. An den Rändern des Haufens wurden Löcher ausgehoben, in die mit Hebelwerkzeugen die seitlichen Platten eingepasst wurden. Anschließend wurden die Decksteine über eine aufgeschüttete Erdrampe über Baumstämme auf die Seitensteine gerollt. Dann trug man die Erde im Inneren wieder ab und hatte den perfekten Raum für das Grab. Die äußere Rampe blieb bestehen und wurde weiter über den Deckstein erweitert. Für diese Bauweise sollen nicht mehr als ein paar Dutzend Männer und zwei bis vier Ochsen nötig gewesen sein.

Die Menschen in der Bretagne stellten auch besonders hohen Einzelsteine auf: Menhire (bretonisch für Langstein). So wurde um 6500 v. h. eine 21 Meter hohe und 280 Tonnen schwere, mit der Abbildung einer Axt verzierte Steinsäule errichtet. (Der höchste Menhir maß sogar 35 Meter!) Auch auf den Britischen Inseln und auf der Iberischen Halbinsel fand man große, bis zu acht Meter hohe Menhire. Nirgendwo sonst sind die Hinkelsteine aber so konzentriert wie in Carnac (Bretagne), wo Menhire in drei großen, kilometerlangen Steinreihen aufgestellt sind. Die parallel angeordneten Reihen enden jeweils in einem Oval aus Steinsäulen, Cromlech (gälisch: Steinkreis) genannt. Knapp 2800 Steine sind heute noch in Carnac zu finden.

Während die Dolmen relativ einfach als Teil einer jungsteinzeitlichen Begräbniskultur zu deuten sind, geben Menhire und Steinreihen den Wissenschaftlern immer noch Rätsel auf. Ihr Sinn und Zweck ist bis heute nicht geklärt. Einige Forscher glauben, dass nur tief empfundene Religiosität die Menschen zum Errichten der Hinkelsteine bewegt haben konnte. Vielleicht wurden sie von örtlichen Clans aufgestellt und sollten einen besonderen Ort kennzeichnen, hatten also eine kultische Bedeutung. Manche Forscher interpretieren sie als Grenzsteine zur Markierung des Territoriums gegenüber anderen Gruppen. Immerhin lebten damals bereits schätzungsweise 100 000 Menschen in der Region.

Eine einheitliche Deutung der megalithischen Bauwerke ist also nicht möglich. Die meisten waren wohl dem Totenkult gewidmet. Die Menschen schufen diese Monumente nicht nur als letzte Ruhestätte für die Verstorbenen, sondern auch als Kultstätten für sich selbst. Hierher kamen sie zu rituellen Feiern und brachten Speise- und Trankopfer dar. In Norddeutschland fand man als Opfergaben im Moor versenkte Trommeln, die wohl bei den Megalithgräbern gespielt wurden. Die weithin sichtbaren Stätten verliehen den Menschen das Gefühl, Teil einer langen Reihe von Vorfahren zu sein (Ahnenkult!).

Mitunter entwickelten sich so die Orte zu Zentralheiligtümern mit starker Bindewirkung. Im gemeinsamen Gedenken an die Toten beschwörten und festigten die Menschen ihre Gemeinschaft. Schon der Transport der Steine (oft über viele Kilometer) und die Errichtung der Anlage erforderten die Gemeinschaftsleistung einer größeren und gut organisierten Gesellschaft. Möglicherweise wurden so auch benachbarte Gemeinschaften rituell miteinander verbunden. So gaben die megalithischen Monumente den Menschen in einer Umbruchzeit voller Unsicherheit und Verwirrung räumliche und religiöse, physische und metaphysische Ankerpunkte – Stabilität in einer wilden Zeit.

Bei der Anlage der Megalithgräber wird auch die Astronomie eine Rolle gespielt haben. Die damalige Bevölkerung – gleich ob Jäger, Hirten oder Bauern – verfügte ja schon über einige astronomische Kenntnisse. Daher dürfte bei der Konzeption der Anlagen der Lichteinfall zu bestimmten Zeiten wichtig gewesen sein. Auch stellte man später megalithische Steinreihen so im Kreis auf, dass sie einer astronomischen Ausrichtung folgten wie bei den Kreisgrabenanlagen mit ihren hölzernen Palisaden. Damit bestimmten dann die Priester-Astronomen wichtige Fixpunkte (z. B. Sonnenwendtage) für die landwirtschaftliche Tätigkeit.

Ausbreitung der Megalithe

Die Megalith-Idee hatte sich allmählich von Westfrankreich aus weiter ausgebreitet. Eindeutig ist ein Muster von drei Ausbreitungswellen über mögliche Seerouten zu erkennen. Megalithbauten entstanden in Skandinavien (Dänemark, Schweden), auf der Iberischen Halbinsel sowie den Britischen Inseln, aber auch auf Inseln und in küstennahen Regionen des Mittelmeerraums und in Mitteleuropa. Vielleicht wurden mit der Ausbreitung der Megalithe auch Knowhow und religiöse und gesellschaftliche Vorstellungen in die Ferne getragen.

Auf der Mittelmeer-Insel Malta und der Nachbarinsel Gozo errichteten die Menschen von 5800 bis 3500 v. h. Dutzende Tempel aus tonnenschweren Monolithen, rund 12 Meter hoch. Die ersten wurden hier vermutlich von Einwanderern aus Sizilien erbaut. Als sich das Klima um 5800 v. h. in Europa abkühlte, bauten auch z. B. die Menschen der Trichterbecherkultur in Norddeutschland aus eiszeitlichen Findlingen die ersten von Hügeln bedeckten Dolmen und Ganggräber. 10 000 solcher Bauwerke sind aus der Zeit vor 5500 bis 4800 Jahren v. h. (vor allem zwischen 5200 und 5000 v. h.) gefunden worden, oft von Erdwällen und einem oder mehreren Gräben umgeben. Die prestigeträchtigen Megalithanlagen zeugen davon, dass die Menschen die religiösen Ideen ihrer Nachbarn aus dem Südwesten übernommen hatten.

Um 6000 v. h. wurden die ersten Megalithgräber auf den Britischen Inseln errichtet. Eine der größten bekannten Anlagen, der West Kennet Long Barrow im Südwesten Englands, wurde vor etwa 5600 Jahren zunächst wohl als Grab erbaut. In Irland befindet sich der 5150 Jahre alte Grabkomplex von Newgrange, eine der weltweit bedeutendsten Megalithanlagen, in dessen Nähe sich noch zwei Vorläufer befinden.

In dieser Zeit tauchten auch kreisförmige Megalith-Monumente (Steinkreise) auf. Man fand diese und ähnliche Strukturen sowohl in der Dimension als auch vom Bauprinzip in großer Zahl auf den Britischen Inseln. Ein berühmtes Beispiel ist der Ring of Brodgar auf den Orkney-Inseln, ein Kreis aus 60 Steinriesen, den die Menschen für mystische Zeremonien aufsuchten. Sein Durchmesser beträgt 104 Meter. Manche Forscher nehmen an, dass solche Steinkreise Allianzen zwischen verschiedenen Gruppen schmieden sollten. Der britische Wissenschaftler Mike Parker Pearson vermutet, dass jeder Stein den Vorfahren einer Gruppe symbolisierte.

Stonehenge

In den Preseli-Bergen im westlichen Wales haben Archäologen die spärlichen Reste des Steinkreises von Waun Mawn aufgedeckt, des drittgrößten Großbritanniens. Er wurde zwischen 5600 und spätestens 5200 v. h. errichtet bzw. frühestens danach wieder entfernt. Auch in der Umgebung stießen die Forscher auf zahlreiche Dolmen, Steingrabkammern und weitere Anlagen, die mit Erdwällen und Palisaden umringt waren.

Die Menschen hatten in Waun Mawn bläulich schimmernde Steine – insgesamt rund 50 jeweils gut zwei Tonnen schwere Doleritblöcke, zweieinhalb Meter hoch – aus den nahen Steinbrüchen geholt und zum Kreis aufgestellt. Möglicherweise hatten die Gegend als auch die Steine für die Erbauer eine besondere, vielleicht magische Anziehungskraft. Doch nach nur wenigen Jahrhunderten der Nutzung verlieren sich nach 5200 v. h. plötzlich die Spuren der Menschen. Vermutlich sind auch zu dieser Zeit viele Steine entfernt worden – nur vier blieben übrig. Einige Forscher spekulieren, dass die ehemaligen Bewohner die Steine – ihre angestammte Identität – mitgenommen haben.

In der Salisbury Plain, wo später die Steinstrukturen von Stonehenge aufgestellt wurden, entstanden um 5000 v. h. Wall und Graben. Der fertige Erdkreis stand in Verbindung mit anderen benachbarten Anlagen, z. B. dem Henge (Graben und Wall) von Durrington Walls. Dieser befand sich im Zentrum einer noch größeren Anlage, deren Dimension alles bis dahin in den Schatten stellte: Eine Steinkreisanlage mit einem Gesamtdurchmesser von zwei Kilometern – eine Ritualstätte, zu der die Menschen kamen, um Angehörige zu begraben.

Stonehenge entstand über mehrere Jahrhunderte und veränderte mehrfach sein Gesicht. Gegen 4500 v. h. wurde die Anlage als Rund aus 30 breiten Sandsteinpfeilern arrangiert, auf denen weitere 30 Steine als Sturz ruhten. Innerhalb des Kreises errichteten die Erbauer ein Hufeisen aus fünf Trilithen (ebenfalls aus Sandstein), torähnlichen Bauten aus je zwei Stützen und einem Balken, deutlich höher und mächtiger als die Außenpfeiler. Dazwischen stellten sie die Blausteine in Kreisform auf. An der Hauptachse des Monuments ließ sich – und lässt sich noch heute – zweimal jährlich der Sonnenauf- und Sonnenuntergang beobachten – im Nordosten während der Sommersonnenwende und im Südwesten während der Wintersonnenwende. In seiner Anmutung und seiner Komplexität, in seinem Anspruch und seiner Strahlkraft übertrifft Stonehenge alle anderen Megalithbauten.

Der Archäologe Pearson ist sich sicher: Die früheste Phase des Steinkreises von Stonehenge war ursprünglich eine Kopie von Waun Mauwn. Der Durchmesser von 110 Metern und das Baumaterial (Blausteine) gleichen sich. Beide Anlagen hatten zudem den auf die Sommersonnenwende angelegten Zugang im Nordosten. Nach der Theorie von Pearson bauten die Menschen von Waun Mawn den Ring aus Blausteinen ab, transportierten sie rund 280 Kilometer weit in die Salisbury Plain und richteten sie dort als Stonehenge wieder auf. Interessanterweise fand man in Stonehenge 5000 Jahre alte Gräber von Menschen, die zu 16% aus Westbritannien – also womöglich aus der Gegend der Preseli-Berge – stammten.

Trotzdem ist die These von Pearson gewagt. Die Daten sind im Detail schwer zu interpretieren. Ob in Stonehenge um 5000 v. h. tatsächlich schon Blausteine standen, oder doch erst um 4500 v. h., scheint noch nicht geklärt. Dies bedeutet: Die Hypothese, die Menschen seien mit Blausteinen von Waun Mawn nach Stonehenge migriert, klingt zwar plausibel, ist aber längst nicht gesichert.

Göbekli Tepe

Man zählt heute über den ganzen Kontinent verteilt mehr als 35 000 Dolmengräber, Steinkreise und Hinkelstein-Menhire. Auch in Thrakien (Bulgarien/Griechenland) und Abchasien wurden inzwischen megalithische Dolmen gefunden, die bis heute allerdings kaum untersucht wurden. Megalithische Pendants befinden sich im Nahen Osten: Mazzeben (Plural von hebräisch Mazbot) aus dem semitischen Kulturkreis, aufgerichtete Steine mit religiöser Bedeutung (ab 6000 v. h.). In Europa kamen die großen Megalithbauten ab dem Beginn des 5. Jahrtausends v. h. größtenteils aus der Mode.

Weltweit erste Megalithbauten hatte es sogar schon vor 11 600 Jahren in der heutigen Südosttürkei gegeben. Auf dem Göbekli Tepe schufen Sammler und Jäger, die noch von der Hand in den Mund lebten, eine gewaltige Kulturanlage, wohl das älteste von Menschen errichtete Heiligtum. Riesige, tonnenschwere monolithische Pfeiler, möglicherweise mehr als 200, zum Teil mehr als fünf Meter hoch, waren in Kreisen mit bis zu 20 Metern Durchmesser aufgestellt. Durch die T-Form erhielten die Monolithe ein menschenähnliches Aussehen – das obere Querstück sollte wohl einen Kopf darstellen. Jeweils ein mächtiges, extra großes Pfeilerpaar befand sich im Zentrum jeder Kreisanlage. Manche Forscher interpretieren sie als früheste Götterbilder in der Menschheitsgeschichte.

Naturheiligtümer waren die ersten Weihestätten, bevor die Götter in feste Einrichtungen einzogen. Im Latmos, der mythenträchtigen Gebirgslandschaft an der Westküste der Türkei, findet man in vielen Höhlen prähistorische Felsmalereien. Hier wurde ein Wetter- und Berggott als Personifikation der höchsten Bergspitze verehrt – dargestellt auf den Bildern als große Figur. Die kleineren Figuren gaben die übrigen Bergspitzen des Latmos wieder. Die T-Form der gemalten Köpfe entspricht der T-Form der meterhohen Pfeiler auf dem Göbekli Tepe. Opferten die Menschen hier wie da derselben Gottheit? Fest steht: An beiden Orten vollzogen die Menschen rituelle Handlungen.

Der Bau einer einzelnen Anlage wie auf dem Göbekli Tepe mit 12 Pfeilern und Mauern war ohne organisierte Gemeinschaftsleistung undenkbar. Das Rohmaterial, also die Kalksteine, mussten aus drei Kilometern Entfernung möglicherweise auf hölzernen Rollen herantransportiert werden. Dann mussten Steinmetze sie zurechtschneiden. Ein solches Großprojekt konnten nur mehrere Stämme und Sippen gemeinsam realisieren. Der handwerkliche wie geistige Aufwand für die Anlage des zentralen Ortes setzen eine ausgeprägte Religiosität mit ausgefeilten und tradierten Kultriten voraus und eine bereits sozial klar gegliederte Gesellschaft, die zu diesen aufwändigen Gemeinschaftsaktionen bereit war. Organisiert wurde das sozial-integrierende Projekt von Spezialisten, geleitet vermutlich von einem Priester.

Göbekli Tepe war also wohl eine rituelle Stätte, ein Kult- und eventuell auch ein Machtzentrum für eine ganze Region. Jäger und Sammler kamen aus über 200 Kilometern regelmäßig für Riten oder Begräbnisse hierher. In Nordsyrien am mittleren Euphrat entdeckten syrische und französische Archäologen weitere Kultbauten (Jerf el Ahmar), die etwa zur gleichen Zeit wie die Steinkreise vom Göbekli Tepe entstanden sind und diesen erstaunlich ähneln. Wahrscheinlich trafen sich auch hier viele Menschen aus der Region, tanzten, trommelten – und tranken Gerstenbier.

REM

Grundlagen unserer Entscheidungen

Bauch oder Kopf

Unser Gehirn funktioniert nicht nach dem Prinzip einer informationsverarbeitenden Maschine, wie es die Konstruktivisten sehen. Es nimmt zwar auch Informationen auf und verarbeitet sie, aber es beruht auf weitgehend biologischen Grundlagen. Seine wetware ist von einem pulsierenden Wirrwarr neurochemischer Substanzen erfüllt und hat nichts gemein mit dem keimfreien, ordentlichen Silizium eines Computers. Die Gehirnstruktur selbst bildet die materielle Basis für das Wechselspiel von Wahrnehmen, Empfinden, Erinnern und Handeln.

Wahrnehmung

In unserem Wahrnehmungssystem sind, evolutionär bedingt, bereits gewisse Grundannahmen neuronal angelegt. So ist die Regelhaftigkeit der Welt um uns herum ebenso wie unsere eingeschliffene Methode, mit ihr umzugehen, als Schema im Gehirn repräsentiert und prägt unser Bild von der Welt, ohne dass wir etwas dazu tun – wie eine Brille, die man nicht wahrnimmt. Die gesamte Reizverarbeitung, alle geistigen Prozesse, von der Urteilsbildung über Entscheidungen bis hin zur Handlungssteuerung, sind dabei auf das sichere Erkennen und Bewerten der für uns relevanten Umwelt hin selektiert.

Die primären Sinnesdaten erreichen über Nervenbahnen verschiedene Areale des Gehirns, wo sie parallel und vorbewusst verarbeitet werden. Schon in den ersten Millisekunden wird beurteilt, ob sie gut oder schlecht für uns sind – völlig automatisch und unabhängig. Das, was als Gefahr erkannt wird, erleben wir als bedrohlich, ein fröhliches Gesicht stimmt uns heiter, eine süße Speise empfinden wir als wohlschmeckend. An diesen emotionalen Bewertungen sind vor allem limbische Strukturen wie die Amygdalae (Mandelkerne) beteiligt.

Es sind unsere primitivsten und stärksten Gefühle, die den direkten Weg über die Mandelkerne nehmen. Hier kommt aber nur ein Bruchteil der sensorischen Meldungen an, allenfalls grobe Signale, gerade ausreichend z. B. für eine Warnung. (Man braucht nicht genau zu wissen, was etwas ist, um zu erkennen, dass es gefährlich sein könnte.) Dabei kann die dringliche Meldung, die der Mandelkern aussendet, gelegentlich, wenn nicht sogar öfter, veraltet sein – besonders in der wandelbaren sozialen Welt, in der wir Menschen leben. Daher verwirren uns noch als Erwachsene viele mächtige emotionale Erinnerungen aus den ersten Lebensjahren.

Ist die Emotion besonders stark, erklärt der Mandelkern den Ausnahmezustand und stellt das übrige Gehirn unter seine Befehlsgewalt. Dann bleibt die Aktivierung jener kortikalen Prozesse, die normalerweise die emotionale Reaktion zügeln (s. u.), aus. Es kommt zu Kurzschlussreaktionen – Entscheidungen fernab jeglicher rationaler Argumente. Meist wissen die Betroffenen hinterher nicht mehr, was über sie gekommen ist.

Neben der unmittelbaren emotionalen Bewertung spielt die im Gedächtnissystem enthaltene Erfahrung eine wichtige Rolle. Zusammen beurteilen sie innerhalb der ersten etwa 100 Millisekunden, ob die wahrgenommenen Signale „wichtig oder unwichtig“, „neu oder bekannt“ bzw. „interessant oder uninteressant“ sind. In dieser umfassenden vorbewussten Phase der Wahrnehmung entscheidet es sich, ob wir etwas routinemäßig abhandeln können oder ob eine besondere Beachtung erforderlich ist – ob wir beispielsweise etwas tun oder unterlassen sollen.

Was als bekannt und unwichtig eingeordnet wird – die allermeisten Signale -, wird von uns kaum oder gar nicht bewusst wahrgenommen, z. B. Gegenstände in unserem Zimmer oder Verkehrszeichen auf der Straße. Würden wir alle Einzelheiten wahrnehmen, wären unsere Sinnessystem und unsere Großhirnrinde völlig überfordert. Ist etwas wichtig, so antworten wir darauf, wenn möglich, mit einem „vorgefertigten“ Programm, d. h., ohne dass wir uns besonders konzentrieren müssen und ohne dass es tiefer in unser Bewusstsein dringt. Der ganz überwiegende Teil unseres Handelns im Alltag erfolgt aus diesen Entscheidungen, die wir gar nicht als solche wahrnehmen („alltägliche Routine“).

Wird kein Routineprogramm gefunden, das als wichtig genug zur weiteren Bearbeitung eingestuft wurde, dann gelangen die Inhalte der unbewussten Prozesse in den sogenannten globalen Arbeitsraum, einem Netz von Neuronen, das sich wohl über das gesamte Gehirn erstreckt. Welche mentalen Inhalte diesen Arbeitsspeicher erreichen und dort weiterverarbeitet werden, darüber entscheidet die Aufmerksamkeit. Sie fokussiert unsere mentalen Ressourcen auf eine spezifische Information und blendet Dinge aus, die gerade möglicherweise irrelevant sind.

Von der riesigen Informationsflut, die die Sinnesorgane erreicht, gelangt nur ein winziger Bruchteil ins Bewusstsein. So nimmt beispielsweise die Netzhaut des Auges nur einen winzigen Bruchteil der Informationen aus unserer Umwelt auf, ein Äquivalent von 10 Milliarden Bits pro Sekunde. Die Sehrinde im Gehirn erreichen nur noch 10 000 Bits pro Sekunde. Und weniger als 100 Bits pro Sekunde gelangen zu Hirnregionen, die sich mit bewusster Wahrnehmung befassen.

Vieles deutet darauf hin, dass eine bestimmte Stelle im präfrontalen Kortex der Ort ist, wo wichtige kortikale Bahnen zusammenlaufen, die an der Bewusstwerdung einer Wahrnehmung und der Reaktion darauf beteiligt sind. Ist eine Wahrnehmung bewusst geworden, so kann man die Dinge einer neuen Bewertung unterziehen. Areale des präfrontalen Kortex wirken auf diese Weise auch an der Regulierung emotionaler Reaktionen mit, indem sie die Mandelkerne und andere limbische Bereiche dämpfen und auf diese Weise die emotionale Erregung hemmen. Dies ist die Grundlage unserer Fähigkeit, einem Handlungsimpuls zu widerstehen, und führt zu einer analytischeren oder angemesseneren Reaktion.

Subjektivität der Wahrnehmung

Der dünne Datenstrom, der schließlich den globalen Arbeitsraum erreicht, könnte allein sicherlich keine Wahrnehmung erzeugen. Das Gehirn muss dabei selbst mitwirken. Die Sehrinde beispielsweise weist über zehnmal so viele Nervenzellkontakte auf, wie zur Aufnahme der Eingangsinformationen benötigt werden. Diese dürften internen Kontakten zur weiteren Verarbeitung der Signale innerhalb dieser Hirnregion dienen. Es laufen jederzeit zahlreiche kognitive Prozesse ab, ohne dass wir auch nur das Geringste davon bemerken.

Aus den spärlichen und widersprüchlichen Informationen, die uns die Sinne liefern, und aus zunächst einmal nur unzusammenhängenden Daten versucht unser Gehirn eine bedeutungsvolle Wahrnehmung zu formen, noch bevor sie das Bewusstsein erreicht. Dabei greift unser Zentralorgan auch auf Schemata – alte Ideen und Generalisierungen – zurück, um Lücken in der Wahrnehmung zu schließen und die Signale zu einem einigermaßen plausibel und stimmig wirkenden Bild zu kombinieren. Das erspart uns in höchst effektiver Weise aufwändige Denkarbeit und erfordert damit nur einen minimalen, intellektuell eher schlichten Aufwand.

Auch unsere Erwartungen erleichtern dem Organismus die Wahrnehmung, indem sie die Menge der möglichen Interpretationen einschränken. Das Gehirn muss also nicht die gesamte Information analysieren, sondern nur die Abweichungen vom erwarteten Zustand. Der Vorteil liegt in der Zeitersparnis.

Wenn unsere Erwartungen ein zu großes Gewicht bekommen und nicht mehr hinreichend von Sinneseindrücken korrigiert werden, sehen wir Dinge, die nicht da sind. So stellen sich Halluzinationen oder psychische Störungen ein. Das andere Extrem könnte der autistischen Störung zu Grunde liegen. Die Betroffenen, so die These, halten die Welt für sehr verlässlich und messen den eigenen Prognosen wenig Bedeutung bei. Sie betrachten die Umgebung daher sehr eingehend, nehmen Details extrem wichtig und orientieren sich weniger an Kontextinformationen.

Unser Wahrnehmungsapparat scheint also alles zu tun, um mögliche Verwirrungen und Vieldeutigkeiten auszuschalten, bevor ein Sinneseindruck bewusst wird. Nicht ins Gesamtbild passende Daten werden angepasst und ersetzt oder sogar ignoriert. Das geht sogar so weit, dass unsere grauen Zellen auch Fakten aus den Daten tilgen – egal wie offensichtlich sie sein mögen. Auch das, was nicht in unser Selbstkonzept passt, wird verdrängt oder zumindest beschönigt.

Wir haben gelernt, dass die Welt eine Kausalstruktur hat. So geben wir üblicherweise Ereignisfolgen eine kausale Deutung, d. h., wir versuchen, Ursache-Wirkungszusammenhänge zu beschreiben. Dabei begehen wir oft den Fehler, in Kausalketten statt in Kausalnetzen zu denken. So vereinfachen wir komplizierte Sachverhalte und reduzieren sie möglichst auf eine einzige Ursache. Dies führt allzu schnell zu Generalisierungen: Stereotype und Vorurteile sind eine häufige Folge. Sie erleichtern uns die Interpretation von Wahrnehmungen, so dass wir in komplexen Situationen den Überblick behalten und uns schnell zurechtfinden.

Menschen erlernen ganz unterschiedliche kulturelle Wahrnehmungsmuster. Es entscheidet also auch die jeweilige Kultur, was wir wahrnehmen und wie wir etwas beurteilen. Dementsprechend verhalten wir uns dann auch meist sozial angepasst, d. h., nach erlernten Regeln und Normen, die wir uns zumeist über Erfahrungen und Gefühlserlebnissen angeeignet haben.

Wahrnehmung wird aber nicht nur durch persönliche Erwartungen, Wertmaßstäbe und Interessen beeinflusst, sondern ebenso durch den aktuellen emotionalen Zustand. Motivations- und Stimmungsschwankungen und die momentanen Bedürfnissen – etwa nach Ruhe, nach aufregenden Erlebnissen oder nach Nahrung – beeinflussen ebenfalls die aktuelle Wahrnehmung. Sind Menschen gestresst, werden sie extrem aufmerksam für negative Informationen. Das war im Laufe der Evolution von Vorteil, denn es erhöhte die Überlebenschance, indem es die Aufmerksamkeit für Bedrohungen steigerte.

Wenn uns eine Sinneswahrnehmung nach einer halben Sekunde, manchmal einer dreiviertel Sekunde, manchmal sogar erst nach einer Sekunde bewusst wird, ist sie also bereits verarbeitet, reduziert und in einen Zusammenhang gestellt. Durch die Interpretation im Lichte vergangener Erfahrungen, Erwartungen und Zielsetzungen, sowie der Reduktion der Daten, prägen wir der Welt Strukturen auf, die sie uns nicht nur verständlich, sondern auch erträglich, angenehm oder auch abstoßend erscheinen lässt. Unsere Wahrnehmung ist also weit entfernt von Objektivität. Sie ist vielmehr ausgiebig und intensiv gefärbt mit subjektiven Gedanken und Phantasien, mit Wünschen, Gefühlen und Schlussfolgerungen. Unsere Umwelt wird also nicht mit der Neutralität zur Kenntnis genommen, die wir oft voreilig voraussetzen. Verschiedene Menschen sehen tatsächlich verschiedene Dinge, was z. B. bei der Vernehmung von Augenzeugen große Probleme bereiten kann.

Die Subjektivität der Wahrnehmung ist nicht nur die Ursache gelegentlicher Missverständnisse, sondern kann auch von Dritten gezielt zur Vorspiegelung falscher Tatsachen ausgenutzt werden. Denn den meisten Menschen ist diese Subjektivität kaum bewusst. Das hat eine Illusion zur Folge: Die Welt scheint uns ganz unmittelbar zugänglich und verlässlich, obwohl das Gehirn die Sinneswahrnehmungen tatkräftig manipuliert. Als Resultat entstehen persönlich gefärbte „Eigenwelten“ und damit unterschiedliche Wirklichkeiten. Und darauf basiert auch ein Teil dessen, was das Wesen und die Persönlichkeit eines Menschen ausmacht.

Dass der Mensch die meisten Verzerrungen nicht wahrnimmt, kann durchaus als sinnvoll betrachtet werden. Irrtümer zu leugnen (eine „sture Gewissheit„) schützt das Selbstbewusstsein und stärkt das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten. Illusionen werden so zu einer Grundlage des Selbstwertgefühls und helfen dem Menschen, die Person zu sein, die er sein will. Ein einmal zusammengedrechseltes Gedankengebäude kann stabiler sein als echtes Wissen. Glaubt man einmal, etwas verstanden zu haben, hält man hartnäckig daran fest. Wir neigen sogar dazu, neue Informationen zu verdrehen, damit sie in unser Gedankenschema passen. Offensichtlich fällt es uns schwer, einmal geglaubte und „verstandene“ Erklärungen grundsätzlich in Frage zu stellen und uns so der damit verbundenen geistigen Unsicherheit auszusetzen. Vor allem bei sich rasch wandelnden Situationen, mit denen wir häufig konfrontiert werden, ist die Fähigkeit zu einer Veränderung unserer Vorstellungen überfordert.

Statt die eigene Überzeugung kritisch zu prüfen, suchen wir tendenziell eher Rückhalt z. B. durch die einseitige Auswahl oder Interpretation von Informationen. Werden uns unliebsame Gegenbelege vorgelegt, fangen wir gerne mit Haarspalterei an und verschließen die Augen vor dem Offensichtlichen. Die eigenen Glaubenssätze nüchtern an den Fakten zu prüfen, fällt sogar Wissenschaftlern sehr schwer. Im Extremfall braucht es Jahrhunderte oder gar Jahrtausende, bis eine anscheinend selbstverständliche allgemeine Überzeugung als irreführende Denkgewohnheit erkannt und durch eine neue Denkweise ersetzt wird – die dann ihrerseits zur Gewohnheit wird. Es gibt eine beeindruckende Vielzahl von Denkhindernissen, die höchst mühsam entdeckt und überwunden werden mussten, um die moderne Naturwissenschaft möglich zu machen.

Entscheidungen

In unserem Leben müssen wir auf der Basis unserer Wahrnehmungen und deren Interpretation dauernd Entscheidungen fällen. Wir halten sie meist für rational durchdacht und logisch begründet. Aber in den allermeisten realen Lebenssituationen wissen wir tatsächlich einfach viel zu wenig, um uns wirklich und zuverlässig und logisch konsistent entscheiden zu können. Außerdem geht alles, was zwei oder drei Hauptfaktoren übersteigt, über den Horizont unserer bewussten Verarbeitungskapazität. Daher beruht vieles, was wir tun, nicht auf bewussten Überlegungen, Planungen und Entscheidungen.

Die vermeintlichen Vernunftgründe, die wir für unser Tun und Entscheiden anführen, sind oft nachträgliche Rationalisierungen. Da wir zu den tatsächlichen Motiven und Impulsen schlicht keinen Zugang haben, reimen wir uns im Nachhinein oft irgendwelche Begründungen zusammen. Das geht sogar so weit, dass wir besten Gewissens selbst solche Entscheidungen begründen, die unseren ursprünglichen Intentionen völlig zuwiderlaufen. Es ist die Frage, in welchem Ausmaß unsere täglichen Handlungen nachträglich im Bewusstsein mit irreführenden Rationalisierungen erklärt werden.

An der Entscheidungsfindung sind generell grob drei Instanzen beteiligt: Bewusstes Denken, emotionale Reaktionen und die im Volksmund Intuition genannten Einflüsterungen unbewusster Verarbeitungsprozesse. Der Schweizer Psychiater Luc Ciompi spricht von funktionell integrierten affektiv-kognitiven Bezugssystemen – Fühl-, Denk- und Handlungsprogrammen, die in ihrer Kombination ein hochdifferenziertes Gesamtsystem zur Bewältigung der begegnenden Wirklichkeit bilden.

Die wichtigste Instanz bei unseren Entscheidungen sind meist nicht klare logische Argumente, sondern Gefühle. Die Mandelkerne, in denen die emotionalen Erinnerungen – vom Mutterleib bis heute – gespeichert sind, durchtränkt alles, vor allem auch den obersten rationalen Teil des Gehirns, also alles das, was wir denken, planen, usw. Der emotionale Erfahrungsspeicher kann eine rasche Entscheidung bewirken – am bewussten Denken vorbei. Oder er hilft, eine Entscheidung zu vereinfachen, indem er von vornherein gewisse Optionen ausschließt und andere hervorhebt. So werden unsere schnellen und automatischen Urteile und Entscheidungen in dem Bewusstsein nicht zugänglichen Hirnarealen maßgeblich vorbereitet.

Unterschwelligen Erfahrungen, latentes Vorwissen, Emotionen und unwillkürliche Aufmerksamkeitsmechanismen üben einen überragenden Einfluss auf unsere Entscheidungen aus. Unser bewusstes Ich ist daran nur teilweise beteiligt. Aber so genannte Bauchentscheidungen, vor allem, wenn sie unter Zeitdruck (wenn man nicht lange nachdenken kann) oder im Affekt (etwa weil man verärgert ist) gefällt werden, führen nicht immer zu besseren Ergebnissen. Gerade die Entscheidungen, über die wir uns im Alltag ärgern, haben wir übereilt bzw. überstürzt getroffen.

Doch wäre unser Verhalten nicht von unserem emotionalen Gedächtnis gesteuert, würden wir Dinge tun, die nicht übereinstimmen würden mit unserer ganzen Erfahrung. Und je mehr Erfahrung wir auf einem Gebiet oder in einer Sache haben, desto mehr können wir uns auf unser Bauchgefühl verlassen. Entscheidungen aus dem Bauch heraus lassen logische Zusammenhänge zwar scheinbar außer Acht, beziehen aber Fakten ein, die der Verstand nicht wahrgenommen oder nicht mehr parat hat.

Im Allgemeinen ist die intuitive, anschauliche Strategie die treffsicherste und somit bestmögliche für unsere alltäglichen Entscheidungen. Vor allem im persönlichen Bereich braucht man Instinkt und eine gewisse Gefühlsklugheit, die man mit der Lebenserfahrung erwirbt. Gefühle beeinflussen auch rationales Denken nicht nur viel stärker als wir annehmen, sondern sind sogar für Rationalität unerlässlich. Die Kunst besteht darin, rationale Gründe mit dem emotionalen Erfahrungswissen in Einklang zu bringen. Daher gibt es eigentlich gar keine rationalen Entscheidungen, nur rationale Abwägungen. Im Normalfall ist das Ineinandergreifen von Kognitionen und Emotionen, von Handlungsplanung und Gefühl, sowohl bewusst als auch unbewusst, der absolute Garant dafür, dass wir in der Regel genau das tun, was, aus welchen Gründen auch immer, sich für uns bewährt hat.

Im Alltag bezeichnen wir alle möglichen Formen spontaner Eingebungen, sei dies eine Wahlentscheidung, die Lösung einer Denkaufgabe oder irgendeine dunkle Ahnung als Intuition (von lat. intueri = angeschaut werden). Diese beruht, wie gesagt, auf Erfahrungswissen, also all dem, was einmal bewusst war, aber aktuell abgesunken ist. Der Schweizer Tiefenpsychologe C. G. Jung (1875 – 1961) definierte Intuition etwas enger, nämlich als unmittelbares, ganzheitliches Erfassen von Zusammenhängen – eine Voraussetzung für wissenschaftliche Kreativität.

Je vielschichtiger ein Problem ist, desto härter muss unser Gehirn grundsätzlich schuften, denn bewusste Prozesse wie Schlussfolgern und Planen sind aufwändiger als ein impulsiver Prozess und bedürfen Ressourcen, die oft knapp sind: Zeit und Gedächtniskapazität. Schwierige Entscheidungen überfordern also ganz einfach unser bewusstes Denkvermögen. Aber unser „Vor-Bewusstes“ ist ein gigantisches assoziatives Netzwerk, das „selbstorganisiert“ und hochgradig parallel arbeitet. Es zieht viele Informationen in Betracht und kann mit komplexen Situationen viel besser umgehen als unser rationale-bewusstes Arbeitsgedächtnis.

Moderne Kognitionsforscher sprechen in diesem Zusammenhang von impliziter oder unbewusster Informationsverarbeitung, die sich – scheinbar – als spontanes Gefühl äußert. Die intuitive Lösung kommt unvorhergesehen wie ein Blitzschlag, urplötzlich und allumfassend. Allerdings erfährt man die kreativ-intuitive Lösung nicht in allen Details, wobei die Nichtbegründbarkeit intuitiver Prozesse ihre Vernünftigkeit aber keineswegs ausschließt. Die Genialität von Denkern wie Newton oder Einstein basierte auf Intuition, war emotionsgeladen, folgte also oft vagen Ahnungen und spontanen Eingebungen, aber keinem logischen Ablauf.

Fazit

Wie wir Welt um uns herum wahrnehmen, was wir aus der Flut der Eindrücke herausfiltern, worauf sich unsere Aufmerksamkeit richtet, welche Gefühle, Erinnerungen und Ideen uns kommen und welche Ziele wir verfolgen – das alles resultiert aus automatischen Vorgängen im Gehirn. Dieser Autopilot im Kopf macht uns zu denjenigen, die wir sind – nicht das Bewusstsein. Aber wir sollten ein gesundes Misstrauen bewahren angesichts der Tatsache, dass unser Gehirn sich bei jeder Gelegenheit die Welt zurechtbiegt, die eigenen Züge schön färbt, an den Erinnerungen herumpfuscht, moralisch mit zweierlei Maß misst und hartnäckige Vorurteile kultiviert. Wir glauben manchmal Dinge, die nicht wahr sind, und das aus absurden Gründen, und treffen Entscheidungen, die wir im Nachhinein selbst nicht verstehen.

Nicht nur Misstrauen gegen die Wahrnehmung, auch Misstrauen gegen das Denken sind angebracht angesichts unserer Tendenz, uns viel zu schnell und bequem mit halbwegs überzeugenden Theorien und Argumentationsmustern zufrieden zu geben. So bleibt ein unheimliches Gefühl, dass wir ohne Nachdenken nicht verantwortungsvoll leben können – und dass trotzdem unser Denken immer vorläufig, höchst irrtumsanfällig bleibt und nie zum Ende kommt. Der Sozialpsychologe Timothy West (University of Virginia) hält dies für den Preis, den wir dafür zu zahlen haben, dass uns die Evolution mit einem so hocheffizienten Unbewussten ausgestattet hat, ohne das wir längst ausgestorben wären.

In der Kunst werden Wahrnehmungs- oder auch Denkzwänge gelockert und Formen und Inhalte in neuem Licht gezeigt. Dies kann zu einer erweiterten Wahrnehmung – auch im Sinne von Erkenntnis – beitragen. Allein schon das Wissen, dass unsere schnellen Überzeugungen und langsamen Vorurteile, dass Konformitätsdruck, Fixierungen, die sogenannten Ankereffekte* und andere Phänomene Urteilsqualität und Phantasie beeinträchtigen, kann uns helfen, solche Denkhindernisse im Bedarfsfall zu erkennen und zu überwinden. Mit diesem Wissen lassen sich auch merkwürdig anmutende Verhaltensweisen oder vermeintlich unlogische Denkmuster der Mitmenschen besser nachvollziehen, was zu einem besseren Verständnis beitragen könnte.

*Je hilfloser und bedrohter wir uns in einer objektiv unverstandenen Situation fühlen, desto eher versuchen wir, mit gewohnten Denkmustern weiterzukommen. Die Psychologen sprechen von Anker-Effekt.

Ein Patentrezept für bestmögliche Entscheidungen gibt es leider nicht. In den meisten Situationen garantiert uns in der Tat keine Denkform Wahrheit, Angemessenheit oder sogar Weisheit des Handelns. Die aktuellen Forschungsergebnisse legen nahe: Beim Sammeln und Abwägen entscheidungsrelevanter Informationen einen kühlen Kopf bewahren, aber dann auch den Bauch ein Wörtchen mitreden lassen. Nur bei einfachen Sachverhalten, so der Tipp der Psychologen, sollte man bewusst entscheiden. Sobald es kompliziert wird, ist es klüger, den bewussten Verstand abzuschalten. Es zahlt sich oft nicht aus, allzu sehr über ein schwieriges Problem nachzudenken und es Stück für Stück zu analysieren. Ein empirisch nachgewiesener Ansatz besagt: Wäge zunächst ausgiebig rational ab und lass die Sache dann einige Zeit ruhen. Also: Nichts überstürzen – und gegebenenfalls erst einmal darüber schlafen! In der Ruhephase vermag unser Gehirn Informationen hochintelligent zu verarbeiten. Gerade bei Gruppenentscheidungen wirkt sich ein längerer Abwägungszeitraum positiv auf das Ergebnis aus.

REM

Das Sonnensystem

Lage, Entstehung, Ausdehnung

Unser Sonnensystem, ein winziges Staubkörnchen in der Leere des Kosmos, liegt im äußeren Drittel einer Spiralgalaxie, der Milchstraße, rund 26 000 Lichtjahre von ihrem Zentrum entfernt am Rand des Orion-Spiralarms, eines kleinen Zwischenarms. Zusammen mit diesem umkreist die Sonne einmal in etwa 230 Millionen Jahren das galaktische Zentrum – mit einer Geschwindigkeit von derzeit 234 Kilometer/Sekunde. Ein solcher Umlauf wird als ein „Kosmisches Jahr“ bezeichnet. Seit ihrer Entstehung hat die Sonne das galaktische Zentrum schon 27-mal umrundet.

Allerdings ist die Bahn unseres Zentralgestirns nicht geschlossen, sondern oszilliert aufgrund der Eigenschaften des Gravitationsfeldes der Milchstraße bei ihrem Umlauf ums galaktische Zentrum alle 33 Millionen Jahre über und unter die rotierende Spiralscheibe. Gegenwärtig befindet sich unser Sonnensystem circa 50 Lichtjahre über dem galaktischen Äquator und bewegt sich mit sieben Kilometer/Sekunde nach „oben“. Seinen nächsten „Höhepunkt“ wird es 250 Lichtjahre über dem Äquator der Scheibe in etwa 14 Millionen Jahren erreichen.

Entstehung des Sonnensystems

Der genaue Zeitpunkt, an dem unser Sonnensystem entstanden ist, wird durch die Kondensation der ersten festen Materie definiert. Man geht heute davon aus, dass dies vor ziemlich genau 4,5676 Milliarden Jahren – mit einer Unsicherheit von nur 30 000 Jahren – geschah. Damals hatte das Universum schon zwei Drittel seiner heutigen Größe erreicht, und die Milchstraße war schon einige Milliarden Jahre alt. Vermutlich entstand etwa 15 Millionen Jahre vor der Geburt der Sonne und der Planeten in einer großen Wolke aus Staub und Gas ein Sternhaufen aus Hunderten oder auch Zehntausenden von Sternen. Darunter befanden sich auch einige sehr massereiche Mitglieder, die schon nach wenigen Millionen Jahren als Supernovae explodierten. Sie verdichteten das umgebende Material, so dass sich hier eine zweite Sterngeneration bildete, welche die Grundlage für eine dritte Generation von Sternen bildete, zu der auch unsere Sonne gehört.

Wo sich heute unser Sonnensystem befindet, erstreckte sich damals eine riesige Wolke von Wasserstoff, Helium und feinem Staub. Schwere Elemente waren von Sternen der vorangegangenen Generationen in Kernreaktionen erzeugt und in den Raum zurückgeschleudert worden, so dass sie sich schon in angemessener Zahl in dem Urnebel befanden. Aus winzigen Einschlüssen in Meteoriten kann man schließen, dass zur Geburt des Sonnensystems sowohl eine Supernova als auch ein massereicher Stern entscheidend beigetragen haben.

Durch die Schockwellen der Supernova wurde das Energiegleichgewicht der ursprünglichen Wolke gestört: Teile von ihr gerieten in Rotation, so auch der Bereich, aus dem später unser Sonnensystem hervorgehen sollte. Dieser Urnebel stürzte in sich zusammen. Da sich sein Umfang dabei verringerte, musste sich die Rotationsgeschwindigkeit erhöhen, um das Gleichgewicht der Kräfte zu erhalten. Durch die höhere Rotationsgeschwindigkeit flachte sich die Wolke in ihren äußeren Bereichen zu einer Scheibe ab, da hier die Wirkung der Rotation abnahm. Im Zentrum sammelte sich aufgrund die Schwerkraft der Hauptteil der Materie. Magnetfelder halfen dabei, da sie die Rotation einer Gaswolke bremsen, so dass die Materie weiter kontrahieren kann.

Als die Materie im Zentrum der Scheibe eine kritische Masse überstieg, kam es zu einem nuklearen Fusionsprozess: Die Wasserstoffkerne verschmolzen zu Heliumkernen, wobei große Mengen Energie erzeugt wurden. Das geschah nach Berechnungen 33 000 Lichtjahre vom galaktischen Zentrum entfernt – und etwa 200 Lichtjahre oberhalb der galaktischen Ebene. Den glühenden und noch recht losen gigantischen Gasball umkreiste zunächst eine dunkle rotierende Materiescheibe aus dem Material, das noch nicht ins Innere gestürzt war Das Zusammenspiel von Schwerkraft sowie fluiddynamischen und elektrostatischen Effekten verklebte deren einzelne Staubkörner allmählich. Mit der Zeit wuchsen immer größere Agglomerate zu Planetesimalen heran, die innerhalb weniger Millionen Jahren zu Planeten verschmolzen. Vor längstens vier Milliarden Jahren hatte sie ihr Wachstum beendet und ihre heutigen Formen und Umlaufbahnen an- bzw. eingenommen.

Der Sonnenwind (s. u.) und die Strahlung der jungen Sonne (eine tausendmal stärkere UV-Strahlung als heute) pusteten den Rest von Staub und Gas samt einem Großteil der bei der Planetenbildung übriggebliebenen Planetoiden in die Weite des Weltalls. Aus den Resten der Urmaterie rekrutierten sich außer den Monden und Planetenringen auch die Asteroiden und Kometenkerne. Die letzten beiden Gruppen enthalten die ältesten noch verfügbaren Proben von solarer Urmaterie und sind in vielerlei Hinsicht in ihrer Zusammensetzung der Sonnenmaterie sehr ähnlich. Den erdähnlichen Planeten wurde ihre äußere Gashülle weggerissen und sie wurden zu blanken Felskugeln reduziert. Erst nachdem die Sonne diese Phase überwunden hatte, konnten Planeten wie Venus, Erde oder Mars ihre zweite Lufthülle aufbauen. Der Innenraum des Sonnensystems war jetzt frei und durchsichtig.

Sonne

Die Sonne ist ein gewöhnlicher Hauptreihenstern, ein sogenannter Gelber Zwerg (G1), der nach Masse und Helligkeit eine Mittelstellung unter den Sternen der Galaxis einnimmt. Sein (mittlerer) Durchmesser beträgt knapp 1,4 Millionen Kilometer, der Radius misst fast 700 000 Kilometer. In ihrem Kern werden pro Sekunde 500 bis 600 Millionen Tonnen Wasserstoff zu Helium verschmolzen.

Gewaltige Magnetfelder spielen eine zentrale Rolle bei der Sonnenaktivität. Die Wissenschaftler vermuten ihren Ursprung rund 200 000 Kilometer unter der Oberfläche, am Übergang vom inneren Strahlungsbereich zur äußeren Konvektionszone (Tachokline), wo starke Scherkräfte herrschen. Die Magnetfelder werden von dem strömenden Plasma in komplizierter Weise gedehnt und verzogen, wobei sie sich immer wieder verknoten können. Dabei speichern sie Energie (ähnlich, als ob man Gummibänder miteinander verknotet). Gelegentlich reißen die Feldlinien und es kommt zu heftigen Explosionen, die Strahlung (vor allem intensive Röntgenstrahlung) und Wolken heißer, geladener Teilchen ins All katapultieren. Sonnenphysiker kennen heute unterschiedliche Arten von Eruptionen: Flares, Protuberanzen und sogenannte koronale Massenauswürfe. Ihre riesigen Teilchenschauer durchpflügen den langsameren Sonnenwind (s. u.) und beschleunigen durch ihre Stoßwellen manche von dessen geladenen Partikeln auf noch höhere Geschwindigkeiten.

Sonnenwind

Die äußere Atmosphäre der Sonne, die Korona, ist so heiß und unruhig, dass selbst die enorme Gravitation des Gestirns sie nicht mehr fest an sich zu binden vermag. Deshalb strömt beständig ein Partikelwind aus geladenen Teilchen entlang offener Magnetfeldlinien aus der Korona in das Planetensystem ab – in jeder Sekunde Millionen Tonnen. Dieser Sonnenwind besteht überwiegend aus Protonen und Elektronen sowie geringen Beimischungen (2 bis 4%) zweifach positiv geladener Heliumionen (Heliumkerne / Alphateilchen) und geringen Mengen (1%) von schwereren Ionen, darunter Eisen-, Sauerstoff- und Stickstoffkerne. Physikalisch betrachtet handelt es sich bei dem Sonnenwind um ein sehr dünnes Plasma, das bis zu einer Million Grad heiß sein kann. Es hat sein eigenes Magnetfeld, das mit dem Plasma in den interplanetaren Raum hinausströmt.

Typischerweise weht der Sonnenwind mit Überschallgeschwindigkeit (zwischen 400 und 800 Kilometer pro Sekunde) und damit 10 000-mal so schnell wie irdische Orkane. (Im äquatornahem Bereich der Sonne wird der Sonnenwind durch Störungen im Sonnenmagnetfeld stark gebremst; in polaren Regionen sind die Magnetfeldlinien offen und wirken als Beschleuniger – gleichzeitig herrscht dort ein viel größerer Druck im dünnen Gas.) Weil sich die Sonne in 27 Tagen einmal um ihre Achse dreht, wird das Plasma auf Spiralbahnen gezwungen und aufgefächert, so dass ein komplexes Strömungsmuster entsteht.

Planeten

Die Sonne wird von acht Planeten umkreist. Ein Planet ist laut der Internationalen Astronomischen Union (IAU) definiert als ein Himmelskörper, der rund ist und einen Stern umläuft, ohne selbst ein Stern oder Begleiter eines Planeten zu sein. Zudem müsse er seine Umlaufbahn freigeräumt haben – was allerdings nur für unser Sonnensystem und nicht für andere Planetensysteme seine Gültigkeit haben soll. Pluto musste nach dieser Definition aus dem Klub der solaren Planeten entfernt werden und wird heute als „Zwergplanet“ eingestuft.

Die vier inneren Planeten Merkur, Venus, Erde und Mars sind Gesteinsplaneten, bei denen aufgrund zu geringer Masse eine Kernfusion nicht in Gang kam. Der Merkur umkreist die Sonne in einem mittleren Abstand von 58 (46 bis 70) Millionen Kilometern, die Venus in einem Abstand von 108, die Erde (mit ihrem Mond) von rund 150 und der Mars (mit zwei Monden) von 228 Millionen Kilometern. Der mittlere Abstand Erde – Sonne wird als Astronomische Einheit (AE) zur Angabe von Entfernungen im weiteren Sonnensystem verwendet.

In einer Entfernung von rund 329 bis 478 Millionen Kilometern (zwischen 2,2 und 3,2 AE) von der Sonne – zwischen den Umlaufbahnen von Mars und Jupiter – liegt ein breiter gürtelförmiger Bereich aus mehr als 10 Millionen unregelmäßig geformten, rotierenden Gesteinsbrocken unterschiedlicher Größe (von Kieselsteinen bis hin zu Brocken von mehr als einem Kilometer): der Asteroidengürtel. Es sind kleine Himmelskörper, die bei der Bildung der großen Planeten übrig geblieben sind und in gewöhnlich stabilen, kreisförmigen Bahnen die Sonne umkreisen. Zwischen ihnen liegen allerdings gewaltige Abstände, und zusammen erreichen sie nicht einmal die Masse des Erdmonds.

Weiter außen folgen die vier Gasplaneten (oder Eisplaneten), die alle beringt sind und Monde besitzen, unter ihnen auch sogenannte irreguläre Monde, welche die Riesenplaneten in großem Abstand und auf ungewöhnlichen Bahnen umkreisen. Der größte Planet unseres Sonnensystems, der Jupiter, zieht seine Kreise um unser Zentralgestirn in einer mittleren Entfernung von 5,2 AE. Seine Masse ist etwa doppelt so groß wie der aller anderen Himmelskörper unseres Sternsystems (außer der Sonne) zusammengenommen. Er ist aber noch tausendmal kleiner als die Sonne. Der Saturn rotiert in einem Abstand von 9,6 AE um unseren Zentralstern. Hinter einem weiteren Asteroidengürtel, den Zentauren, befindet sich die Umlaufbahn des Uranus, des drittgrößten Planeten des Sonnensystems, durchschnittlich 18,8 AE von der Sonne entfernt. Der äußerste Planet ist der Neptun in einem Abstand von 29,8 AE zur Sonne.

Die Bahnen der Planeten und kleineren Himmelskörpern resultieren aus einem sehr stabilen, wohlabgestimmten Gleichgewicht zwischen der Anziehungskraft der Sonne und der Zentrifugalkraft, die durch die Eigenbewegung der Objekte hervorgerufen wird, sowie der gegenseitigen Anziehung der Himmelskörper.

Hinter der Neptunbahn befindet sich in einem Abstand von 30 bis 55 AE von der Sonne der Kuipergürtel, ein vergrößertes Abbild des Asteroidengürtels. Er bildet einen dünnen Ring aus vermutlich Milliarden von eisigen Objekten verschiedener Größe, die einst vermutlich von Neptuns Gravitationskraft auf ihre elliptischen Bahnen geschleudert wurden. Zu den Kuiper-Objekten zählt man auch Pluto und Charon sowie den Neptuntrabant Triton. Die Schwerkraft des Neptun kann die Bahnen der Eiskörper nicht nur stabilisieren, sondern auch derart stören, dass sie aus ihren Bahnen geworfen werden und ins Innere des Sonnensystems gelangen. Der Kuipergürtel gilt als Hauptquelle der kurzperiodischen Kometen.

Nach unseren heutigen Berechnungen befindet sich in einer Entfernung von 300 bis 100 000 AE (rund 1,6 Lichtjahre) eine riesige kugelförmige Region aus 100 Milliarden Körpern unterschiedlicher Größe – die Oortsche Wolke. Es sind meist locker zusammengeballte Brocken aus Eis, Gestein und diversen organischen Substanzen, die trotz ihrer immens hohen Zahl in einem Abstand von im Mittel einigen 10 Millionen Kilometern voneinander das Zentrum des Sonnensystems umlaufen. Es sind die wahrscheinlich ältesten Überbleibsel des solaren Urnebels, die aufgrund von Gezeitenkräften* sowie dem Einfluss nahe gelegener Sterne und Dunkelwolken auf einer meist ruhigen Bahn gehalten werden.

*Die Gezeitenwirkung rührt daher, dass einerseits die Sonne bei ihrem circa 230 Millionen Jahre dauernden Umlauf um das galaktische Zentrum eine periodische Bewegung senkrecht zur Scheibe des Milchstraßensystems sowie in radialer Richtung vollführt, und andererseits die Oortsche Wolke so ausgedehnt ist, dass galaktische Scheibe und (in geringerem Maße) galaktisches Zentrum leicht unterschiedliche Anziehungskräfte auf die Körper darin und unsere Sonne ausüben.

Die Oortsche Wolke wurde noch von Niemandem direkt nachgewiesen. Ihre Existenz wird aber postuliert, um den Ursprung (die Quellregion) der aus allen Richtungen einfallenden langperiodischen Kometen zu erklären. Da die Eis- und Staubbrocken aufgrund des enormen Abstands zur Sonne gravitativ nur schwach an deren Schwerkraftfeld gebunden sind, können Störkräfte, etwa die Anziehung von in unserer galaktischen Umgebung vorbeiziehenden Sternen, die Bahnen der Körper in der Oortschen Wolke empfindlich beeinträchtigen. Dadurch werden immer wieder einige aus ihrer Bahn geworfen und in den interstellaren Raum hinauskatapultiert und können sich auf diese Weise auch nach einer Reise von Tausenden oder Millionen Jahren auf langgestreckten Ellipsen dem Sonnensystem nähern und in seine inneren Bereiche vordringen.

Ausdehnung

Die geladenen Teilchen des Sonnenwindes verdrängen das interstellare Plasma (eine Mischung aus Gas, Plasma und Staub) und fegen eine ausgedehnte Blase um die Sonne frei. Diese Heliosphäre bildet gleichsam eine Schutzhülle vor der Kosmischen Strahlung, der Teilchenstrahlung des interstellaren Mediums. Die Außenbereiche des Sonnensystems sind ein komplexes und turbulentes Gebiet, das sich in mehrere Bereiche unterteilt. Wo sich dem Sonnenwind das interstellare Plasma entgegenstellt, spricht man vom „Terminationsschock„. Da beide Medien Magnetfelder mit sich führen, können sie sich nicht gut miteinander vermischen. Der Sonnenwind wird hier abrupt von Überschall- auf Unterschallgeschwindigkeit abgebremst. Daher der Name Terminationsschock. Die Grenzschichten des Sonnenwinds werden hier zusammengedrückt und verdichtet und dadurch um ein Vielfaches erhitzt.

Die kosmischen Strahlen werden zumeist nach außen abgelenkt, jedoch nicht vollständig aufgehalten. Zwar können geladene Teilchen (Ionen) nicht gegen den Strom des magnetisierten Sonnenwind-Plasmas ins Sonnensystem eindringen. Aber das interstellare Medium besteht zu mehr als der Hälfte aus elektrisch neutralen Atomen, die beispielsweise vom Wind fremder Sonnen oder Überresten explodierter Sterne stammen. Diese können nicht durch Magnetfelder aufgehalten werden. Sobald sie in den Einflussbereich der Sonne gelangen, wechselwirken sie allerdings mit dem Sonnenwind, wobei die meisten Atome durch Zusammenstöße oder UV-Strahlung irgendwann Elektronen verlieren und vom Sonnenwind wieder in die Gegenrichtung mitgerissen werden. Einigen, relativ wenigen, gelingt aber die lange Reise ins innere Sonnensystem.

Umgekehrt dringt auch der Sonnenwind weiter ins All hinaus und bewegt sich jenseits des Terminationsschocks durch die sogenannte Sonnenscheide (Heliosheath). In dieser etwa 30 AE breiten Region sollen sich interstellare und solare Felder miteinander vermischen und miteinander wechselwirken. Allerdings ließ sich eine Richtungsänderung des Magnetfelds nicht feststellen. Womöglich koppeln einige magnetische Feldlinien der Sonne an solche aus der galaktischen Umgebung, wodurch sich beide angleichen.

Mit zunehmender Entfernung von der Sonne sinkt der Heliosphärendruck auf das interstellare Medium. Gleichzeitig nimmt der Gegendruck des interstellaren Windes immer weiter zu, bis er schließlich so hoch ist wie der Druck des Sonnenwindes. Hier liegt die äußere Grenze der Heliosphäre, die Heliopause, hinter der der interstellare Raum liegt. Forscher schätzen die Grenze auf höchstens so dick wie ein Sonnenradius. Das Plasma wird hier dichter und kühler.

Die äußere Struktur der Heliosphäre ist unbekannt. Sie wird oft wie eine Kugeloberfläche oder mit einem Schweif, also im rückwärtigen Bereich etwas verlängert, dargestellt. Nach neuesten Messungen scheint die Heliosphäre tief zerfurcht zu sein, mit enormen Einbuchtungen. Dies lässt eine croissantähnliche Form als möglich erscheinen. Entsprechend dem 11-jährigen Aktivitätszyklus der Sonne bewegt sich die Heliopause wahrscheinlich – sie „atmet“. Aber nicht nur die Sonnenaktivität, sondern auch der Einfluss des interstellaren Mediums in unserer Nachbarschaft schwankt anscheinend sehr. Die Wechselwirkung zwischen Sonne und interstellarem Raum scheint demnach erstaunlich dynamisch zu sein. Da sich unser Sonnensystem mit einer Eigengeschwindigkeit von 25 Kilometer/Sekunde gegen das interstellare Medium bewegt, entsteht eine Bugwelle, an der die Kollision der Partikel des interstellaren Mediums mit denen des Sonnensystems besonders heftig ist. Daher sollte die Heliopause hier auch anders aussehen als seitlich oder hinten.

Die beiden Ende der 1970er Jahre gestarteten Voyager-Sonden haben inzwischen die Heliopause durchquert: Voyager 2 im Jahre 2012, Voyager 1 2018 (119 AE von uns entfernt). Die Durchstoßpunkte der beiden Sonden lagen 160 AE voneinander entfernt. Voyager 1 trat an der Vorderseite der Heliosphäre (am „Bug“) aus, während sich Voyager 2 näher an einer der Flanken befand. Bei Voyager 2 war die Heliopause dünner und glatter; außerdem wurde eine Region zwischen der Heliopause und dem interstellaren Raum registriert, in dem solare und interstellare Winde noch interagieren. Die Sonden sind inzwischen so weit entfernt, dass ein lichtschnelles Funksignal bis zu Voyager 1 knapp 22 Stunden, bis zu Voyager 2 gute 18 Stunden braucht. Jeden Tag entfernen sie sich von uns um weitere drei bis vier Lichtsekunden (eine Lichtsekunde = 299 792 Kilometer). Beide senden aber immer noch Daten zur Erde. Ihre einzige Verbindung ist das Deep Space Network der NASA: Drei Antennenkomplexe, die rund um den Erdball verteilt sind.

Die Grenze des interstellaren Raums darf aber nicht mit der Grenze des Sonnensystems verwechselt werden. Der Schwerkrafteinfluss der Sonne reicht noch zumindest bis zur Oortschen Wolke (bis zu 100 000 AE entfernt), die ja noch locker an das solare Gravitationsfeld gebunden ist (s. o.). Die Voyager-Sonden werden den inneren Rand des Eis- und Gesteinsgürtels frühestens in 300 Jahren erreichen.

Das am weitesten entfernte bekannte Objekt im Sonnensystem ist „2018 VG18“ – mit einer Distanz von aktuell 132 AE zur Sonne. Der Himmelskörper benötigt 930 Jahre für einen Umlauf um unser Heimatgestirn. Jedes Mal kreuzt er dabei die Umlaufbahn des Neptun. Dessen Anziehungskraft könnte der Grund für seine so große und langgestreckte Bahn sein, die bis auf 27 AE an die Sonne heranführt und deren sonnenfernster Punkt bei 175 AE Abstand liegt.

Lage

In einem Umkreis von 33 Lichtjahren sind über 380 Sterne bekannt – mehrheitlich Rote Zwerge (die kleinsten Sterne, in deren Zentrum eine Kernfusion stattfindet). Innerhalb von zehn Lichtjahren um unsere Sonne herum kennen die Astronomen nur elf stellare Objekte. (Im einstigen Geburtshaufen der Sonne befanden sich im selben Volumen über 1000 Sterne.) Der näheste Stern ist von uns aus gesehen derzeit Proxima Centauri, 4,22 Lichtjahre entfernt. Er ist Teil eines Mehrfachsystems und umkreist in weitem Abstand (0,22 Lichtjahre) das Doppelsystem aus Alpha Centauri A und Alpha Centauri B. In rund 10 000 Jahren wird das Sternsystem nur noch 3,5 Lichtjahre entfernt sein.

Der nächstfolgende Stern ist Barnards Pfeilstern (Barnards Stern) – ein Roter Zwerg, der seinen Namen erhielt, da er der schnellste über den irdischen Himmel ziehende Stern ist -, 5,98 Lichtjahre von uns entfernt. Sein Alter wird auf 10 Milliarden Jahre geschätzt. Er bewegt sich auf uns zu und wird in 10 000 Jahren am Sonnensystem vorbeiziehen. Ein weiterer naher Stern ist Sirius A, 8,6 Lichtjahre entfernt, der hellste Stern am Nordhimmel mit der 26-fachen Leuchtkraft und der doppelten Masse der Sonne. Sein Begleiter, Sirius B, ist der nächste, nur mit dem Teleskop sichtbare Weiße Zwerg (der kompakte Rest eines Sterns mit etwa Sonnenmasse). Ross154 (9,7 Lichtjahre von uns entfernt) und Ross248 (10,4 Lichtjahre entfernt) sind Rote Zwerge. Ross248 wird in 37 000 Jahren der nächstgelegene Stern sein, der von uns dann nur noch drei Lichtjahre weg ist.

Die Sonne befindet sich heute innerhalb der Lokalen Blase, einer mit dünnem und heißem Gas gefüllten, vergleichsweise leeren Region. Sie bildete sich, als vor rund 14 Millionen Jahren etwa 15 massereiche Sterne explodierten. Die Strahlung, Schockwellen und Gasströme dieser Supernovae schoben das interstellare Medium nach außen. Daher sind heute Molekülwolken und Sternwiegen am Rand der Blase aufgereiht.

Beim Ausbruch der ersten Supernovae war unser Sonnensystem in einer sicheren Entfernung von rund 1000 Lichtjahren. Vor etwa fünf Millionen Jahren führte dann der galaktische Orbit unsere Sonne direkt in die Lokale Blase. Unser Zentralgestirn zieht derzeit durch eine Gruppe relativ dünner Wolken, die sich in die gleiche Richtung bewegen, angetrieben wahrscheinlich von einem Wind einer weiteren Supernova-Explosion, die sich vor einigen Millionen Jahren ereignet hat. Durch puren Zufall befindet sich unser Sonnensystem momentan fast genau im Zentrum der Lokalen Blase, einer Zone mit dem Namen Local Fluff („Lokale Flocke“). Hier ist das interstellare Medium mit 6000 bis 7000°C deutlich kühler und weniger dicht. (In einem Würfel von 10 Zentimeter Kantenlänge stecken gerade mal 100 Atome – interstellare Wolken können anderswo durchaus 100mal so dicht sein.)

Neue Messungen zeigen indessen, dass sich die kosmische Nachbarschaft unerwartet schnell verändert: Die Richtung des interstellaren Windes hat sich demnach in den letzten 40 Jahren um mehrere Grade gedreht. Das heißt, momentan scheint sich die Sonne entweder am Rand oder in einem turbulenten Bereich innerhalb des Flocken-Wölkchens zu befinden. Dieses wird unser Sonnensystem in rund 70 000 Jahren verlassen. Trotzdem ist auch in den nächsten Millionen Jahren nicht damit zu rechnen, dass wir in stürmisches Fahrwasser geraten.

REM

Der Landgang des Lebens

Leben entstand vor spätestens 3,5 Milliarden Jahren im Wasser und wagte sich die ersten Milliarden Jahre nicht aufs Land. Dort drohte nämlich die energiereichen UV-Strahlung der Sonne die DNA auseinanderzureißen. Abdrücke und chemische Veränderungen in alten Gesteinsschichten deuten darauf hin, dass aber vielleicht schon vor über einer Milliarde Jahren erste Organismen auf dem Trockenen saßen.

Als Glücksfall für einen Landgang der Lebewesen erwies es sich, dass Sauerstoff durch die von den Cyanobakterien betriebenen Fotosynthese in die Atmosphäre gelangte. In der Stratosphäre wurde das Gas (O2) durch die kurzwellige UV-Strahlung der Sonne gespalten und es entstand Ozon (O3). Vor 670 Millionen Jahren lag der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre vermutlich bei 7%, was schon ausreichte, um eine schützende Ozonschicht zu bilden, die das schädliche UV-Licht blockierte und Leben an Land erleichterte. Sie schützt uns auch heute noch.

Pilze und Pflanzen

Pilze könnten lange vor den ersten mehrzelligen Pflanzen auf die urzeitlichen Landmassen vorgedrungen sein. Ihr Ursprung liegt nach molekularen Studien 750 bis 900 Millionen Jahre zurück. Sie verbündeten sich mit einzelligen Algen und besetzten als Flechten das Land. Spätestens vor 540 Millionen Jahren könnten sich auch dünnhäutige Pflanzen an Land ausgebreitet haben. Sie waren aus einzelligen Grünalgen hervorgegangen und stammten wohl nicht, wie lange vermutet, aus dem Meer, sondern aus dem Süßwasser. Ihr Bau erinnert an fädige Algen, wie sie heute noch in Seen oder an luftfeuchten Standorten vorkommen. Sie breiteten sich zunächst im Uferbereich von Bächen und Flüssen sowie in feuchten Felsspalten aus.

Mit der Entwicklung der Moose vor etwa 460 Millionen Jahren fand eine große Veränderung auf den Kontinenten statt. Sie begannen die Felsen im Flussbett zu überziehen und bedeckten schließlich über Tausende von Quadratkilometern die Erde und ließen sie ergrünen. Erste höhere Landpflanzen gab es in der Erdgeschichte erst im Silur (vor 443 bis 419 Millionen Jahren); es handelt sich um einfach gebaute Nacktfarne (Psilophyten), die aus gabelig verzweigten, dünnen Sprossen bestanden, aber noch keine Wurzeln und Blätter hatten.

Im Devon (vor 419 bis 359 Millionen Jahren) wurden sie durch Gefäßsporenpflanzen (Farne, Schachtelhalme, Bärlappgewächse) abgelöst, die über echte Wurzeln und ein Wasserleitsystem im Stängel verfügten. Ihre Wurzeln konnten in felsigen Untergrund eindringen, sich dort verankern und Wasser aufnehmen. Gemeinsam mit Pilzen zersetzten sie das Gestein auf biochemischem Weg, wodurch sich die Verwitterungsrate auf mehr als das Zehnfache beschleunigte. Die erhebliche Zunahme von Tonmineralen und die höhere Geschwindigkeit der Bodenbildung sorgte für einen stetig wachsenden Lebensraum für weitere und größere Pflanzen und Pilze. Ab spätestens 400 Millionen Jahre vor heute eroberten die Pflanzen schließlich das Land in großem Stil und schufen damit die Lebensgrundlage für eine Besiedlung des Landes durch Tiere.

Tiere

Im Ordovizium (vor 485 bis 443 Millionen Jahren) machten Gliedertiere wohl schon erste zaghafte Schritte an Land. Ihr Außenskelett, das im Wasser Schutz gegen Fraß und Verletzungen bot, eignete sich jetzt auch als Verdunstungsschutz. Mit jedem Segment ihres gegliederten Körpers konnten sie Sauerstoff aufnehmen und damit auch Schwankungen der Sauerstoffmengen in der Atmosphäre ertragen. Die gegliederten Beine erleichterten zudem offenbar den Landgang. Als eine der ersten Tierarten wagten sich möglicherweise Skorpione an Land. Sie besaßen Strukturen, welche jenen der Pfeilschwanzkrebse ähneln, die sich heute vornehmlich in küstennahen Gewässern aufhalten, ebenso aber auch kurzzeitig an Land gehen können. Spätestens im Silur tauchten auch Vorfahren der modernen Krebse auf und krochen an Land (wegen Flucht oder Nahrungssuche?). Ihnen folgten weitere Gliedertiere. Das bisher älteste fossil überlieferte Landlebewesen, das Luft atmete, ist ein Tausendfüßer, der ein Zentimeter lang war und vor 428 Millionen Jahren lebte.

Von 30 bekannten Tierstämmen bei den Wirbellosen haben nur sieben in der Geschichte des Lebens landlebende Arten hervorgebracht. Die Ahnen der heutigen Krebse und Insekten übernahmen zunächst die Herrschaft über die Erde, wobei es den Insekten gelang, immer besser mit den widrigen Bedingungen an Land (Hitze, Kälte, Trockenheit) zurechtzukommen. Meist noch flügellos und den millimeterkleinen Springschwänzen ähnlich wurden sie vor über 400 Millionen Jahren zur entscheidenden Größe.

Im Pflanzenreich dominierten im Devon Sporenpflanzen, die noch eine immerfeuchte Umgebung brauchten. Wer höher wachsen kann als die Konkurrenz, der bekommt auch mehr Licht ab und hat deshalb bessere Überlebenschancen. So bildeten sich fruchtbare Wälder aus riesigen Farnkräutern, hohen Schachtelhalm- und Bärlappgewächsen, welche die noch öde Landschaft mit vergleichsweise rasender Geschwindigkeit zu erobern begannen. Millionen Jahre lang pumpten die Pflanzen und Bäume Sauerstoff in die Atmosphäre, so dass dessen Gehalt in der Luft zeitweise 50% höher lag als heute. Gleichzeitig wurden unvorstellbare Mengen an Kohlenstoff gespeichert. Die Mikroorganismen schafften es nicht mehr, alle abgestorbenen Pflanzen zu zersetzen. (Aus diesen entstand mit der Zeit Kohle, die wir heute noch verbrennen.) Erst vor etwa 350 Millionen Jahren pendelte sich ein ungefähres Gleichgewicht zwischen Sauerstoffproduktion (durch die Fotosynthese der Pflanzen) und Sauerstoffverbrauch (durch fortdauernde Verrostung und die Atmung der Tiere) ein. Seither beträgt der Sauerstoffanteil in der Atmosphäre relativ konstant knapp 21%.

Wirbeltiere

Vor rund 400 Millionen Jahren erlaubte es der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre, dass sich auch höhere Tiere an Land wagen konnten. Es waren wohl Fleischflosser (Muskelflosser), die sich vorsichtig vortasteten. Sie waren im Devon weltweit verbreitet und besiedelten auch mehrmals unabhängig voneinander das Süßwasser. Neben den muskulären Flossen entwickelten sie im Laufe der Evolution eine knöcherne Wirbelsäule, die mit Schulter- und Beckengürtel samt seitlichen Knochen (homolog zu den Oberarm- und Oberschenkelknochen der Landwirbeltiere) verbunden war.

Heute existieren noch zwei Gruppen der Fleischflosser: Quastenflosser und Lungenfische. Die Vorfahren der heutigen Quastenflosser lebten vor 360 Millionen Jahren und konnten mit ihren Lungenblasen einige Zeit an Land überstehen. Sie haben sich offenbar während des Erdmittelalters an ein Leben in der Tiefe angepasst, wo sie die Umweltkatastrophe an der Kreide-Tertiär-Grenze (vor 66 Millionen Jahren) überstanden. Lungenfische sind etwas näher mit Landwirbeltieren verwandt als die Quastenflosser, aber wohl auch nicht die Vorfahren der Landwirbeltiere.

Der ältesten Hinweise auf Vierfüßer (Tetrapoden), die wir derzeit kennen, sind 385 Millionen Jahre alte Knochenfragmente, aber es liegen auch Fußabdrücke von Tetrapoden vor, die noch einmal fast 10 Millionen Jahre älter sind. Die Abdrücke (mit mehreren Zehen) als auch das treppenförmige Gangmuster deuten auf eine Fortbewegungsweise wie bei einem Salamander hin. Anscheinend lebten diese Tiere aber immer noch im Wasser: Während ihr Körper wahrscheinlich auf dem Wasser schwamm, drückten sie sich mit den Füßen am Boden ab.

Alles in allem handelte es sich bei den frühen Tetrapoden und ihren unmittelbaren Vorläufern um recht ansehnliche Geschöpfe. Fast alle Übergangsformen maßen rund einen Meter in der Länge, manche sogar noch einiges mehr. Die meisten Tetrapoden des Devon dürften durch die Entwicklung von Gliedmaßen und Zehen große Nutzen gezogen haben. Im Gegensatz zu Fischen konnten sie damit durch dichte Sumpfgebiete paddeln, im Schlamm nach Beute graben, sich durch trübes Wasser tasten und unter den am Ufer wachsenden Pflanzen Schutz suchen. Sie erbeuteten verschiedenste Fische und Wirbellose und waren dabei vermutlich nicht sonderlich wählerisch.

Fossile Nachweise

Rund 20 Millionen Jahre der frühen Vierfüßerevolution im Devon sind gut dokumentiert. Als ein Übergangsorganismus zu landlebenden Wirbeltieren gilt Tiktaalik roseae. (Das Wort Tiktaalik stammt aus der Sprache der Inuit und bedeutet „Großer Süßwasserfisch“.) An ihm lassen sich leicht die schrittweisen Veränderungen erkennen, die der Wechsel vom Wasser aufs Land mit sich brachte.

Tiktaalik roseae lebte vor 385 Millionen Jahren im niedrigen Süßwasser, hielt sich aber wohl auch an dessen Rand auf. Er hatte bereits Rücken- und Afterflosse verloren. Bei mehr als zwei Metern Länge besaß er starke Brustflossen mit gut entwickelten Armknochen samt Ellenbogengelenk und beweglichen Handgelenken, auf die er sich wahrscheinlich stützte, um sich nah der Küstenlinie aus dem Wasser zu stemmen und ans Ufer zu robben. Allerdings besaß Tiktaalik noch keine Finger oder Zehen, sondern noch Flossenstrahler. Die hinteren Flossen waren ganz ähnlich gebaut wie die Brustflossen, und auch von vergleichbarer Größe. Der Beckengürtel des Tiktaalik roseae war beinahe genauso groß wie bei heutigen Vierfüßern und besaß Hüftgelenkspfannen, die bewegliche Oberschenkelknochen aufnahmen. Das Tier konnte also unter Einsatz aller Muskelflossen sowohl paddeln als auch laufen und stand demnach am Übergang zum Vierfüßergang. An seinem schon beweglichen Kopf mit langer, flacher Schnauze (krokodilähnlich) saßen die Augen an der Oberseite. Zwar besaß Tiktaalik auch noch Kiemen, doch scheint das Atmen von Luft schon ziemlich ausgeprägt gewesen zu sein. Er unternahm wohl bereits kurzfristige Ausflüge in trockene Gefilde.

Elpistostege, ein 375 Millionen Jahre altes, 1,57 Meter langes fossiles Tier, ist Analysen zufolge unter den Fischen der engste Verwandte jener Gruppe von Tetrapoden, zu der alle heutigen Landwirbeltiere mit vier Extremitäten und ihr letzter Vorfahr gehören.

Elpistostege lebte in einem Wasserlauf, der in ein Flussmündungsgebiet führte. Seine Brustflossen enthalten Knochen (hervorgegangen aus knochigen Stützen für die hornartigen Flossenstrahlen), die homolog zu den Fingern in den Händen und Füßen der heutigen Landwirbeltiere einschließlich des Menschen sind. Mit seinen weitaus kräftiger gebauten Flossen im Vergleich zu Tiktaalik war Elpistostege wahrscheinlich noch viel besser dafür gerüstet, sich auf das trockene Land zu wagen. An seiner Körperrückseite befanden sich zwei große, als Spiracula (Mehrzahl von Spiraculum) oder Sauglöcher bezeichnete Öffnungen. Sie wurden, ähnlich wie bei heutigen luftatmenden Fischen, für das Luftatmen genutzt. Dazu drückte sich der Fisch mit den Flossen nach oben und hob den Kopf aus dem Wasser.

Parmastegae aelidae war ein kiemenatmender Wasserbewohner, der eine Körperlänge von schätzungsweise mehr als einem Meter erreichte. Er lebte vor etwa 372 Millionen Jahren in flachen Buchten.

Offenbar schauten die Tiere aus großen, ovalen Augenöffnungen – hoch oben nahe dem Schädeldach – über die Wasseroberfläche, vermutlich ganz ähnlich, wie es die heute noch lebenden Schlammspringer tun. Ein weiteres erstaunliches Merkmal dieses Tetrapoden ist die extrem niedrige Position der Nasenöffnungen. Diese befinden sich nahe am Kiefer und müssen somit meist unter dem Wasserspiegel gelegen haben. Sie dienten höchstwahrscheinlich als Öffnungen, durch die Wasser einströmte, um zu den Kiemen zu gelangen.

Bei Tetrapoden, die nach Parmastega aelidae kamen und weiter evolviert waren, machten die Spiracula (s. o.) Ohren Platz. Die Nasenöffnungen waren größer und auf der Schnauze nach oben gewandert. Die Tiere nutzten ihre Nasen also wahrscheinlich schon, um Luft einzulassen und in Richtung der Lunge zu transportieren, während sie zwecks Beutesuche aus dem Wasser spähten. Vollständigere Fossilfunde von unseren frühen Wirbeltiervorfahren liegen erst u. a. von amphibisch lebenden Dachschädlern (Stegocephalen) aus der Zeit um 370 bis 360 Millionen Jahre vor heute vor. Diese eroberten ausgedehnte Sumpfgebiete, wo sie eiweißreiche Insekten und Pflanzen als Nahrung vorfanden.

Wie oft in der Geschichte der Lebewesen gab es zweifellos auch rund um die Evolution der frühen Tetrapoden viele Entwürfe, die sich später nicht durchsetzten. Das Leben der meisten von ihnen währte daher nur kurz. Sie wurden rasch von moderneren Artgenossen überholt und starben wenige Millionen Jahre nach ihrer Entstehung aus. So geriet auch der Fleischflosser Qikigtania wakei (lebte vor etwa 380 Millionen Jahren) in eine evolutionäre Sackgasse: Er gab den Landgang trotz anfänglicher Entwicklung in diese Richtung schließlich auf.

Gründe für den Landgang

Der Gang an Land war für die Wirbeltiere offensichtlich mit viel größeren Schwierigkeiten verbunden als für die Gliederfüßer. Hoimar von Dithfurt hat ihn mit der Eroberung des Mondes verglichen Der neue Lebensraum brachte eine Reihe von anatomischen und physiologischen Herausforderungen, die nur schrittweise zu meistern waren. Atmung, Fortbewegung, Fortpflanzung und vieles andere mussten neu erfunden werden. Außerdem war ein Schutz vor Austrocknung durch Sonne und Luft erforderlich. Was also bewegte die Ahnen der Landwirbeltiere, trotz aller Schwierigkeiten den Weg aus dem Wasser zu wagen.

Vermutlich war es eine Summe von Faktoren, die vor mehr als 360 Millionen Jahren die Tiere an das für sie unwirtliche Land trieb. Einige Forscher spekulieren, dass Sauerstoffmangel der Hauptgrund war. Da die ersten Gefäßpflanzen die Erosion des felsigen Untergrunds an Land verstärkten und dadurch vermehrt Nährstoffe in die Gewässer spülten, sei es zu Algenblüten gekommen, die den Sauerstoff dort aufzehrten. So mussten die Tiere an die Luft, um an den begehrten Stoff zu kommen. Vielleicht wichen die Vorfahren der Landwirbeltiere auch wachsendem Feinddruck durch räuberische Panzerfische aus – oder bei schrumpfenden Gewässern wachsendem Populationsdruck der Konkurrenz. Am naheliegendsten scheint, dass die Suche nach Nahrung der Hauptantrieb zum Landgang war. Das Nahrungsangebot an Land war auf jeden Fall geradezu paradiesisch; Pflanzenreste oder Gliederfüßer, etwa Skorpione, Tausendfüßer und Spinnen, lockten. Und es gab keine Konkurrenz.

Umgestaltung des Körpers

Viele charakteristische Merkmale der späteren Landwirbeltiere entstanden in Ansätzen bereits im Wasser, so dass die Tiere in einem Klima, das gleichmäßig feucht und warm war, zumindest zeitweise aufs Land vordringen konnten. Im Wasser schwammen sie, auf dem Trockenen robbten sie sich mit ihren Muskelflossen vorwärts. Diese waren aber zunächst noch zu schwach, um sich dauerhaft an Land aufhalten zu können, denn da der Auftrieb durch das Wasser wegfiel, mussten sie hier das gesamte Körpergewicht tragen. Die frühen Tetrapoden entwickelten daher eine kräftige (verknöcherte) Wirbelsäule und gestalteten die Brust- und Bauchflossen) zu tragenden Gliedmaßen (samt Schulter- und Beckengürtel) um. Dabei scheint das Grundmuster von fünf Zehen, das fast alle Landwirbeltiere besitzen, sich am günstigsten erwiesen zu haben, um genügend stabile und dabei doch flexible Knöchel auszubilden, die das Köpergewicht aushalten können und auch ein Ausschreiten erlauben.

Bei Landwirbeltieren besteht bis zu 70% der Körpermasse aus Knochen und Muskeln. Diese verhindern, dass das Körpergewicht die Adern zusammenpresst. Ein Wal z. B. verendet als Lungenatmer an Land, weil er von seinem eigenen Körpergewicht erdrückt wird. Lebewesen an Land verbrauchen bis zu 40% ihrer Stoffwechsel-Energie für den Transport ihres eigenen Gewichts.

Auch etliche andere entscheidende Merkmale der späteren Landwirbeltiere entwickelten sich noch vorwiegend im Wasser. So besaßen frühe Tetrapoden bereits paarige Aussackungen des Schlundraums, worin sie an der Wasseroberfläche aufgenommene Luft speichern und den darin enthaltenen Sauerstoff nach und nach veratmen konnten. Auf diese Weise waren sie in der Lage, auch in austrocknenden und sauerstoffarmen Gewässern zu überleben. Nötig war jetzt nur noch die Umstellung von hilfsweiser zu alleiniger Lungenatmung. Manche Forscher vermuten, dass es – so kurios es klingen mag – nicht die Fortbewegung, sondern der Anpassungsdruck, Luft atmen zu müssen, war, der den allmählichen Umbau vom Wasser- zum Landtier auslöste.

Einer neuen Theorie zufolge hat der radikale Umbau des Fischskeletts in Richtung Landleben mit dem Kopf begonnen. Vermutlich jagten die frühen Tetrapoden im Seichten kleine Fische. Weil seichtes Wasser oft warm und darum sauerstoffärmer ist, gewöhnten sie sich an, über Wasser nach Luft zu schnappen. Dazu benötigten sie wegen der Schwerkraft einen stabileren Schädel und stabile Kiefer. Die Schädelknochen verwuchsen fester, am stärksten die Knochen am Hinterkopf, wo die kräftigen Nackenmuskeln von der Wirbelsäule her ansetzten, mit denen der Kopf angehoben werden konnte. Auch der Unterkiefer gewann durch zusammenwachsende Knochen mehr Stabilität, was wohl auch die vermutete Kehlatmung erleichterte. (Dabei wird die geschluckte Luft aus dem Mundraum wie bei einem Blasebalg in die Lungen gepresst, wie es heute noch Amphibien und luftatmende Fische tun.) Jene Knochen, die bei den Fischen den Schädel mit dem Schultergürtel verbinden, verschwanden. Der Hals wurde muskulös und der Kopf so frei beweglich. Da Luftatmung immer wichtiger wurde, veränderte sich das Kiemenskelett. (Einer seiner Knochen wurde später bei den Landwirbeltieren zu einem Gehörknöchelchen, dem Steigbügel.)

Nach einer weiteren These spielte die visuelle Wahrnehmung für die Besiedlung des Landes eine entscheidende Rolle. Die Augen der Tetrapoden wurden im Laufe der Evolution immer größer. Außerdem wanderten sie von der Seite nach oben zum Schädeldach. Dadurch verbesserten die frühen Vierbeiner ihr Sehvermögen um ein Vielfaches, denn in der Luft erweitert sich der überblickbare Bereich dramatisch. Das dürfte es ihnen erleichtert haben, Wirbellose, etwa Insekten, zu jagen, die sich nahe der Oberfläche des Wassers bewegten.

Vielleicht war es also tatsächlich der Anblick der potenziellen Beute, der die Tetrapoden aus dem Wasser lockte und sie schließlich zwang, ihr Skelett umzubauen und ihre Lebensweise umzustellen. Zudem gab die visuelle Wahrnehmung an Land entscheidende Impulse für die Hirnentwicklung. Während Wasserbewohner wegen der geringen Sichtweite auf schnelle Reflexe setzen müssen, um Beute zu jagen oder Feinden zu entkommen, bieten sich Tiere an Land wesentlich mehr Alternativen, zwischen denen abzuwägen gilt. Dies habe auch, so die Forscher, zunehmend planerische Fähigkeiten erfordert und daher die Entwicklung komplexer Gehirne vorangetrieben.

Amphibien und Reptilien

Jüngste Fossilienfunde zeigen, dass der Übergang von Fischen zu Amphibien nur rund 9 bis 14 (oder vielleicht auch 20) Millionen Jahre dauerte. Die meisten Forscher halten Ichthyostega, einen Dachschädler, für eines der ersten Amphibien. Er lebte vor etwa 365 Millionen Jahren.

Ichthyostega besaß noch einige Anklänge an seine Fischvorfahren, z. B. einen Fischschwanz und Reste eines Kiemendeckels. Am Kopf ist aber bereits ein Ohreneinschnitt vorhanden. (Sein Mittelohr enthielt ein einziges Gehörknöchelchen.) Er hatte vier kurze, stämmige Beine mit Fingern und Zehen und eine massive Skelettstruktur, die es ihm erlaubte, sich an Land zu wuchten. Die Hüfte war zwar fest mit der Wirbelsäule verbunden, aber Gelenke und Gliedmaßen waren geeignet, beträchtliche Spielräume für Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen zu erlauben. Aufgrund der dicken Knochen war er wohl kein schneller Läufer.

Die Amphibien erlebten vor mindestens 350 Millionen Jahren eine Blütezeit. Sie konnten aber nicht in das Innere des Landes vordringen, sondern waren wahrscheinlich noch gezwungen, in kurzen Abständen ein Gewässer aufzusuchen. Als leichten Schutz vor dem Austrocknen durch Sonne und Luft diente lediglich ein Schleimfilm. Wie ihre Fischahnen vollzogen sie Begattung, Eiablage und Entwicklung bis zum erwachsenen Tier noch im Wasser. Sie hielten sich in dessen Nähe auf, fraßen Pflanzen und gingen auf die Jagd.

Die Stickstoffausscheidung konnte an Land nicht mehr durch die direkte Abgabe von Ammoniak in das umgebende Wasser geschehen wie bei den primär wasserlebenden Tieren. (Ammoniak ist für den Körper schädlich, aber gut wasserlöslich.) Die Lösung war die Verbindung des Ammoniak mit CO2 in der Leber (mit Hilfe von Enzymen) zu Harnstoff (CO(NH2)2). Er ist eine sehr gut lösliche und relativ harmlose Substanz, deren Ausscheidung weit weniger von dem jetzt kostbar gewordenen Wasser erfordert als Ammoniak.

Aus einer Gruppe lungenatmender Amphibien (den Labyrinthodontiern) entwickelten sich nach molekularbiologischen Untersuchungen bereits vor 355 Millionen Jahren erste Reptilien, die Cotylosaurier. Sie stehen am Ursprung der zweiten großen Gruppe von Landwirbeltieren, den Amnioten. Bei ihnen verhinderten eine lederartige Haut und Embryonalhüllen der Eier (das Amnion ist die innerste) das Austrocknen der Embryonen während der Entwicklung im Ei. So wurde die Eiablage an Land ermöglicht und ein wassergebundenes Larvenstadium überflüssig.

Da die ledrige Außenhaut der Eier meist sehr schnell zerfällt, war der nächste Entwicklungsschritt die Bildung einer durch kristallines Kalziumkarbonat gehärteten Außenhülle. Sie bot Schutz und mechanische Stabilität für eine störungsfreie und sichere Entwicklung des Embryos. Dessen Versorgung mit Luftsauerstoff ermöglichte eine höhere Stoffwechselrate und damit auch eine schnellere Entwicklung. Vor mehr als 300 Millionen Jahren eroberten die Reptilien das Festland und ebneten den Weg für den Aufstieg der Vögel und Säugetiere, die ebenfalls zu den Amnioten gezählt werden.

Die Reptilien hatten schon einen besseren Verdunstungsschutz gegen Austrocknung: Eine zähe Haut und Hornschuppen, die die verdunstende Fläche der Haut einschränkten. Damit konnten sie sich länger an Land aufhalten und waren bei der Jagd auf Kleintiere im Vorteil.

[Bereits vor etwa 345 Jahrmillionen gab es die ersten Samenpflanzen. Mit ihnen waren Lebensmöglichkeiten geboten, die schnell von Insekten genutzt wurden. Geflügelte Insekten eroberten den Luftraum und beherrschten ihn 100 Millionen Jahre. Unter den günstigen Lebensbedingungen bildeten sich Riesenformen von Schaben, Libellen, Skorpionen und Tausendfüßern aus. Der größte bislang bekannte Gliederfüßer, der einem gigantischen Tausendfüßer ähnelt, dürfte bis zu 2,70 Meter lang und 50 Kilogramm schwer gewesen sein und vor 326 Millionen Jahren im Zeitalter des Karbon (vor ca. 359 bis 299 Millionen Jahren) gelebt haben.]

Die Augen erhielten Lider zum Schutz vor Verletzungen und Drüsen, die ständig Tränenflüssigkeit produzierten, zum Schutz vor Austrocknung. Das Riechsystem stellte sich stark um, denn es war jetzt vorteilhaft, möglichst viele der diversen flüchtigen chemischen Substanzen in der Luft genau identifizieren zu können. Giftiger Stickstoff wurde von den frühen Reptilien in Form von Harnsäure ausgeschieden, die je Molekül doppelt so viel Stickstoff bindet wie Harnstoff. Sie kann auch in übersättigter Lösung, als dicker Brei oder ganz trocken, abgegeben werden – was Wasser spart. Diese Art Stoffwechsel zeigen noch die heute lebenden Kriechtiere und Vögel. Dadurch, dass die Regelung des Wasserhaushalts vorwiegend Aufgabe der Niere wurde und nicht mehr über die Haut erfolgte, war diese in der Lage, Hornschuppen, Panzer und Federn (und bei den Säugern Fell) zu bilden. (Säugetiere scheiden wie die Amphibien Harnstoff aus. Sie haben aber leistungsfähigere Nieren entwickelt, die den Nachteil der geringeren Sauerstoffbindung von Harnstoff gegenüber Harnsäure ausgleicht.)

Amphibien und Amnioten unterscheiden sich auch in der Strategie, wie sie das sog. CO2-Problem lösten. Beim Aufenthalt an der Luft war nämlich nicht die Sauerstoffaufnahme das Problem, sondern die Abgabe von Kohlenstoffdioxid: Kann dieses als Stoffwechselprodukt nicht ausgeschieden werden, übersäuert das Blut. Die Stamm-Tetrapoden haben wahrscheinlich den Sauerstoff über die Luft aufgenommen und das CO2 über die Kiemen abgegeben. Die Amphibien verloren die ursprünglichen Fischschuppen und legten sich eine dünne, feuchte Haut zu, damit über diese der Gasaustausch funktioniert. Die Vorfahren der Amnioten entwickelten Knochenplatten als Verdunstungsschutz und begannen, ihre Lungen durch kräftige Bewegungen des Rippenkorbs zu entlüften. Diese Form der Saugatmung erwies sich als sehr effektiv.

Das Massensterben im Perm, der Zeitepoche vor 299 bis 252 Millionen Jahren, überlebten nur wenige Arten der frühen Amphibien und Reptilien. Diese bildeten den Grundstock, aus dem sich die biologische Vielfalt neu erschuf und aus dem alle modernen Landwirbeltierarten hervorgingen. Die Reptilien übernahmen jetzt geradezu explosionsartig das Ruder. Mit ihren gut ausgebildeten Lungen bemächtigten sie sich rasch der wichtigsten Lebensbereiche und überlebten auch in trockenen und extrem heißen Regionen, zu denen nie zuvor ein Wirbeltier vordringen konnte.

Der evolutionäre Landgang scheint nur einmal in der Geschichte der Wirbeltiere erfolgt zu sein – im Gegensatz zu ihrer mehrfachen Einwanderung ins Wasser. Unter den modernen Knochenfischen sind bis jetzt keine weiteren Formen entstanden, die dauerhaft zu Landtieren geworden sind. Sie blieben notgedrungen Fische, denn da das Land bereits mit Wirbeltieren besetzt ist, verhindern diese wohl eine erfolgreiche Einwanderung ihrer wasserlebenden Vettern.

Der Körperbau der frühen Tetrapoden erklärt, warum wir Menschen heute zwei Arme und zwei Beine haben, fünf Finger an jeder Hand, fünf Zehen an jedem Fuß und einen beweglichen Kopf auf dem Hals. Auch die Entwicklung des menschlichen Embryos, in der wir ein fischähnliches Stadium mit Kiemen und Fischschwanz (bis zur siebten Woche) durchlaufen und unsere Hände und Füße aus flossenähnlichen Strukturen entstehen, bestätigt unsere Abstammung.

REM

Unser Gedächtnis

Der römische Philosoph Cicero schrieb: „Das Gedächtnis ist der Schatzmeister und Hüter aller Dinge.“ Es ist tatsächlich alles, was unser Leben ausmacht; es dient uns durch den außergewöhnlichen Einfluss von Erfahrung und Lernen zur Gegenwartsbewältigung, verleiht uns eine individuelle Persönlichkeit und macht uns zu kulturellen Wesen.

Es spricht manches dafür, dass sich Gedächtnissysteme in der Evolution in gewissem Maße nacheinander entwickelt haben. Denkbar und auch aus der Tierbeobachtung ableitbar ist, dass als erstes das Vermögen aufkam, früher Wahrgenommenes wieder zu erkennen. Geruchs- und evt. auch Geschmackseindrücke mögen dabei zu den ersten Eindrücken gehört haben, die sich abzuspeichern lohnten. Die so entstandene Annäherungs-Vermeidungs-Funktion war überlebenswichtig und wurde im Laufe der Evolution auf die Gefühle verlagert, wobei sich die Verknüpfung von Gefühlen zum Gedächtnis in all seinen Varianten entwickelte. Während zunächst also der Duft selbst Botschaften enthielt, löst er bei höheren Tieren und beim Menschen Emotionen aus, die verhaltenssteuernd wirken können. Heute noch ist das limbische System, ein alter Gehirnkomplex (zu dem auch Amygdala und Hippocampus gehören), noch immer auch u. a. für die Bewertung von Gerüchen verantwortlich.

Gedächtnisbildung

Gedächtnisbildung ist ein komplexer Prozess im Gehirn, an dem außer dem limbischen System auch verschiedene Regionen der Großhirnrinde (Kortex) beteiligt sind. Auf der zeitlichen Ebene kann man folgende Schritte unterscheiden:

  1. Informationsaufnahme 2. Einspeicherung 3. Konsolidierung 4. Ablagerung 5. Abruf

Informationsaufnahme

Informationen aus der Umwelt werden von den Sinnesorganen aufgenommen und dort schon mehr oder weniger unbewusst vorverarbeitet. Anschließend gelangen sie (über Thalamus und Hippocampus) zur weiteren Verarbeitung in die sensorischen Zentren der Gehirnrinde. Hier wirken sämtliche Sinnesreize für ungefähr eine Viertelsekunde nach, wodurch es ermöglicht wird, dass die je nach Sinnesorgan unterschiedlich schnell ankommenden Signale zeitlich angeglichen werden können. Dieses sensorische Gedächtnis kann enorm viele Reize speichern, allerdings gehen sie auch schnell wieder verloren. Sie werden durch nachfolgende Reize meist überschrieben, damit sie sich nicht gegenseitig stören.

Der Input in allen sensorischen Kortexen fließt wieder zum Hippocampus zurück. Auf diesem Weg wird die Information mit bereits gespeicherten Informationen verknüpft und eine Bedeutungsanalyse vorgenommen. Dazu prüft das Emotionszentrum des Gehirns, die Amygdala, die einlaufenden, noch unbewussten Eindrücke, ob sie emotionsauslösende Reize enthalten, und gibt den Erinnerungen eine emotionale Färbung. In den Basalganglien, die unterhalb der Großhirnrinde liegen, wird überprüft, ob die eingegangene Information vor dem Hintergrund vorheriger Erfahrung hinreichend neu oder hinreichend wichtig bzw. auffällig ist. Das Ergebnis melden die Basalganglien an den Hippocampus zurück. Sind die Sinnesdaten alt und unwichtig, werden sie nicht weiterverarbeitet und gelangen dann auch nicht in unser Bewusstsein. Sind sie wichtig, aber hinlänglich bekannt, werden Verarbeitungsautomatismen aufgerufen, die wir nicht oder höchstens intuitiv erleben. Nur das, was aktuell neu und wichtig ist, nützlich oder interessant, rückt in unsere bewusste Aufmerksamkeit und gelangt ins Arbeitsgedächtnis.

Arbeitsgedächtnis

Das Arbeitsgedächtnis stellt den eigentlichen Eingang in das Gedächtnis dar und ist zuständig für die kurzfristige Verarbeitung von Sinnesinformationen. Es fokussiert die Aufmerksamkeit und ist so gut wie an allen kognitiven Prozessen beteiligt. Für Sekunden, aber auch für mehrere Stunden kann das Arbeitsgedächtnis Erinnerungen speichern. So arbeitet es im Hintergrund, während wir lesen, kopfrechnen oder ein Gespräch führen. Es sorgt für eine möglichst sinnvolle Verbindung aktuell abgerufener Gedächtnisinhalte und ermöglicht einen Vergleich mit Vorerfahrungen, wenn wir einen Gedanken verfolgen. Dabei blendet es unwichtige Details aus und schirmt die Inhalte gegen unerwünschte störende Einflüsse ab.

Insgesamt wird nur ein Bruchteil der ursprünglichen Informationsmenge in diesem Kurzzeitspeicher festgehalten. In der begrenzten Verarbeitungs- und Speicherkapazität liegt ein wesentliches Merkmal des Arbeitsgedächtnisses. Sie ist u. a. der Grund, warum es so schwierig ist, länger als wenige Minuten komplizierte Inhalte zu verfolgen. Kaum ein Mensch kann einem Vortrag über einen neuen und komplizierten Lerninhalt für mehr als ein paar Minuten konzentriert zuhören. Dann muss das Arbeitsgedächtnis Gelegenheit erhalten, „Atem zu holen“, währenddessen das Gehörte (oder Gelesene) vorläufig zusammengebunden und ins Zwischengedächtnis transportiert wird. Anderenfalls „schiebt“ neue Information die alte aus dem Arbeitsgedächtnis hinaus.

Es handelt sich beim Arbeitsgedächtnis um eine äußerst labile Form der Fixierung bzw. Speicherung von Gedächtnisinhalten. Sobald dieses die Inhalte (Informationen) nicht mehr aktiv bearbeitet oder wiederholt, verblassen die Inhalte. Der eigentliche „Zweck“ des Arbeitsgedächtnisses liegt also nicht in der Speicherung der Informationen, sondern in deren Verarbeitung. Daher der Name. Das Arbeitsgedächtnis ist unerlässlich für viele geistige Tätigkeiten und kognitive Fähigkeiten wie z. B. Kopfrechnen, logisches Schlussfolgern, Verstehen von Sprache oder Planen von Handlungen. Mit ihm bewältigen wir unser Hier und Jetzt. Dafür ist es notwendig, kurzfristig vielerlei Informationen aufzunehmen, die wir schon bald wieder vergessen können. Schließlich brauchen wir nicht die Sachen für jeden Einkauf oder die Zimmernummer des Aufenthalts in einem Hotel lange im Gedächtnis zu behalten.

Wenn das Arbeitsgedächtnis aussetzt, stehen wir in einem Raum, ohne zu wissen, was wir dort tun wollten. Oder wir lesen einen Satz immer und immer wieder, weil wir uns beim besten Willen nicht auf den Inhalte konzentrieren können.

Die Einspeicherung im Hippocampus ist die biologische Grundlage des Arbeitsgedächtnisses. Über das „Tor zum Gedächtnis“ (Hippocampus) werden Neurone im Kortex verknüpft (gleichzeitig aktiv). Das „flüchtige Gedächtnis“ entsteht dann in Form rasch abklingender Erregungsschleifen immer wieder neu aus der koordinierten Aktivität verschiedener Hirnregionen, die zuvor an der Wahrnehmung und Repräsentation einer Information beteiligt waren. Dabei kommt den Synapsen, welche die Milliarden Nervenzellen in unserem Gehirn verbinden, eine zentrale Rolle zu: Es kommt zu einer vorübergehenden funktionellen Verstärkung der Nervenverbindungen, was eine leichte und schnellere Signalübertragung ermöglicht. „Stabile“ Kontakte werden nicht ausgebildet.

Konsolidierung (Übergang ins Langzeitgedächtnis)

Sind die Informationen langfristig wichtig genug, beginnt nach etwa 30 Sekunden bis 30 Minuten allmählich die Einspeicherung ins Langzeitgedächtnis, dessen Behaltensspanne zwischen 30 Minuten bis Jahrzehnte liegt (s. u.). Den Übergang von kurzfristigen zu dauerhaften Gedächtnisspuren, also vom Arbeitsgedächtnis ins Langzeitgedächtnis, nennen Neurowissenschaftler Konsolidierung. Diese wird gefördert durch den Grad der Aufmerksamkeit (Konzentration), emotionale Bedeutung und Neuheit.

Lernen beruht aus neurobiologischer Sicht auf der langsamen Umstrukturierung neuronaler Netzwerke, die sich über verschiedene Bereiche des Gehirns erstrecken. Je häufiger Neurone gemeinsam aktiv sind, desto fester und stabiler werden die synaptischen Verbindungen innerhalb dieses Netzwerks. Neue synaptische Strukturen ermöglichen es dem Gehirn, Informationen differenzierter zu verarbeiten. Gleichzeitig werden andere Zellen eliminiert, mutmaßlich die, welche widersprüchliche Assoziationen liefern würden. Entscheidend an der Gedächtniskonsolidierung ist die Neubildung von Nervenzellen (Neurogenese) im Hippocampus, beim Menschen sind es täglich etwa 1400. Durch körperliche Aktivität oder Leben in reizreicher Umgebung lässt sich die Neurogenese erhöhen. Vermutlich dienen die neuen Neurone dazu, flexibel neue Informationen in bestehende Kontexte zu integrieren und ähnliche Information voneinander zu unterscheiden (Feinabstimmung).

[Thetawellen, die sich drei- bis siebenmal in der Minute wiederholen, helfen beim Abspeichern von Erinnerungen, aber auch beim orchestrierten Abruf (s. u.). (Feuern einzelne Neurone unabhängig von diesem Rhythmus, wird das Gelernte schnell wieder vergessen.) Thetawellen treten im Gehirn vor allem auf, wenn wir unser assoziatives Gedächtnis bemühen. Durch die Oszillationen werden vermutlich weit entfernte Hirnzentren miteinander synchronisiert. ]

Je nach Umständen gehen uns aus der Menge der Informationen, die wir alltäglich erhalten, 60 bis 80% verloren. Nur Bruchteile der ursprünglichen Information kommen also im Langzeitgedächtnis an. Die Konsolidierung kann gestört und blockiert werden, etwa durch Drogen, Medikamente oder Stress. Dann verfliegt die Erinnerung und massive Erinnerungslücken können die Folge sein.

Zur Aufnahme und Verarbeitung der Information braucht unser Gehirn eine gewisse Zeit. Offenbar findet der eigentliche Lernprozess gerade dann statt, wenn Pausen eingelegt werden. Dann arbeiten wiederholt die Bereiche, die schon vorher (z. B. während des Übens) aktiv waren, allerdings diesmal dreimal so häufig und in 20-facher Geschwindigkeit. Für die Konsolidierung ist in der Regel der Schlaf besonders wichtig. Im Schlaf gelangen keine neuen Informationen in den Hippocampus – und Wichtiges kann ungestört in die Großhirnrinde geleitet werden, wo es abgespeichert wird. Tendenziell schwächer ausgebildete Synapsenverstärkungen vom Vortag werden oft während des Schlafes zurückgebaut. Mache Erinnerungen gehen also buchstäblich über Nacht verloren. Der wesentliche Kern der Erinnerung jedoch bleibt (auch im Hippocampus) gespeichert. So können wir auch künftig eine neue Situation blitzschnell einordnen und darauf reagieren.

Langzeitgedächtnis

Erst im Laufe von Stunden oder Tagen werden Informationen – äußerst selektiv nach der emotionalen und kognitiven Bewertung und je nach individueller Situation – in das Langzeitgedächtnis übertragen. Im Vergleich zu den ungeheuren Datenmengen, die vom Gehirn aufgenommen und bewertet werden, wird nur relativ weniges davon dauerhaft gespeichert. Nur bei einem einschneidenden, also hochemotionalen Erlebnis gelangen meist auch belanglose Begleitumstände in den Dauerspeicher. Allerdings ist die Speicherkapazität des Langzeitgedächtnisses im Vergleich zum Arbeitsgedächtnis sehr groß: Man spricht von 10 Milliarden bis 100 Billionen Bit. (Schätzungsweise durchschnittlich einen Million Dinge kann ein Mensch speichern.)

Der Hippocampus legt fest, wo in der Großhirnrinde was in welchem Kontext abgespeichert wird. Da er einen geringen Speicherplatz hat, ist er langfristig nur für biografische Erinnerungen wichtig. Ansonsten verbleiben im Hippocampus lediglich Stichworte, etwa der zeitliche Kontext. Über diese Stichworte lassen sich komplexere Informationen aus dem Kortex, der im Wesentlichen für das Langzeitgedächtnis verantwortlich ist, abrufen. Fehlt der Hippocampus oder ist er beschädigt, bleibt das Langzeitgedächtnis zwar bestehen, aber es können keine neuen Erinnerungen mehr enkodiert werden. Gerade Erlebtes bleibt dann nicht länger als fünf Minuten im Gedächtnis. Im Neokortex, der äußeren Struktur der Großhirnrinde, sind die synaptischen Verbindungen in den neuronalen Schaltkreisen (Netzwerken) im Unterschied zum Arbeitsgedächtnis langfristig gefestigt. Sie befinden sich vor allem in den Regionen, die auch am ursprünglichen Erleben beteiligt waren: in den motorischen, sensorischen und emotionalen Zentren.

Unterteilung des Langzeitgedächtnisses

Es scheint verschiedene Arten von Gedächtnisprozessen zu geben, die bezüglich ihrer Lokalisation im Gehirn, aber auch funktional unterscheidbar sind. Sie arbeiten grundsätzlich aber zusammen und ergänzen sich (im Alltag z. B. beim Autofahren oder Spielen eines Musikinstruments). Die Befunde sprechen vor allem für die funktionale Unterteilung des Langzeitgedächtnisses in ein deklaratives (oder explizites) und ein prozedurales (implizites) Gedächtnis bzw. Wissen.

Das prozedurale oder Fertigkeitengedächtnis speichert Verhaltensweisen, Gewohnheiten, automatisierte Bewegungsfolgen und unausgesprochene Regeln – also Inhalte im Sinne von „gewusst, wie“ -, die unbewusst ablaufen. Kennzeichnend sind ein langsamer Erwerb (z. B. durch Einüben) sowie eine feste und langfristige Speicherung. Die Fertigkeiten sind hochgradig automatisiert (z. B. komplexe Handlungen wie Stabhochsprung oder Gitarrenspiel).

Die Informationen werden neuronal in den motorischen und sensorischen Arealen der Großhirnrinde abgelegt. Aber auch die Basalganglien und Areale des Kleinhirns sind involviert. Beim Brachliegen einer Fertigkeit (z. B. Fahrradfahren) werden die beim Lernen gewachsenen Zellkontakte im Gehirn nicht abgebaut, sondern nur stillgelegt. So bleibt eine Fertigkeit, einmal erlernt, ein Leben lang in unserem Denkorgan gespeichert.

Im deklarativen Gedächtnis wird das Wissen, das man von der Welt hat, gespeichert. Es handelt sich also um Inhalte im Sinne von „gewusst, was„. Im engeren Sinne unterscheidet man das episodische (oder autobiografische) Gedächtnis (Ereignisse oder Erlebnisse) und das semantische Gedächtnis oder Wissenssystem (Allgemeinwissen und Fakten). Beide sind wohl eng miteinander verflochten, wobei das zweite dem ersten vielfach übergeordnet sein dürfte.

Deklarative Lernprozesse laufen extrem schnell ab. Dem Hippocampus reicht häufig schon eine einmalige Konfrontation mit einem Ereignis, um eine dauerhafte Gedächtnisspur zu bilden. Das erscheint sinnvoll, denn Erlebnisse sind einmalig und erfordern daher eine sofortige Abspeicherung. Genauso schnell jedoch werden die Inhalte häufig auch wieder vergessen.

Semantisches Gedächtnis (Wissensgedächtnis)

Im Wissensgedächtnis werden kontext- und erlebnisunabhängige Wissensinhalte im engeren Sinne (Fakten) abgespeichert. Es kommt eher ohne Emotionen aus. Seine Inhalte können leicht abgerufen werden. Die Verfestigung von Fakten dauert in der Regel Tage bis Wochen. Hat sich das System noch nicht konsolidiert, kann es leicht überlagert werden.

Faktisches Wissen wird vor allem in die Assoziationsgebiete des Kortex (linke Hirnhälfte) übertragen und dort abgespeichert.

Episodisches (autobiografisches) Gedächtnis

Das episodische Gedächtnis ist der Dreh- und Angelpunkt unseres Menschseins. Es enthält Episoden mit Ketten von Ereignissen, die Menschen in ihrem Leben erfahren haben. Das autobiografische Gedächtnis wird nach überwiegender Auffassung heute als eigenständige Form angesehen. Es enthält nur Erinnerungen an selbst Erlebtes und auch semantisches Wissen über uns selbst. Das autobiografische Gedächtnis bildet sich im Laufe der Kindheit aus und ist die Basis dafür, eine eigene Identität zu entwickeln. Der Prozess ist erst zum Ende der Adoleszenz vollständig abgeschlossen. Beim alten Menschen – mitunter auch vorher – kann dieses persönliche Gedächtnis auch wieder aussetzen. Weil das autobiografische Gedächtnis so komplex ist, lässt es sich auch am einfachsten aufs Glatteis führen (s. u.).

Gemeinsam mit Teilen des Stirnlappens ist das limbische System, vor allem der Hippocampus, für das Abspeichern autobiografischer Ereignisse verantwortlich. Diese werden vor allem in den Assoziationsgebieten der Großhirnrinde (rechte Hemisphäre) abgelegt. (Forscher vermuten, dass alles, was später im autobiografischen Gedächtnis landet, vorher auch vom Faktengedächtnis überprüft wird.)

Am heranwachsenden Menschen zeigt es sich, wie die Gedächtnisfunktionen vermutlich aufeinander aufbauen. Ein Säugling lernt zunächst, Sinneseindrücke zu unterscheiden und selektiv damit umzugehen. Erst später erwirbt er die Kontrolle über die Bewegungen (Fertigkeitsgedächtnis), z. B. Greifen, Gehen, Sprechen. Die Forscher nehmen an, dass Kinder nicht früher als mit drei bis vier Jahren ein echtes episodisches Gedächtnis aufzubauen beginnen, wenn sie einen größeren und sichereren Wortschatz erworben haben. Das Wissenssystem scheint daraus erst später hervorzugehen. (siehe auch unten!)

Abruf der Gedächtnisinhalte (Erinnerungen)

Zum einen können wir aktiv (mit einem hohen Maß an Assoziationskraft) versuchen, uns zur rechten Zeit an etwas zu erinnern. Dazu breitet sich im Gehirn eine Aktivitätswelle aus. Wird dabei das gesuchte Element (in Form eines ein bestimmten Aktivitätsmusters im Gehirn) erfasst, so wird es erinnert. Dabei spult das Gehirn, ausgehend vom Hippocampus, das ursprüngliche Aktivitätsmuster erneut ab. Es kann auch passieren, dass uns eine Absicht, ein Ereignis oder ein Begriff ganz plötzlich wieder „in den Kopf schießt“, obwohl wir zuvor gar nicht darüber nachgedacht haben. Bei der Wiederaktivierung von Gedächtnisinhalten spielen wie bei der Einspeicherung auch unbewusste Anteile, z. B. Stimmungen, mit.

Die Chance, etwas im richtigen Moment abzurufen, hängt davon ab, wie gut wir die Erinnerungen sozusagen „etikettiert“ haben. Je mehr Bezüge ein Begriff zu anderen Begriffen besitzt, desto dauerhafter ist er gespeichert und umso wahrscheinlicher ist ein schneller Abruf. Eine episodische Erinnerung besteht grundsätzlich aus einem Inhalt sowie einem Kontext, sprich: dem Ort und der Zeit des Erlebens, sowie dem damaligen emotionalen Zustand. Sie ist in verschiedene Elemente (Seh-, Hör-, Tast-, Geruchsinformationen usw.) zerlegt, die an ganz verschiedenen Stellen gespeichert sind, aber alle zusammen machen die Spur einer Erinnerung aus. Je mehr dieser Repräsentationen vorhanden sind, umso stärker ist das Netzwerk organisiert und desto besser wird ein Inhalt erinnert. So entstehen komplexe Sequenzen von Erinnerungen, die uns helfen, Zusammenhänge zu erfassen und kommende Ereignisse vorauszusehen.

Beim Abrufen und Auftauchen der Erinnerungen wird das weit verteilte, vielgliedrige Netzwerk von Neuronen, das bei der Herstellung von Erinnerungsspuren in Anspruch genommen wurde, wieder aktiviert. Daran wirkt auch wieder der Hippocampus mit. (Er wird allerdings nicht beim Abruf von Wissen, das automatisiert ist, benötigt; hierbei synchronisieren sich die neuronalen Instrumente von selbst.) Aufgrund der vielen festen Verbindungen in den Netzwerken kommt es schon zur Aktivierung des gesamten Musters, wenn nur wenige oder ein Teil der dazugehörigen Neuronen aktiviert werden. Häufig reicht dann schon ein kleiner Hinweisreiz aus, um Erlebtes erneut abzurufen.

[Die oszillatorischen Theta-Muster, die während der Konsolidierung auftreten, wiederholen sich beim Abruf einer Information – und zwar umso deutlicher, je besser man sich erinnert. Können korrekte Assoziationen nicht mehr hergestellt werden, ist auch das ursprüngliche Theta-Muster nur schwach ausgeprägt.]

Gedächtnisprobleme

Erst wenn Kinder lernen, über Erlebtes zu sprechen, beginnen sie, dieses biografisch einzuordnen und gleichzeitig die Erinnerung daran zu festigen. Mit zunehmendem Alter verweilen die Erinnerungen immer länger im Langzeitspeicher. Allerdings reicht ein solches Gedächtnis noch nicht unbedingt für eine autobiografische Erinnerung. Daher können sich Erwachsene meist nicht mehr an Erlebnisse aus ihren ersten Lebensjahren, in denen wir unglaublich viel lernen, bewusst erinnern.

Der für das Gedächtnis besonders wichtige Hippocampus ist zunächst noch nicht genügend ausgereift. Ein Teil von ihm ist erst im Alter von vier bis fünf Jahren voll entwickelt. Außerdem ist die Ummantelung der Nervenfasern (Axone) mit einer fetthaltigen Isolierschicht (Myelinisierung), die für eine schnelle und sichere Weiterleitung der Nervenimpulse wichtig ist, noch nicht abgeschlossen.

Aber auch im Gedächtnis der Erwachsenen ist Wissen nicht sicher abgelegt wie in einem Computerspeicher, um es jederzeit wieder eins zu eins, also unverändert, abrufen zu können. Erinnern ist grundsätzlich eine Rekonstruktion früherer Erfahrungen – eine Neuzusammenstellung aus den vielen parallel aktiven Einzelnetzwerken, in denen Teilaspekte einer Erfahrung abgespeichert sind. Durch Schüsselreize werden sie beim Erinnern abgerufen und neu zusammengefügt, aber nicht immer korrekt. Manchmal vermischen sich neue Eindrücke mit alten, oder sie verfärben sich durch veränderte Gefühle, Stimmungen oder Meinungen. So kann sich der aktuelle Informationsabruf im Detail von der letzten Erinnerung unterscheiden.

Das Gedächtnis dient dem Leben, und dieses bedarf fließender Anpassungen des erworbenen Wissens an die Anforderungen des gegenwärtigen Augenblicks und der Zukunftsplanung. Daher nimmt es, was ihm nützt, und sortiert aus, was ihm überflüssig oder unangenehm erscheint. Wann immer wir eine Erinnerung aktivieren, ist sie also formbar – durch äußere Einflüsse, aber auch durch eigene Überlegungen. Schon das bloße Nachdenken über Vergangenes kann unsere Erinnerung beeinflussen. Auch wenn diese in eine sprachliche Form gegossen wird, büßt sie mit jedem Abrufen an sinnlicher Kraft ein. Es reicht schon eine einzige Unterhaltung unter Freunden, um die Erinnerung eines jeden Einzelnen zu verändern. Wenn ein Zeuge den Hergang eines Unfalls zum dritten Mal schildert und dabei einen Fehler macht, ist es sehr wahrscheinlich, dass er diesen Fehler als wahres Detail in die vierte und fünfte Schilderung einbaut.

Britische Forscher haben nachgewiesen, dass die Beschreibung eines Vorfalls umso phantastischer ausfällt, je länger das Ereignis zurückliegt. Dafür sorgt auch unsere ausgeprägte Vorliebe für Assoziationen. Diese verbinden unübersichtliche Fakten zu einem leicht begreifbaren Ganzen. Dabei lassen wir auch Vermutungen einfließen, die von der erlebten Realität abweichen. Besonders bei sekundenschnellen Szenen im Straßenverkehr können Erinnerungen leicht „verschmutzen“. Falsche Erinnerungen können aber auch durch starke Emotionen, Schlafmangel oder z. B. den Konsum von Cannabis entstehen.

Durch Suggestion ist unser Gedächtnis auch gezielt manipulierbar, wobei in der Regel dabei Sprache (Suggestivfragen) als vermittelndes Medium beteiligt ist. Setzt man Zeugen eines Geschehens nachträglich neuen und irreführenden Schilderungen des Ereignisses aus, beispielsweise durch Berichte aus Medien, so werden ihre Erinnerungen daran verzerrt, ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Menschen, vor allem wenn sie als Person nicht allzu gefestigt sind (z. B. auch Kinder und Jugendliche) lassen sich sogar bei Verhören oder in einer psycho-therapeutischen Sitzung durch fingierte Indizien dazu bringen, die Schuld für eine nie begangene Tat zu übernehmen; sie schmücken dann sogar die falschen Erinnerungen mit Details aus, die sie in ihren Schuldgefühlen bestärken.

Unsere Erinnerungen sind also keineswegs in Stein gemeißelt, sondern verändern sich mit jedem Abruf. Die Vergangenheit sei eine Nachbildung, die Zukunft eine Abbildung, meinte schon der griechische Philosoph Aristoteles vor über 2300 Jahren lebte. Es ist der Normalfall, dass wir keine stabilen Daten wiedergeben, obwohl wir das, was wir „aus dem Gedächtnis“ reproduzieren, nur allzu gerne für „wahr“ halten. Meist wird die Vergangenheit verklärt und wir stehen in unserem Bild vergangener Tage in einem zu guten Licht da. „Jeder von uns“, schrieb der Schweizer Schriftsteller Max Frisch, „wird eines Tages die Biographie erfinden, die er für sein Leben hält.“

Der Abruf manch alter Erinnerung kann auch zumindest zwischenzeitlich erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht werden. Bestimmte Umweltsituationen können sich so auf das Gehirn auswirken, dass es zu Gedächtnisblockaden kommt. Unter Stress wird die Produktion des Hormons Cortisol gesteigert. Geschieht dies in moderatem Umfang, verbessert sich dadurch die Gedächtnisleistung. Tritt Stress aber zu stark oder chronisch auf, ist der normale Informationsfluss blockiert und das Abrufen von Gedächtnisinhalten gehemmt. Die Denkleistung fokussiert sich dann ausschließlich auf den Stressauslöser oder schaltet sich sogar komplett ab.

Dies führt oft so weit, dass andauernde oder sehr starke Stresserfahrungen die kognitiven Fähigkeiten langfristig verschlechtern. Erfahrungen, die uns (im positiven wie im negativen Sinn ) emotional aufwühlen, bleiben außergewöhnlich gut im Gedächtnis haften. So brennt sich etwa ein schweres Trauma tief ins Gedächtnis ein. Bei solch schrecklichen Erfahrungen kann der Abruf der Erinnerung aber auch blockiert sein und tritt nur bruchstückhaft in Form von Flashbacks auf.

Vergessen

Das biologische Gehirn ist nicht nur dafür bekannt, dass es sich immer wieder irrt, ihm gehen auch allzu leicht Dinge verloren – offensichtlich nicht nur mangels Aufmerksamkeit. Vergesslichkeit gehört neben Fehlern zur Natur des Menschen. Längerfristiges Speichern und Erinnern leisten wir uns nur bei einem verschwindend kleinen Teil unserer Erlebnisse. Im Allgemeinen aber werden Informationen nach einiger Zeit in den Hintergrund gedrängt, manche von neueren, interessanteren Informationen überlagert, ähnliche und damit potenziell störende Informationen unterdrückt. Das verhindert die Anhäufung großer Mengen langfristig unnützer Gedächtnisinhalte und schafft Platz für neue. Im Alltag nutzt uns das z. B., wenn sich unsere Handynummer ändert. Da wir uns die neue Zahlenfolge immer wieder in Erinnerung rufen und so diese Information stärken, verabschiedet sich allmählich die alte Nummer aus dem Langzeitgedächtnis.

Häufig kommunizierende Kontaktstellen zwischen Nervenzellen schwächen weniger benutzte Synapsen, indem sie von ihnen sog. Wachstumsfaktoren (körpereigene Proteine) abziehen, die wichtige Funktionen regulieren. Innerhalb von Stunden oder Tagen können Synapsen sogar einfach von der Bildfläche verschwinden. Auch neue Nervenzellen können zum Vergessen beitragen: Sie beeinflussen bestehende Schaltkreise, indem sie sich offenbar in diese teilweise integrieren und so alte Erinnerungen mit neuen Informationen überschreiben. Allerdings werden ungenutzte Synapsen im Normalfall nicht ganz abgebaut, sondern nur in eine Art Dornröschenschlaf versetzt. Sie können später wieder reaktiviert werden. (s. u.)

Würde jede belanglose Information ewig in unserem Kopf bleiben, wären wir schnell überfordert. Daher behalten wir nur das im Gedächtnis, was für unsere aktuelle Lebenssituation von Bedeutung ist. Vergessen erlaubt es dem Gehirn, sich auf die jeweils wichtigen Informationen zu fokussieren. Auch abstraktes Denken funktioniert nur, wenn wir Unmengen von Informationen weglassen, ignorieren und vergessen. Das Gedächtnis absolviert dabei eine Gratwanderung: Es darf nämlich auch nicht zu viel vergessen, um eine Stabilität im Leben zu gewährleisten.

Vereinzelte Menschen verfügen über ein verblüffend exaktes autobiografische Gedächtnis und erinnern sich detailliert ab einem bestimmten Zeitpunkt in ihrer Kindheit an jeden einzelnen Tag ihres Lebens. Ihr Gedächtnis trennt dabei Wichtiges nicht von Unwichtigem, für viele Betroffene eine äußerst belastende Bürde. Sie haben das Gefühl, in einem reißenden Strom aus Informationen unterzugehen. Andere besitzen ein herausragendes semantisches Gedächtnis und können sich mühelos riesige Mengen eher bedeutungsloser Fakten merken, beispielsweise Reihen und Spalten von Zahlen. Die Betroffenen haben es oft sehr schwer im Alltag, ihr Wissen kreativ und konstruktiv einzusetzen. Häufig gehen solche herausragenden punktuellen Gedächtnisleistungen mit mehr oder weniger starken Defiziten im Allgemeinen einher.

(Verantwortlich könnte ein Versagen der Kontrolle über die Proteinproduktion an den Synapsen sein, aufgrund dessen bereits geringe Reize diese schnell und nachhaltig verändern.)

Heute schließen sich immer mehr Wissenschaftler der Ansicht an, dass wir das Allerwenigste wirklich vergessen, es verschwindet nur aus dem Bewusstsein. Die meisten einmal erlernten Inhalte und erlebten Episoden sind in Form chemischer Markierungen nach wie vor im alternden Hippocampus vorhanden. Die ständigen Umbauprozesse, die mit dem Lernen neuer Informationen einhergehen, haben lediglich bewirkt, dass wir alte Inhalte nicht mehr wiederfinden. Es handelt sich dabei also nicht um ein Speicher-, sondern um ein Zugriffsproblem: die Erinnerungen bleiben gespeichert, nur die zu ihnen führende Pfade sind nicht mehr vorhanden. Es genügt aber lediglich ein Schlüsselreiz, um eine „vergessene“ Information wieder zu reaktivieren. Auf diese Weise lässt sich auch das leichtere Lernen von Dingen, die schon einmal gelernt wurden, erklären.

Bei älteren Menschen arbeitet das System von Lernen und Gedächtnis offenbar nicht mehr so gut. Bereits ab dem 30. Lebensjahr nimmt die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses ab, das ja u. a. die selektive Aufmerksamkeit im Gehirn steuert. Vor allem verringert sich im Alter die Leistung des sog. prospektiven Gedächtnisses („sich rechtzeitig erinnern, dass man etwas machen wollte“), das viel Aufmerksamkeit benötigt. Bis zu zwei Drittel unserer täglichen Gedächtnisprobleme sind darauf zurückzuführen. Das Arbeitsgedächtnis wird zudem beispielsweise auch durch Schlafmangel, Stress und seelische Belastung eingeschränkt.

Das implizite Gedächtnis, das automatisch arbeitet, hat sogar schon in einem Alter von etwa 12 Jahren seine höchste Leistungsfähigkeit, die dann kontinuierlich abnimmt. Mit 35 Jahren beginnt das Nachlassen des deklarativen Gedächtnisses. Je älter wir werden, umso mehr Wissen mit ähnlichen Elementen speichern wir ab. Dadurch kommt das Gedächtnis immer häufiger in die Lage, zwischen ähnlichen Erinnerungsspuren zu schwanken. So arbeitet das semantische Gedächtnis immer langsamer und unpräziser. Namen sind dabei häufiger betroffen als die Bezeichnungen für Gegenstände. Der Klang eines Wortes (seine Phonologie) und die Informationen darüber (der Inhalt) befinden sich in verschiedenen Gehirnregionen. Mit dem Alter lockert sich die Verbindung zwischen diesen – und die Erinnerung an Namen wird schwächer, wenn sie nicht oft benutzt werden. Die Gedächtnisleistung insgesamt nimmt jedoch zunächst noch nicht wesentlich ab.

Im Alter wird es immer schwieriger, gezielt auf Erinnerungen zurückzugreifen und neue Informationen in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Schließlich müssen Ältere einen deutlich größeren Datenbestand durchforsten als jüngere, um die gesuchten Fakten oder die gesuchte biografische Erinnerung zu finden. Länger zurückliegende Ereignisse scheinen stabiler und reichhaltiger erinnert zu werden als kürzer zurückliegende, denn im jungen Erwachsenenalter haben Erinnerungen meist eine hohe emotionale Bedeutung – die mit ihnen verbundenen Erlebnisse sind neu und stellen oft Weichen für das weitere Leben. Daher sind Erinnerungen daran nicht nur resistenter gegenüber Veränderungen, sondern auch gegen Reflexionen.

Ältere Menschen achten bei neuen Erfahrungen nicht mehr so sehr auf Details, da ihr Gehirn eine große Zahl an ähnlichen, generalisierbaren Erinnerungen beherbergt. So gelangen im Alter vieler Senioren auch nur noch wenige neue Erinnerungen in den Langzeitspeicher der Großhirnrinde. Vorfreude, Neugier und das Erkunden von Neuem können aber das Lern- und Gedächtnissystem positiv beeinflussen – und es so im Alter fit halten. Dazu scheint auch ein gesunder Lebensstil, eine Kombination aus körperlicher und kognitiver Anstrengung, hilfreich.

REM

Die Anfänge der Kunst

Als eine Art Gegenpol zu den rein nützlichen Dingen schuf der Mensch die Kunst. Vielleicht kam sie mit der Langeweile, als er sich nicht mehr nur um das eigene tägliche überleben kümmern musste. So fand er Zeit, über sich selbst und die Welt um ihn herum nachzudenken, aber auch zum Malen, zum Schnitzen und zum Anfertigen von Schmuck. Manche Wissenschaftler sehen das „Kunst-Können“ als Nebenprodukt der Gehirnentwicklung. Ein größeres Gehirn vermag besser frei zu assoziieren als ein kleineres, schon weil es mehr Zellen und Verbindungen besitzt. Eindrücke sind dadurch untereinander vielfältig kombinierbar. So wurde die Repräsentation von Wissen in neuen Zusammenhängen möglich. Quellen, Bäume und Berge wurden belebt, emotionale Beziehungen zu Pflanzen und Tieren aufgebaut; es entstanden Fantasie, Mythen und Religion.

Die Kunst kam also nicht aus dem Nichts. Neue Ideen waren stets bereits in den Anfängen vorhanden, brachen aber zunächst nur selten aus. Über Hunderttausende von Jahren glommen sie unter der Oberfläche, bis bestimmte kulturelle, soziale oder klimatische Bedingungen – oder eine Kombination von allen – das kreative Potenzial des großen Gehirns in vollem Umfang entfachten. Vielleicht schon bevor unsere Vorfahren Afrika verlassen hatten, haben sie sich fiktive Geschichten erzählt. Später entwickelten sie die Fähigkeit, sich in Bildern und Symbolen auszudrücken und auszutauschen. Die künstlerischen Darstellungen sollten den Zusammenhang und die Bedeutung von Ereignissen erklären und gaben dem Menschen einen Rahmen für sein Handeln.

Eine Anzahl von Funden stärken die Position von einem frühen und allmählichen Erscheinen des symbolischen Denkens. Womöglich bildete dieses sich sogar schon bei den Vorfahren von Homo sapiens und Neandertalern bzw. Denisovanern heraus. Zu Zeiten des Homo erectus wurden besondere Arten von Faustkeilen gefunden – manchmal aus wertvollem Material hergestellt und eingehender bearbeitet, als es für einen reinen Gebrauchsgegenstand nötig gewesen wäre, aber nicht mehr brauchbar zum Zerteilen von Tieren oder Zerhacken von Pflanzen. Sie wurden wohl demonstrativ zur Schau gestellt, möglicherweise als Statussymbol.

Auf der indonesischen Insel Java (in Trinil) wurde ein Haufen von etwa 200 Muschelschalen gefunden – zwischen 430 000 und 540 000 Jahre alt. Auf einer der Muschelschalen wurden innen geometrische Einritzungen (Zickzacklinien, Winkel) entdeckt, erstaunlich gerade Linien, die wohl mit Hilfe von Zähnen von Süßwasserhaien angefertigt wurden – ob absichtlich, ist allerdings noch umstritten.

Inzwischen belegen viele Fundstücke, dass unsere Vorfahren sich aber schon sehr früh bewusst schmückten oder Alltagsgegenstände verschönerten. Erste Hinweise darauf bildet der Gebrauch von Ocker, einem anorganischen Pigment, dessen variierender Gehalt an Eisenhydroiden, -sulfaten und -oxiden dem krümeligen Mineral seine breite Farbpalette von blassem Gelb bis Braun verschafft. Wird es erhitzt, wandelt es sich in leuchtend roten „Rötel“ (Hämatit) um.

Noch heute verwendet eine Untergruppe der San in Afrika roten Ocker, um, als Teil des Hochzeitsrituals, Brautleute zu überpudern. Ebenso verfahren Gruppen der Aborigines in Australien während der Initiationsriten und bei Reinigungszeremonien. Rötel symbolisiert für die Uraustralier das Blut von mythischen Ahnen.

Vielleicht brachten die Menschen schon in der Frühzeit die Farbe Rot in Verbindung zu Blut und/oder Menstruation und Fruchtbarkeit. Indizien am Jebel Irhoud in Marokko sprechen für den Gebrauch von Farbpigmenten schon vor rund 300 000 Jahren. Das Alter dieser Funde stimmt gut mit dem der bisher ältesten Homo-sapiens-Fossilien überein. In Kenia, am Baringo-See, stießen die Forscher in mindestens 280 000 Jahren alten Schichten auf große Mengen roten Ockers. Dazu fanden sie Mahlsteine zum Zerreiben dieses Eisenerzes. Hinweise auf frühe Ockerverarbeitung zeigen sich auch in mehr als 300 pflaumen- bis kindskopfgroßen Pigmentknollen, die in einer Höhle unweit von Lusaka (Sambia) gefunden wurden und ein Alter von 200 000 (eventuell sogar 250 000) Jahren haben.

In vielen südafrikanischen Höhlen entdeckte man in bis zu 164 000 Jahre alten Schichten (z. B. am Pinnacle Point) teils offensichtlich bearbeitete, teils unbearbeitete rote Ockerstücke. Aus ihnen gewannen die Menschen das rote Pulver, das sie wahrscheinlich mit einem Bindemittel (z. B. Tierfett) vermischten und zur Bemalung ihres Körpers wie auch von Gegenständen verwendeten. Manche Forscher glauben sogar, dass der Ocker auch zu rituellen Zwecken benutzt wurde.

Auch Neandertaler haben in der Mittleren Steinzeit mit Farben gearbeitet. Man entdeckte – aus der Zeit zwischen 250 000 und 200 000 Jahren – an ihren Wohnplätzen an mehreren europäischen Orten Überreste von roten, gelben und schwarzen (Manganoxid) Farbbrocken. Was die Neandertaler mit der Farbe machten, ist unbekannt. Vielleicht haben sie sich selbst bemalt. Jedenfalls verfügten sie schon über eine gewisse ästhetische Ader – und zwar bereits bevor sie in Kontakt mit dem Homo sapiens traten.

Aus der Zeit vor 90 000 bis 40 000 Jahren existieren eine Menge von Gegenständen, die Neandertaler ganz offensichtlich aus einem Bemühen um Schönheit angefertigt und/oder durch Verzierungen und Farbstoffe verschönert haben. In den Höhlen von La Pasiega, Maltravieso und Ardales in Spanien entdeckte man in rotem Ocker aufgebrachte Formen und Figuren an den Wänden – vor 66 700 bis 64 800 vermutlich von Neandertalern angefertigt. In zwei Höhlen nahe der spanischen Mittelmeerküste (Cueva de los Aviones und Cueva Anton) stießen Archäologen auf eine anscheinend gezielt angelegte Sammlung von Muschelschalen mit Farbresten, die bis zu 50 000 Jahre alt sind und möglicherweise als Gefäße zum Anrühren der Farben dienten. Andere Muschelschalen waren angemalt und gelocht und dienten wohl – zu einer Kette aufgefädelt – als Schmuckanhänger.

In der Eichhornhöhle im Harz haben Forscher einen von einem Neandertaler verzierten Riesenhirsch-Knochen entdeckt, mindestens 51 000 Jahre alt. Die Archäologen sprechen von der komplexesten der bisher bekannten künstlerischen Ausdrucksformen von Neandertalern. In Europa und in einigen Teilen Asiens wurden bisher insgesamt zwei Dutzend Vogelkrallen gefunden, die ältesten (aus Kroatien) sogar 120 000 Jahre alt – früheste Beispiele einer symbolischen Kultur. Fundstätten in Frankreich und Italien belegen, dass bei Neandertalern vor etwa 40 000 Jahren hier eine Tradition vorherrschte, sich Adlerkrallen zu beschaffen. Dass Kunstgegenstände und Schmuck der Neandertaler nur relativ selten gefunden bzw. nachgewiesen wurden, kann auch an der Vergänglichkeit vieler Materialien wie Holz, Federn, Leder und Geflecht liegen.

Verblüffend ähnlichen Schmuck wie Homo sapiens zur gleichen Zeit schätzten Neandertaler der Grotte du Rennes (im französischen Burgund), die dort vor 41 000 Jahren lebten: Durchbohrte Elfenbein-, Knochen- und Tierzahnstücke, die als Anhänger oder Halskette getragen werden konnten. Umstritten ist, ob sei bei der Herstellung der Gegenstände Techniken imitierten, die sie bei ihren Nachbarn, den anatomisch modernen Menschen gesehen hatten, ob sie die Schmuckstücke durch Handel erworben hatten oder ob sie die Technik parallel entwickelten. Die Fundstücke erscheinen eigentlich eher wie eine Weiterentwicklung einer eigenständigen Neandertaler-Kultur. Diese veränderte sich vielleicht unter dem Einfluss des Homo sapiens. Aber auch ein umgekehrter Einfluss, also vom Neandertaler auf den Homo sapiens, gilt als wahrscheinlich. Die jüngsten Funde zeigen jedenfalls, dass beide Arten von Menschen bei ihrem Zusammentreffen auf vergleichbarem Niveau standen. Im Gegensatz zu den Neandertalern handelten die anatomisch modernen Menschen mit ihren fein gearbeiteten Schmuckstücken und tauschten sie quer durch ganz Europa miteinander aus. Vielleicht hatte der Schmuck für sie auch eine Bedeutung, die den Neandertalern fremd war, z. B. als Erkennungs- und Statussymbol.

Nach dem portugiesischen Paläoanthropologen Joao Zilhao sorgte zunehmende Bevölkerungsdichte mit kulturellem Austausch und enger sozialer Vernetzung im größeren Rahmen für die nötige Voraussetzung, um der menschlichen Kreativität zur Blüte zu verhelfen. Es wurden soziale Identifikationssysteme geschaffen; eventuell dienten Schmuckstücke auch zum Austausch von Geschenken (z. B. hübschen Perlen) als Zeichen der Freundschaft.

Afrika

Vor 100 000 Jahren hatte die Menschheit in Afrika die gleiche Bevölkerungsdichte erreicht, wie sie erst später im Jungpaläolithikum in Europa herrschte. Von weiträumigen Wanderungen auf dem afrikanischen Kontinent und kontinuierlichen Kontakten und regem Austausch der Bevölkerungsgruppen zeugen u. a. Funde von Schneckengehäusen aus allen Teilen des Kontinents – die ältesten von ihnen übrigens in Nordafrika -, die durchbohrt sind und vermutlich als Anhänger und Statussymbole dienten. Als eine Art „Mehrwegflaschen“ verwendete Straußeneierschalen waren mal mit einem Band aus einer Vielzahl schraffierter Striche, mal mit akkurat gezogenen parallelen Linien dekoriert. Offenbar handelte es sich um eine weithin gebräuchliche, von allen anerkannte Symbolik, denn das Dekor variierte zwischen 65 000 und 55 000 vor heute – also über rund 10 000 Jahre hinweg – kaum.

In der Blombos-Höhle an der afrikanischen Südküste ritzten Jäger und Sammler vor rund 100 000 bis 72 000 Jahren geometrische Muster in Ockerstücke. Es gab sogar eine Art Malerwerkstatt, wo die Menschen roten Ocker zermahlten, den sie dann in kleinen, aus Abalonemuscheln hergestellten Gefäßen aufbewahrten. Die farbige Paste könnte sowohl zur Bemalung von Gegenständen, für eine schmückende Gesichts- oder Körperbemalung als auch als Hautschutz verwendet worden sein.

Die Menschen des afrikanischen Mittleren Steinzeitalters könnten sich aber auch mittels anderer, vergänglicherer Materialien geschmückt oder künstlerisch ausgedrückt haben. Wir wissen fast nichts darüber, was die Menschen aus Holz, Rinde, Leder, Pflanzenfasern usw. vor Zehntausenden von Jahren an Objekten geschaffen haben könnten. Anscheinend hatte jeweils eine dichte Besiedlung in Südafrika mit weitreichenden intensiven Kontakten vor rund 70 000 Jahren (Stillbay-Kultur) und vor 65 000 Jahren (Howieson’s-Poort-Industrie) eine gute Voraussetzung für den geistigen Fortschritt geboten. Womöglich war ein solcher Kulturausbruch auch der Anlass dafür, sich auf andere Kontinente aufzumachen.

Asien und Australien

Zeitgleich mit dem Erscheinen des Homo sapiens in Europa und Asien trat auch dort vermehrt Kunstsinn auf und breitete sich wie ein Feuer aus. Höhlenmalerei scheint auf beiden Kontinenten vor 40 000 Jahren etwa zeitgleich aufgekommen zu sein – trotz einer Distanz von Tausenden von Kilometern. Ob sie tatsächlich eine zweifache, voneinander unabhängige „Erfindung“ ist, oder ob sie bereits Bestandteil des kulturellen Repertoires des Homo sapiens war, bevor er sich hierhin ausbreitete, ist unklar. Aus der Zeit vor seiner Expansion ist allerdings bisher kaum figurative Höhlenkunst bekannt.

Auf der Insel Sulawesi (Indonesien), die damals noch mit dem asiatischen Festland verbunden war, wurden in bislang etwa 300 Höhlen (im Maros-Pangkep-Karst) Malereien von hoher Qualität entdeckt. Sie sind bis zu 43 900 Jahre alt und zeigen Handabdrücke (zumeist aufgesprüht) und Jagdwild. Ein mit dunkelrotem Ocker gemaltes lebensgroßes Bild eines Sulawesi-Warzenschweins aus der Leang-Tedongnge-Höhle scheint sogar mindestens 45 500 Jahre alt zu sein. Auf einem Felsbild sind auch kleinere menschenähnliche Figuren mit Tierköpfen, ebenfalls in roten Tönen gemalt, zu erkennen, die wahrscheinlich deutlich größeren Warzenschweinen und Zwergrindern mit Speeren und Seilen nachstellen. Auf Borneo wurden Höhlenbildnisse entdeckt, die den Maros-Malereien auffällig ähneln – mindestens 40 000 Jahre alt. Andere Funde aus der Region könnten sogar noch wesentlich früher entstanden sein.

In Australien gefundene Brocken roter Mineralien mit deutlichen Abnutzungsspuren deuten auf den Gebrauch von Farbstoffen für symbolische und künstlerische Zwecke hin. Da man dabei auch die einzige Darstellung eines tapirartigen Beuteltieres entdeckte, das bereits vor 46 000 Jahren ausgestorben sein muss, sind diese Hinterlassenschaften wahrscheinlich noch viel älter. Felskunstwerke des fünften Kontinents direkt zu datieren, ist allerdings äußerst schwierig. Das älteste sichere Datum für ein australisches Felsbild liegt einstweilen bei 34 000 Jahren. In der höhlenartigen Stätte Nawarla Gabarnmang (etwa: „Ort des Felsenlochs“), wo sich die Vorfahren der Aborigines erstmals vor rund 50 000 Jahren aufhielten, fand man Malereien, die mindestens 28 000 Jahre alt sind. In noch älteren Grabungsschichten wurden Ockerstücke entdeckt, die wie Malstifte verwendet wurden.

Europa

Aurignacien

In Europa schufen die Einwanderer vor spätestens 43 000 Jahren die hoch entwickelte Kulturstufe des Aurignacien mit deutlich weiter entwickelten Werkzeugen und künstlerischen Werken. Neben dem Schmuck sind Höhlenmalereien, verzierte Werkzeuge, Musikinstrumente und Frauenfiguren kennzeichnend. Die Werke zeugen von hohem Kunstverstand und enormem handwerklichen Können und Geschick. Der kraftvolle kulturelle Aufbruch könnte durchaus dem Übergang vom Mittleren ins Späte Steinzeitalter Afrikas entsprechen (s. o.). Einige Wissenschaftler sehen die Ursache für diesen Entwicklungsschub in der Konkurrenz zu den Neandertalern.

Verzierungen auf Mammutknochen und Gesteinsbrocken aus der Zeit von vor 41 000 bis 35 000 Jahren finden sich in vielen Regionen Eurasiens. Vor allem in den Höhlen der Schwäbischen Alb tauchte neben vielen Kunstgegenständen wie elfenbeinernen Anhängern, durchbohrten Knochenperlen und Tierzähnen „echte“ figürliche Kunst auf. Die Forscher fanden kleine Skulpturen aus Stein, Knochen oder Geweih in großer Zahl. Es waren kleine Darstellungen von hoher Ausdruckskraft, mit dem eigenen Stil der Künstlerinnen oder Künstler versehen: Tiere wie Wildpferd und Löwe, Mammut und Wisent, Bär und Leopard – sogar ein Fisch, ein Wasservogel und ein Igel.

Als das älteste plastische Kunstwerk der Welt gilt die aus Mammutelfenbein gefertigte, sechs Zentimeter hohe „Venus vom Hohle Fels“ (42 000 Jahre alt). Sie besteht hauptsächlich aus großen Brüsten, einem breiten Gesäß und einer auffälligen Scham; anstelle des Kopfes trägt sie eine Öse und konnte vermutlich als Anhänger getragen werde. Noch beeindruckender sind Mischwesen aus Tier und Mensch, am faszinierendsten wohl der „Löwenmensch“, ein 2 1/2 Zentimeter großes Mensch-Tier-Wesen, zwischen 33 000 und 31 000 Jahre alt. Diese Figurinen weisen auf Glaubensvorstellungen und schamanistische Praktiken hin. Sie stehen also für einen kognitiven Sprung in eine Welt jenseits der Natur und jenseits menschlicher Erfahrung. Die Statuen wurden wahrscheinlich gemeinschaftlich genutzt und vielleicht sogar von Generation zu Generation weitergegeben.

Besonders spektakulär sind Musikinstrumente. Das älteste gesicherte Instrument ist wohl die etwa 13 cm lange und aus über 20 Fragmenten zusammengesetzte Schwanenknochenflöte aus der Geißenklösterle-Höhle, die vor etwa 42 500 Jahren hergestellt wurde. Insgesamt acht Flöten (zwischen 40 000 und 35 000 Jahre alt) wurden in den Höhlen am Südrand der Schwäbischen Alb gefunden, einige aus Mammut-Elfenbein, andere aus hohlen Flügelknochen von Gänsegeier oder Singschwan geschnitzt. Auch in Frankreich (Isturitz) wurde eine Knochenflöte gefunden. Die Flöten besaßen meist drei bis fünf Grifflöcher, die vermutlich das Spielen von acht bis zehn verschiedenen Tönen erlaubte. Niemand weiß aber, ob auf den Flöten tatsächlich Musik gespielt wurde oder ob sie lediglich zur Erzeugung von Locklauten zur Vogeljagd verwendet wurden.

In der Pyrenäenhöhle von Marsoulas, die auch Malereien enthält, wurde ein mit rotem Pigment verziertes Gehäuse einer Tritonschnecke (31 x 18 cm groß) gefunden, das als Blasinstrument gedient haben könnte. Die Forscher gehen davon aus, dass an dem Gehäuse einst ein Mundstück angebracht war. Eine der ersten Windungen war durchlöchert, die Spitze abgeschlagen.

Gravettien

Handabdrücke in mehr als 40 Höhlen Südwesteuropas sind besonders typisch für die archäologische Kultur des Gravettien vor etwa 32 000 bis 24 000 v. h., von der man Spuren von Spanien bis zur Ukraine fand. Um die Handumrisse herzustellen, wurde meist eine Hand auf die Höhlenwand gepresst und dann mit einem Halm oder einem hohlen Vogelknochen ein dünnflüssiger Brei aus gemahlenen Farbpigmenten und Wasser darauf geblasen. Nach Handanalysen stammen viele der Handabdrücke von Frauen, mindestens aber ein Viertel von zwei- bis zwölfjährigen Kindern, wobei ältere Geschwister oder Eltern bei der Herstellung mitgeholfen haben müssen.

Weit verbreitet über den ganzen Kontinent waren zu dieser Zeit auch meist nur einige wenige Zentimeter große, aus Knochen, Stein, Elfenbein oder Rentierhorn geschnitzte oder aus Lehm geformte Venusfigurinen mit markanten Geschlechtsmerkmalen. Typisch sind auch hier kurze Ärmchen, hängende Brüste, ein schwerer Bauch und ein ausladendes Gefäß. Mehr als 100 solcher Statuetten sind inzwischen in ganz Europa gefunden worden. Eine der bekanntesten ist die Venus von Willendorf (Österreich), 11 cm hoch, 29 500 Jahre alt. Die Figur aus Oolith zeigt eine gesichtslose Frau mit ausgeprägten Brüsten, breiten Hüften und einem kunstvollen Kopfschmuck. In der Ostukraine wurden ganz ähnliche Frauenfiguren aus dieser Zeit entdeckt.

Was die Bedeutung der rätselhaften Venusfigurinen betrifft, gehen die Interpretationen der Wissenschaftler weit auseinander. Manche halten die üppigen Frauen wegen der starken Betonung der Geschlechtsmerkmale für Fruchtbarkeitssymbole. Sie könnten in Verbindung mit Schwangerschaft und Geburt stehen und wurden vielleicht als Glücksbringer oder Geburtshelfer an die Töchtergenerationen weitervererbt. Die große Anzahl der gefundenen Venusfigurinen spricht jedenfalls für ihre bedeutende Rolle in der Glaubenswelt der damaligen Menschen. Andere Forscher glauben, dass die Figuren von Männern angefertigt wurden und eine sexuelle Bedeutung gehabt hätten. Manche der stark stilisierten Menschendarstellungen wirken, als würden zugleich weibliche und männliche Geschlechtsmerkmale symbolisch ausgedrückt. So hat die aus Ton gefertigte „Schwarze Venus“ von Dolni Vestonice (Südmähren) – 11,4 cm groß – durchaus weibliche Formen. Aber die Beine sind durch ein die weibliche Sexualität kennzeichnendes Dreieck ersetzt, und Kopf und Brust erinnern an die Geschlechtsorgane eines Mannes.

In Niederösterreich und Mähren ((Pavlov-Kultur) tauchten um 27 000 v. h. neben den berühmten Venusfigurinen und zahlreichen Objekten aus Elfenbein auch Schmuckstücke aus Keramik auf. In Dolni Vestonice fand man Bruchstücke von großen Pflanzenfressern (z. B. Mammuts) und Raubtieren, zudem Fragmente von Menschendarstellungen (s. o.). Die Oberfläche der flachen Skulpturen aus Elfenbein wirken oft so blank poliert, als wären sie täglich getragen worden. Einige Forscher glauben, dass ihre Herstellung und bewusste Zerstörung eine symbolische Bewandtnis hatten.

An anderen steinzeitlichen Siedlungsplätzen kamen auch Tausende teils nur wenige Zentimeter große Ritz- und Schnitzwerke ans Licht. Auf einem Knochenstück aus der Dordogne erkennt man Menschen mit geschulterten Speeren, die sich einem überlebensgroßen Mammut nähern. Ein Fund aus der La-Vache-Höhle (in den Pyrenäen) zeigt eine Gruppe Menschen hinter einem riesigen Pferd, unter dessen Schweif ein Bär zu sehen ist.

Magdalenien

Die bekanntesten künstlerischen Hinterlassenschaften des Homo sapiens in Europa sind die mehr als 250 Felsbilder aus den Kalkhöhlen Frankreichs und Spaniens, z. B. aus den sogenannten „Eiszeit-Kathedralen“ Lascaux und Altamira. Sie entstanden erst nach dem Höhepunkt der letzten Eiszeit im Magdalenien, als es wieder wärmer wurde. Mit gemahlenem Ocker sowie Tierfett wurden die Bilder beim Schein von Fackeln oder Fettlampen in den düsteren Höhlen auf die Wände gemalt. Die angewandten Herstellungstechniken sind so vielfältig wie die gezeigten Motive. Mal wurden die Bilder mit Pinseln oder mit Schwanzhaaren kleiner Tiere oder mit angekauten Zweigen gemalt, mal wurde die Farbe durch ein Röhrchen geblasen oder einfach aufgespuckt. Einige prähistorische Künstler nutzten Steinhämmer oder – messer, um die Umrisse in glatte Felsoberflächen zu meißeln oder zu ritzen.

Die Bilder zeigen Jagdszenen und einzelne Tiere, wobei Pferd und Bison die weitaus häufigsten Motive sind. Das flackernde Licht der Fettlampen belebte die Felswände, die meist voller Vertiefungen und Erhebungen sind. Es entstanden Schatten, die mit Fackelträgern weiter wanderten und Leben auf die Wände zauberten. Manchmal kamen die Konturen eines Tieres zum Vorschein, ein Bison etwa oder ein Mammut. Manchmal sah man nur ein Detail, das dann vervollständigt werden musste. Etliche Wandbilder zeigen lebhafte, bewegte Szenen. Der Effekt wird durch verschiedene Darstellungstricks unterstützt, welche die Lichtbedingungen und Eigenarten unseres Sehsinns mit einbezogen.

An einer der Felswände in der Höhle von Lascaux sieht man das Bild einer roten Kuh mit schwarzem Kopf, die aus der Nähe betrachtet gestreckt, vom Boden aus gesehen aber als normal proportioniert wirkt. Diese Darstellungstechnik (Anamorphose) legt nahe, dass das Bild betrachtet werden sollte. Den Künstlern war es offenbar auch wichtig, das Verhalten, die Bewegungsweisen und die damit einhergehende Emotionen der Tiere genau zu erfassen. Manchmal zeichneten sie dasselbe Tier mehrfach dicht hinter- und übereinander in jeweils einer anderen Phase der Bewegung. Oder sie gaben ihm einfach mehr Beine, Köpfe oder Schwänze, die unterschiedliche Positionen markieren und somit Schwanzschlagen, Kopfhochwerfen, Gehen und anderes illustrieren.

In der Höhle Roc-aux-Sorciers fand man den Teil eines 18 m langen und 2,50 m hohen Felsreliefs mit Menschen- und Tierdarstellungen. Höhepunkt des Kunstwerks – was Präzision, handwerkliche Ausführung und Realitätsnähe betrifft – ist ein Steinbockzyklus, der wie eine Bildergeschichte das Leben der Steinböcke in der Brunftzeit erzählt. Viele Ähnlichkeiten mit den Figuren von Roc-aux-Sociers erkennt man in der rund 150 km Luftlinie südlich gelegenen Höhle von La-Chaire-a-Calvin, was darauf hindeutet, dass hier derselbe Künstler am Werk gewesen sein muss – oder jemand aus seinem Umfeld. Die bis heute älteste bekannte Felsskulptur befindet sich an der Decke der sogenannten „Höllenschlucht“ in Frankreich: ein über ein Meter langer Lachs, 25 000 alt.

Zeitgleich mit den Kunstwerken vom Roc-aux-Sorciers entstanden in Gönnersdorf vor 15 000 Jahren Hunderte gravierter Schieferplatten mit fein geritzten Bildern von Tieren und Menschen, darunter mehr als 500 Frauendarstellungen. Über die Verwendung der Platten brechen sich die Wissenschaftler bis heute den Kopf. Vermutlich hatten sie eher einen profanen Charakter als einen heiligen Zweck. Die im Gegensatz zu den Tierbildern stilisierten Frauendarstellungen waren zu jener Zeit in gleicher Weise gezeichnet, gemalt, graviert oder zu Plastiken geformt überall in Europa zu finden (siehe auch oben). Diese wie auch Prestigegüter (z. B. Schmuckschnecken) demonstrieren, dass spätestens im Magdalenien ein europaweites „soziales Netzwerk“ existierte, in dem nicht nur Rohstoffe, sondern auch Ideen ausgetauscht wurden.

Die Forscher gehen heute von unterschiedlichen Ursprüngen und Beweggründen für die Bildmalerei in unterirdischen Höhlen aus. Vielleicht hielten die Menschen sie für die Wohnstätten der Götter oder die Welt der Ahnen, Geister und Toten – eine Vorstellung, die heute noch auf der ganzen Welt in vielen Kulturen und Religionen verbreitet ist. Sie besuchten die Grotten wohl, um wichtige Kulthandlungen, religiöse Riten und Zeremonien zu vollziehen. Vielleicht suchten sie Schutz und Hilfe gegen die Gefahren in der Natur, oder sie beschworen durch magische Riten ihr Jagdglück. Viele Forscher sind der Meinung, dass die prähistorische Kunst Teil einer schamanistischen Kultur war – eine besondere Form der Zwiesprache des Menschen mit den Geistern. Praktisch keine der Menschendarstellungen in den Bilderhöhlen Europas sind normale Personen, sondern wundersame Mensch-Tier-Mischungen, die man als Schamanendarstellungen deuten kann.

Einige Wissenschaftler sind der Meinung, Musik, Höhlenmalerei und Schamanismus könnten durch Rauschzustände entstanden sein. Die berauschende Wirkung von Drogen öffnet das Bewusstsein und lässt den Atem der Geister spüren. Die Bilder dienten dann als Mittler zwischen der hiesigen und jenseitigen Welt. Wahrscheinlich wurden in den Höhlen auch Initiationsriten abgehalten, denn man fand hier viel Fußspuren jugendlicher Menschen. Vielleicht sollten die Höhlenmalereien aber auch nur Geschichten erzählen – von wichtigen Ereignissen im Leben der eindrucksvollen Tiere, denen die Steinzeitmenschen begegneten, aber auch wohl von eigenen Lebensepisoden.

Erste Schrift?

In den Eiszeithöhlen fielen auch Zeichen auf, die offenbar Details einer größeren Figur darstellten, wie etwa der Stoßzahn eines Mammuts – ohne den zugehörigen Körper. Hier repräsentiert der Mammutstoßzahn offenbar das ganze Tier, also ein Teil das Ganze. Dieses Prinzip (Synekdoche) kennzeichnet alle piktografischen Sprachen (die über Bilder kommunizieren) und kann Information in knapper Form vermitteln. Es lassen sich auch viele geometrische Zeichen (wie Halbkreise, Linien, Dreiecke und Zickzacklinien) und schematische Darstellungen (wie Reihen farbiger Punkte und Gittermuster) an Felswänden und Gegenständen nachweisen. Nach heutigem Wissensstand handelte es sich dabei um einen geschriebenen „Kode„, der allen prähistorischen Stämmen damals verständlich gewesen sein dürfte, zumindest denen, die im Gebiet des heutigen Frankreich, möglicherweise aber auch darüber hinaus, lebten.

Bestimmte Zeichen tauchen wiederholt in Paaren auf, oder in Gruppen zu vier Zeichen: z. B. Hände, Punkte, fingerartige und daumenartige Zeichen. Solche Gruppierungen findet man in frühen piktografischen Schriften (Bilderschriften) generell öfters, wobei die kombinierten Symbole für neue übergeordnete Bedeutungen stehen. Die unscheinbaren Formen könnten also von den ersten Schritten zeugen, mit denen sich die Menschheit dem Gebrauch von Schriftsymbolen näherte – womöglich die ersten Anzeichen eines rudimentären Schriftsystems.

Vielleicht versteckten sich hinter den Zeichen aber auch noch andere Botschaften. Die Deutungen reichen von Markierungen der Wanderbewegungen bis zu Tierfallen.

Fazit

Wenig über die Kunst des Eiszeitalters ist aber wirklich gesichert. Was sich die Eiszeitmenschen bei ihren Werken tatsächlich gedacht haben, wird wohl immer ein Geheimnis bleiben. Die geschnitzten Figuren, mit Ritzzeichnungen versehenen Gegenstände, Musikinstrumente sowie Fels- und Höhlenmalereien sind die einzigen, nur bruchstückhaften Zeitzeugen; sie stellen lediglich einen Ausschnitt dessen dar, was einmal war. „Das archäologische Bild einer Kultur ist stets viel ärmer, als diese Kultur selbst war“, schrieb der Autor Martin Kuckenberg.

Es ist aber deutlich, dass die Menschen damals nicht nur über die physikalische Realität ihres alltäglichen Daseins nachdachten. Sie hatten nicht nur ihr Leben selbst in die Hand genommen, sondern beschäftigten sich auch mit den transzendenten Aspekten der Welt, wobei sie die Natur zu Rate zogen. Einige Antworten fanden sie in der Kunst, indem sie sich ihrer Mittel bedienten, um die verschiedenen Welten darzustellen. Vielleicht zeichnet sich der Homo sapiens gerade durch seine Fähigkeit aus, Kunstwerke zu schaffen und so die Realität in etwas anderes zu verwandeln. Damit schuf er eine Verbindung zwischen Intuition und Wissen, zwischen Wissen und Denken, Denken und Sprache. Die Menschen hatten damals schon ein Bewusstsein wie wir: Sie waren Menschen mit Kultur, Religion und Seele.

REM