Von der Nervenzelle zum Erkenntnisorgan

Die Evolution des Gehirns

Der erstaunliche Erfolg der Spezies Mensch ist das Ergebnis der evolutionären Entwicklung seines Gehirns, welches einen Höchstgrad an Komplexität besitzt. Es ist das Produkt einer Hunderte von Millionen Jahren dauernden biologischen Evolution, die zur Benutzung und Anfertigung von Werkzeugen bis hin zur Fähigkeit, Probleme durch logische Überlegung, planvolle Zusammenarbeit und Sprache zu lösen, führte.

Erfindung der Nervenzelle

Einzeller verfügen schon über chemische Rezeptoren, spezielle Empfangsmoleküle in der Zellwand, über die sie Signale aus der Umwelt aufnehmen. Diese helfen z. B., Nahrungsquellen oder Giftstoffe wahrzunehmen. Mit Hilfe eines intrazellulären Erregungsleitungssystem auf chemischer Basis sind die Einzeller schon fähig, auf diese Reize sinnvoll zu reagieren, beispielsweise sich mit propellerartigen Geißeln in die günstigste Richtung zu bewegen – etwa hin zum Futter oder weg von der Gefahr.

Für mehrzellige Lebensformen wurde es zwingend nötig, Informationen aus unterschiedlichen Regionen ihres Körpers zusammenzuführen und zu verarbeiten. Zunächst kommunizierten ihre Zellen nur auf unvollkommene Weise miteinander, indem sie chemische Substanzen auf den Weg schickten. Das ist aber weder schnell noch zielgenau: Die Nachricht wird breit gestreut und erreicht nicht nur jene Empfänger, für die die Meldung von Bedeutung ist. Um aber einen mehrzelligen Organismus zu steuern, der rasch reagieren soll, arbeitet nur das elektrische Signal schnell genug.

So bildeten sich vor weit über einer halben Milliarde Jahren – im Verlauf der evolutionären Entwicklung zwischen Schwämmen und Quallen – aus Zellen der äußeren Hautschicht Zellen mit langen Zellausläufern aus, die sich darauf spezialisierten, Reize zu empfangen, zu verarbeiten und auf elektrischem Wege weiterzuleiten. Mit diesen Nervenzellen (Neuronen) konnte Information direkt und schnell übertragen werden. Damit wurde der Grundstein für unser Gehirn gelegt, das in seiner gesamten Komplexität weiterhin auf jenen Bausteinen, nämlich den Nervenzellen, und jenen Kommunikationsmitteln, nämlich elektrischen und chemischen Signalen, basiert, über die schon diese einfachen Lebewesen verfügten.

Der Grundbauplan einer Nervenzelle besteht aus einem Zellkörper (Soma) mit dem Zellkern, Zellfortsätzen (Dendriten), der Nervenfaser (Axon oder Neurit) und den synaptischen Endknöpfchen. Im einfachsten Fall kann man das Neuron als Gleichrichter auffassen, der ankommende Informationen (Signale von Sinneszellen oder anderen Nervenzellen) über die Dendriten (seltener das Soma) aufnimmt und als elektrische Impulse zum Zellkörper weiterleitet. Hier werden die Informationen verarbeitet und in Form elektrischer Impulse entlang des Axons zu den Synapsen gesendet, wo das Signal – und damit die Information – auf eine Empfängerzelle weitergegeben wird. Bei einfachen Mehrzellern erfolgt die Übertragung der elektrischen Reize über direkte Kontakte der Zellwände (elektrische Synapsen). Im späteren Verlauf der Evolution treten chemische Synapsen auf, an denen die elektrische Erregung durch chemische Substanzen (molekulare Botenstoffe: Neurotransmitter und Neuromodulatoren) übertragen wird. Dies ermöglicht eine höhere Flexibilität und Zielgenauigkeit. Mit der „Erfindung“ des Myelin (bei den Wirbeltieren) – eine dünne, fetthaltige Schicht um die Axone herum – wurden Übertragungsverluste verhindert und eine schnellere Kommunikation ermöglicht. Beide zusammen, chemische Synapsen und Myelinscheiden, machten den Weg frei für den Aufbau eines hochkomplexen Gehirns.

Nervengeflecht und Nervenknoten

Während ein Schwamm weder auf Jagd geht noch vor Feinden flüchten kann, sind Quallen mobil und leben räuberisch. Bei ihnen hatte der Selektionsdruck, sich fortbewegen und im Raum orientieren zu müssen, vor über 650 Millionen Jahren zum Aufbau von vermehrten Verbindungen zwischen den Nervenzellen geführt. Quallen gehören daher zu den ersten heute noch existierenden Organismen, die ein einfaches Nervensystem besitzen, bestehend aus einem Netz miteinander verbundener Neurone, das den Körper durchzieht.

Komplexere Lebewesen benötigen ein Zentrum, wo die Informationen aus unterschiedlichen Körperregionen zusammengeführt und verarbeitet werden können und eine Reaktion gesteuert wird. Eine solche zentrale Ansammlung von Nervenzellen findet man erstmals bei Plattwürmern. Im Gegensatz zu radialsymmetrischen Tieren wie Quallen oder Seesternen lässt sich bei ihnen bereits vorn und hinten unterscheiden – ein gewaltiger Sprung auf dem Weg zur Evolution eines Gehirns. Denn wenn das Tier nun bevorzugt eine Richtung einschlägt – also vorwärts -, ist es auch sinnvoll, wenn sich ein Großteil seiner Nerven- und Sinneszellen am vorderen Ende des Körpers konzentriert. Schließlich kommt dieser Teil meist als Erster mit den Verheißungen und Gefahren der Umgebung in Berührung.

Im Laufe der Evolution prägte sich das vordere Ende der Tiere immer mehr zu einem Kopf aus. Zudem nahm die Zahl der Neuronen und die Verknüpfung untereinander zu, da die komplexer werdende Umwelt immer kompliziertere Verhaltensstrategien erforderte. Ringelwürmer und die evolutionär jüngeren Insekten und Spinnen besitzen in jedem Segment ihres gegliederten Körpers zwei eigene Nervenknoten (Ganglien), die wie Minihirne die jeweiligen Abschnitte steuern. In ihrem Kopf sitzt das größte Ganglienpaar, das bereits aus knapp einer Million Neuronen besteht und koordinierende Fähigkeiten besitzt. Es befähigt ihre Träger schon zu relativ komplexen Handlungen, ermöglicht ihnen aber kaum, sich an veränderte Umweltbedingungen anzupassen.

Wirbeltiergehirn

Grundsätzlich anders als die bei gleichbleibenden Anforderungen unschlagbar effizienten, aber relativ unflexiblen Insektenhirne entwickelten sich die Gehirne der Wirbeltiere, bei denen der nächste große Schritt in der Evolution erfolgte. Die älteste Bauart eine Wirbeltiergehirns findet sich bei ursprünglichen Neunaugen, die vor über 500 Millionen Jahren erschienen und die den heutigen fischähnlichen Neunaugen gleichen. Sie besaßen bereits eine Schädelkapsel, die das empfindliche Gehirn schützte.

Nach der Entstehung der Ozon-Schicht in der Atmosphäre traten vor 360 Millionen Jahren die ersten Landtiere auf. Die immer komplexere und stressreichere Umwelt, die sich zudem rasch wandelte, erforderte zunehmend kompliziertere signalverarbeitende Strukturen im Nervensystem der Wirbeltiere. Durch blasenförmige Vergrößerungen erweiterte sich das Vorderhirn, aber auch Zentren wie Mittelhirn und Verlängertes Mark (Nachhirn). Das Mittelhirn steuerte und koordinierte lebenserhaltende Funktionen (z. B. die Atmung) und verarbeitete vor allem Informationen, die das Tier von den Augen erhielt. Das Nachhirn, aus dem sich später das Kleinhirn abspaltete, kontrollierte Bewegungen und die räumliche Orientierung. Dadurch wurden die Organismen in die Lage versetzt, immer dynamischer auf die vielfältigen Herausforderungen zu reagieren.

Grundsätzlich veränderte sich jedoch das Gehirn der Wirbeltiere im Laufe der Evolution nicht mehr. Zwar vergrößerte es sich im Laufe der Stammesgeschichte, aber hinsichtlich Aufbau und Struktur gibt es bei Fisch und Vogel, Ratte und Mensch keine prinzipiellen Unterschiede. Allerdings entwickelten sich seine einzelnen Teile verschieden hinsichtlich ihrer relativen Größe und ihres Differenzierungsgrades: Während sich der Hirnstamm (Mittelhirn und Verlängertes Mark) wenig veränderte, vergrößerten sich im Laufe der Evolution das Kleinhirn und vor allem das Vorderhirn, aus dem schließlich Zwischenhirn und Großhirn hervorgingen.

Das Vorderhirn diente ursprünglich vor allem zum Riechen. Jedes Lebewesen, sei es nahrhaft, giftig, Sexualpartner, Raubfeind oder Beute, hat eine charakteristische molekulare Struktur, die von der Luft weitergetragen wird. Daher war der Geruch von überragender Bedeutung für das Überleben. Im Laufe der Evolution entwickelten sich im Vorderhirn die ursprünglichen Zentren der Emotion, die schließlich so groß wurden, dass sie den oberen Bereich des Hirnstamms umringten. Daher nennt man diesen Teil das „limbische System“ (abgeleitet von lat. limbus = Ring). Seine entscheidenden Schichten entstanden bei den frühen Säugetieren vor etwa 150 Millionen Jahren. In den Verbindungen zwischen dem Riechkolben und dem limbischen System werden nicht nur die Erinnerungen an Duftwahrnehmungen verwaltet, sondern auch Wohlbefinden, Unbehagen und andere Gefühle gesteuert.

Insbesondere bei Vögeln und Säugern kam es auch im Großhirn zu massiven Umbaumaßnahmen und einer größeren Differenzierung. Bei den Säugern nahm die äußere Schicht, die Großhirnrinde (der Kortex), stark zu. Ihr charakteristischer Aufbau (sechs horizontale Schichten) samt Vernetzung in tiefere Hirnbereiche entstand wohl bereits vor über 500 Millionen Jahren während der „Kambrischen Explosion“, worauf Gemeinsamkeiten in den Gehirnen von Säugetieren und Neunaugen hindeuten. Während auch manche Reptilien eine geschichtete Hirnrinde besitzen, verschwand die Schichtung bei den Vögeln völlig. Das Großhirn besteht bei ihnen auch aus deutlich weniger Nervenzellen als bei Säugern, was aber durch eine dichtere Packung der Neurone kompensiert wird.

Obwohl die Denkorgane der beiden Tierklassen in diesem Teil also sehr unterschiedlich aufgebaut sind, ähnelt sich ihre Funktionsweise in vielerlei Hinsicht. So folgt die Art und Weise, wie Vögel und Säugetiere lernen, sich erinnern, vergessen, sich irren, verallgemeinern und Entscheidungen treffen, den gleichen Prinzipien. Die Wissenschaftler vermuten dahinter ein altes Erbe, das bei den Wirbeltieren lange vor dem Erscheinen der Vögel und Säuger schon existierte, mindestens schon bei den Vorläufern der heutigen Reptilien. Unabhängig voneinander entstanden dann in einer über 300 Millionen Jahre langen getrennten evolutionären Entwicklung, in der mehr geistige Flexibilität Vorteile bot, in beiden Linien Gehirne mit jeweils anderen Großhirnstrukturen, welche ein von Denken begleitetes Verhalten erlaubte. (Beide Tierklassen entwickelten auch die Warmblütigkeit, die zu einer verbesserten Temperaturregulation im Gehirn führte.)

Säugergehirn

Mit zunehmendem Hirnvolumen unterteilte sich die Gehirnrinde bei den Säugetieren in immer mehr abgrenzbare Areale mit jeweils besonderer, meist funktioneller Bedeutung. So wurde beispielsweise aus den Zellen, die Gerüche wahrnehmen, sie analysieren und eine Reaktion diktieren, der olfaktorische Lappen – aus denen, die dasselbe mit Gesichtswahrnehmungen machen, wurde der visuelle Lappen. Neurone mit ähnlichen Funktionen zusammenzufassen beseitigte offenbar das Problem, bei steigender Gehirngröße den gleichen Vernetzungsgrad zwischen den Neuronen aufrechtzuerhalten.

Im Verlauf der Hirnentwicklung der Wirbeltiere schwollen vor allem die assoziativen Areale – Areale, die sich nicht mehr eindeutigen Funktionen wie etwa Sehen oder Hören zuordnen lassen – an. So konnten Impulse über viele Zwischenstationen hinweg bearbeitet und moduliert werden. Dadurch waren die Tiere in der Lage, variabler und angepasster auf unterschiedliche Umweltbedingungen zu reagieren als beispielsweise Insekten oder Schnecken, die auf einen Reiz mit einem genetisch festgelegten Verhalten antworten müssen.

Mit weiter steigender Hirngröße übernahmen immer mehr anatomisch vergleichbare Areale in der linken und rechten Hirnhälfte tendenziell unterschiedliche Aufgaben (Lateralisierung) – wohl eine ökonomische Maßnahme der Natur, um Hirngewebe zu sparen, aber auch, um parallele Anforderungen effizienter verarbeiten zu können. (Die Forscher vermuten, dass sogar schon die frühen Wirbeltiere vor 500 Millionen Jahren ein Vorderhirn mit seitenspezifisch spezialisierten Hemisphären besaßen.)

Eine wesentliche Voraussetzung für eine fortgeschrittene Hirnentwicklung bildete die Ablösung der ursprünglichen Nase-Schnauze-Koordination durch die primatentypische Hand-Auge-Koordination. Diese entwickelte sich bei den Vorfahren der heutigen Menschenaffen und Menschen und führte zu einer Abschwächung des Geruchsinns. Sogar bei der Paarfindung, bei fast allen Säugetieren eine Domäne der Nase, herrschten ab jetzt die Reize der Augen vor.

Bei der weiteren Entwicklung des Primatenhirns half wohl auch das Leben in der Gruppe kräftig mit. Der Anthropologe Robin Dunbar entwarf die Hypothese vom sozialen Gehirn. Ihm war aufgefallen, dass bei den Menschenaffen Gehirn- und Gruppengröße eng zusammenhängen. Seine Erklärung dafür lautet: Je größer eine Gruppe ist, desto mehr Informationen über andere Mitglieder muss das Gehirn verarbeiten, damit das soziale Miteinander funktioniert. So wurde die Entwicklung weitergetrieben und der Neokortex wuchs in seiner bloßen Masse stark an, während gleichzeitig die Verbindungen innerhalb des Gehirns in geometrischer Reihe zunahmen.

Menschengehirn

Bei den ersten Menschen setzte sich nach der Trennung von den Menschenaffen der Trend zu einem voluminöseren Schädelinhalt fort, zunächst langsam, seit etwa zwei Millionen Jahren dann beschleunigt. Ursache waren zum Einen neue Herausforderungen, vor allem schnelle Umweltveränderungen, auf die die frühen Menschen mit der Herstellung und dem Gebrauch von Werkzeugen reagierten. Mit ihnen konnten energiereichere Nahrungsquellen erschlossen werden. Zum Anderen förderte das Kochen der Nahrung das evolutionäre Wachstum der Hirnkapazität.

Durch das Kochen kann man Kalorien nicht nur einfacher aufnehmen, sondern auch effizienter in körpereigene Energie umwandeln, denn das Erhitzen der Nahrung wirkt wie eine Art Vorverdauung außerhalb des Organismus. Zudem tötet das Erhitzen Mikroben ab, was dem Körper eine energieaufwändige Infektionsabwehr erspart. Ein Großteil der gewonnenen Nahrungsenergie wurde so für das Gehirn und den Ausbau seiner Fähigkeiten frei. Auf diese Weise machte das Gehirn vom Homo habilis zum Homo erectus (also in einigen hunderttausend Jahren) einen signifikanten Entwicklungssprung: von rund 40 Milliarden Neuronen auf über 60 Milliarden. Der Homo sapiens verfügt heute über 86 Milliarden Nervenzellen; das Gehirn wuchs so insgesamt von 600 Kubikzentimetern beim Homo habilis auf eine Größe von weit mehr als dem Doppelten bei den heutigen Menschen an.

Zwar lässt sich am menschlichen Gehirn im Vergleich zu dem stammesgeschichtlich nahestehender Tiere außer der schieren Größe nichts grundlegend Neues und Anderes feststellen, was die Substrukturen und ihre Strukturierung sowie die Zentren anbelangt, aber es ist bedeutend komplexer. Die etwa zwei Millimeter dicke Großhirnrinde ist extrem stark gefaltet: Ausgebreitet würde sie die Fläche von vier Blatt Schreibmaschinenpapier einnehmen. Die Hirnrinde eines Schimpansen würde dagegen auf ein einziges DIN-A4- Blatt passen, die eines Tieraffen auf eine Postkarte und die einer Ratte auf eine Briefmarke. Insbesondere haben also die für höhere Hirnleistungen zuständigen Gebiete an Fläche außerordentlich zugenommen, ebenso die Anzahl der Verschaltungen – und damit die Integrationskapazität zwischen den zentralen Verarbeitungszentren.

Die Nervenzellen sind beim Menschen heute so dicht gepackt, dass individuelle Zellgrenzen kaum zu erkennen sind. In einem Kubikmillimeter Großhirnrinde befinden sich 90 000 Neuronen und 4000 Meter Nervenbahnen, wenn man alle Axone und alle Dendriten zusammenfasst. Die Vernetzung der Nervenzellen untereinander, ein Netzwerk aus rund einer Billiarde von Verbindungen, ist einzigartig. Millionen verschiedener Operationen laufen gleichzeitig (parallel) ab.

Im Verlauf der Evolution höherer Tiere war eine Reihe von komplexen Nervenverbindungen entstanden, wodurch Wahrnehmung und Verarbeitung von Umweltreizen, aber auch der eigene Zustand, selbst zum Gegenstand von Erkenntnisprozessen wurden (Metarepräsentationen) – sie erhielten Bedeutung. Das brachte eine ungeahnte Flexibilität in das Verhalten. Metarepräsentationen erlaubten sogar, geistige Modelle von Vorgängen in anderen Gehirnen zu erstellen, so in der Art: „Ich weiß, dass du weißt, dass ich traurig bin“ oder „Ich weiß, dass du überlegst, wie du mich täuschen kannst“. Wann diese Fähigkeiten in der Evolution ausgeprägt wurden, ist unter den Wissenschaftlern umstritten. Während einige sie nur dem Menschen zuerkennen, andere sie noch den Menschenaffen zugestehen, sind wieder andere – und ihre Zahl wird immer größer – überzeugt, dass selbst Katzen oder bestimmte Vögel über diese Fähigkeiten verfügen.

Metarepräsentationen sind eine Vorbedingung für unsere Werte und Überzeugungen. Während z. B. eine instinktive Vermeidungsreaktion eine Ekelreaktion erster Ordnung darstellt, gehört zu einer Metarepräsentation u. a. der soziale Widerwille dazu, den wir gegenüber Dingen empfinden, die wir für moralisch falsch oder ethisch unangemessen halten.

[Dass moderne Menschen komplexere Technologien und Kulturen entwickelten – Kunstobjekte gestalteten, Höhlenbilder malten, diffizile Waffen und Werkzeuge und kleinteilige Kleidung schufen – liegt im Scheitellappen unseres Gehirns, vor allem im sogenannten Precuneus , begründet. Weil seine oberen Teile mehr Platz brauchten, fällt das obere Scheitelbein bei Homo sapiens offensichtlich gewölbter aus als bei anderen Primatenarten (-> runde Kopfform!). Es bleibt noch zu ergründen, in welchem Maß Genetik und Kultur unseren oberen Scheitellappen evolutionär und individuell geprägt haben und noch immer beeinflussen.]

Metarepräsentationen spielen auch bei Sprache und symbolischem Denken eine tragende Rolle. Verbale und geschriebene Sprache ist nur möglich, weil wir die Idee einer Sache abstrahieren und ihr einen Namen – ein Symbol – zuweisen können, der gesprochen und geschrieben werden kann. Informationen konnten jetzt sehr effizient und von den Reproduktionszyklen abgekoppelt übertragen werden und ermöglichten schlagartig die Entfaltung der geistigen Fähigkeiten, die uns vom Rest der Tierwelt abheben. Die Entstehung der Sprache und der damit verbundene Nutzen im Überlebenskampf förderte vermutlich die Entwicklung größerer Gehirne.

Angesichts der starken Neigung des Menschen, mit Gesten zu kommunizieren, scheint das Gestikulieren im Zusammenhang mit der Werkzeugherstellung in der Evolution der Lautsprache vorausgegangen zu sein. Dafür spricht, dass die Hirnareale, die Hände und Sprache repräsentieren, anatomisch benachbart sind. Auch die in ihnen ablaufenden Hirnprozesse ähneln sich: Beide beruhen auf der Verarbeitung von motorischen Befehlen für jeweils unterschiedliche Muskeln des Körpers. Und es gibt noch einen direkten Zusammenhang: Wörter aktivieren sogenannte Spiegelneurone, die eine passende motorische Antwort simulieren.

Die Anforderungen vielschichtig verschlungener sozialer Strukturen und Fähigkeiten wie Kommunikation und Perspektivenwechsel haben das Gehirn also verändert und die geistige Weiterentwicklung vorangetrieben. Durch Sprache und Schrift sind wir Menschen in der Lage, gigantische Informationsmengen auszutauschen und noch effektiver voneinander zu lernen. Dies führte dazu, dass wir die Schöpfung, aber auch uns selbst, immer stärker mit wissenschaftlichen Augen betrachtet haben. Aus subjektivem Empfinden wurde „objektives Wissen“, das seinen Ursprung in Tausenden von Gehirnen hat und das – den Genen ähnlich – an immer neue Generationen weitergegeben wird.

Fazit

Von der „Erfindung“ der Neurone bei den frühen Mehrzellern und über die ersten Neuronennetze entwickelten sich mehrfach und unabhängig voneinander in getrennten Abstammungslinien komplexe Gehirne, offenbar basierend auf derselben Grundorganisation. Ihre Funktion bestand letztlich darin, Informationen aus dem Organismus und seiner Umwelt in entsprechendes bedürfnis- und situationsgerechtes Verhalten umzusetzen und damit die Chancen im Kampf ums Überleben zu maximieren.

Die Evolution des Gehirns bis hin zum Denkorgan von höheren Wirbeltieren, das in den beeindruckenden kognitiven Fähigkeiten des Menschen gipfelte, war allerdings kein linearer Prozess. Je nach Bedarf musste das Organ immer mehr und unterschiedliche Aufgaben übernehmen und wurde dabei ständig aus- und umgebaut. Kaum etwas wurde entfernt, alte Elemente wieder verwendet und weiter genutzt, nichts wurde verworfen. Mal hier, mal dort kamen ein paar zusätzliche Teile und Funktionen hinzu – ohne Garantie, dass das alles ordentlich zueinanderpasste. Äußere Zwänge und der Baumeister Zufall führten so zu einem verschachtelten Durcheinander. Manchmal gab es im Laufe der langen Evolution sogar Phasen der Regression, in denen sich das Gehirn strukturell zurückentwickelte.

Als die Frösche vor einigen hundert Millionen Jahren mit den immer effizienteren Knochenfischen konkurrieren mussten, zogen sie sich in die verkrauteten Uferregionen zurück. Dort blieb ihnen wenig anderes übrig, als auf ihre Beute zu warten. Wahrscheinlich ist eine solche Jagdmethode intellektuell nicht sonderlich herausfordernd, denn die Gehirne der Frösche schrumpften über Generationen. Auch dafür, dass ein einmal erworbenes Gehirn sogar wieder verloren werden kann, kennt die Naturgeschichte Beispiele: Der Bandwurm, ein Nachfahre des ersten Plattwurms mit seinem Nervenknoten im Kopf, klammert sich im menschlichen Darm fest und lebt dort in einem komfortablen, sicheren Ökosystem mit reichem Nahrungsangebot. Sich ein Gehirn zu leisten, bedeutet für einen solchen Parasiten sinnlosen Luxus. Folglich wurde es restlos zurückgebaut.

Unser Gehirn ist also kein maßgeschneidertes, optimales Denkorgan, sondern ein ziemlich unordentlich aufgebautes, planlos im Lauf der Evolution zusammengeschustertes Flickwerk. Der Molekularbiologe Francois Jacob nannte es „bricoage“ – Bastelarbeit, der Neurobiologe David Linden sprach vom „schrulligen, ineffizienten und bizarren Plan des Gehirns“. Die Liste der Mängel ist bei näherem Hinschauen lang. So ist die Signalleitung und Informationsverarbeitung auf Ebene der Neurone und Synapsen langsam und eher umständlich, aber auch störanfällig, da sich etliche Prozesse gegenseitig in die Quere kommen.

Teilfähigkeiten (wie Wahrnehmen, sich Erinnern, Lernen, Abstrahieren, Begriffsbildung, Sprechen) kamen beim Menschen in glücklicher Weise zusammen, so dass unser Gehirn nicht nur als „Überlebensorgan„, sondern in der Spätphase der Evolution auch als „Erkenntnisorgan“ brauchbar wurde. Mit dieser Fähigkeit konnten wir unseren Mesokosmos verlassen, also über direkte Wahrnehmung und unmittelbare Erfahrung hinauskommen. Das hat sich, biologisch gesehen, eher so ergeben.

Seit 150 000 bis 200 000 Jahren (vielleicht sogar schon seit 300 000 Jahren) ist die Vergrößerung des Gehirns von Homo in Struktur und Umfang im Wesentlichen abgeschlossen. Ein Trend in Richtung größerer Gehirne ist nicht mehr zu erkennen. Von der Mittelsteinzeit bis Ende des 20. Jahrhunderts sanken die Gehirnvolumina der europäischen Frauen und Männer sogar um durchschnittlich 150 bis 200 Kubikzentimeter. Ob der Schwund seit Beginn des Holozäns (vor 11 650 Jahren) mit der Abnahme existenzieller Nöte, etwa durch Fortschritte im Ackerbau, zusammenhängt, ist unklar.

Es scheint aber auch nicht, dass unser Denkorgan im weiteren Verlauf unserer biologischen Entwicklung noch nennenswert wachsen würde. Dafür spricht, dass nicht sehr viel mehr Neurone sinnvoll untergebracht werden können und die Zahl an möglichen Verbindungen begrenzt ist. Auch lässt sich die Menge der pro Sekunde übertragenen elektrischen Impulse nicht viel weiter steigern. Zudem wächst der Energieverbrauch mit zunehmender Größe des Gehirns, die Wärmeabfuhr wird schwieriger und die Signalübertragung von einem Hirnareal ins andere dauert länger.

Eine Leistungssteigerung wäre jedenfalls auch mit einem noch größeren Gehirn nicht zu erwarten. Außerdem ginge die Entwicklung eines größeren und komplexeren Gehirns mit einer höheren Anfälligkeit für neurologische Störungen einher. Genveränderungen, die unser großes Gehirn ermöglicht haben, spielen heute möglicherweise bei gravierenden Fehlentwicklungen unseres Denkorgans sowie psychischen Erkrankungen – z. B. Autismus und Schizophrenie – eine Rolle.

Viele Forscher halten eher einen Trend zu einer einfacheren Strukturierung des menschlichen Gehirns in Zukunft für möglich. Ursache sei die heutige Lebensweise, in der uns die moderne Technik viele Aufgaben abnimmt, in der durch Umweltzerstörung die Vielfalt der Natur schrumpft und die Natur- und sozialen Erfahrungen reduziert werden. (Übrigens verkleinerte sich auch das Hirnvolumen des Hundes im Lauf seiner Karriere als Gefährte des Menschen, der ihn mit Futter versorgt und ihm Schutz und Gesellschaft bietet. Sein Gehirn ist um ein Drittel kleiner als das des Wolfes, seines wilden Verwandten.)

Wir müssen also wohl davon ausgehen, dass das menschliche Gehirn auf jeden Fall nicht weiter wächst. Auch der Mensch selbst ist am Ende seines evolutionären Weges angelangt. Eine Veränderung des Arttypus, des durchschnittlichen Charakters der menschlichen Spezies, ist bei Homo sapiens in der Zukunft nicht mehr zu erwarten. Unsere Art wird demnach in ihrer gegenwärtigen biotischen Grundausstattung bis zu ihrem Aussterben weiter existieren. Und dass Arten aussterben, ist etwas ganz Normales und gehört zur Geschichte der Evolution.

REM

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