Zwei Geschlechter – aber viele Varianten

Entwicklung der Bisexualität

Ein Meilenstein in der Evolution des Lebens war die Entwicklung der Bisexualität und der sexuellen Fortpflanzung. Sie erwies sich als optimale Lösung für eine erfolgreiche Vermehrung. Allerdings ist die evolutionsgeschichtlich viel ältere asexuelle Vermehrung durch Teilung, die erbgleiche Individuen (Klone) erzeugt, bis heute in der Natur weit verbreitet. Sie ist weit weniger kompliziert und aufwändig als die sexuelle Fortpflanzung, außerdem wächst eine Population durch sie viel schneller. Unter einer knallharten Kosten-Nutzen-Rechnung sollte sich im evolutionären Wettrennen also eigentlich die Fortpflanzung durch Teilung durchsetzen. Das bestätigen Computersimulationen, nach denen beim Wettstreit einer sexuellen mit einer asexuellen Art die sexuelle nach nur zehn Generationen ausstirbt.

Aber die sexuelle Fortpflanzung hat einen universellen Selektionsvorteil, wenn sich die Umwelt verändert: Durch die Durchmischung und Neukombination väterlicher und mütterlicher Anlagen erhöht sich die genetische Vielfalt. Nach Studien sind dadurch Lebewesen, die sich miteinander kreuzen, biologisch anderthalbmal so fit wie solche, die sich durch Teilung vermehren, denn ihre Population kann insgesamt schneller auf neue Probleme reagieren und sich anpassen. In einer ewig gleichen Umwelt dagegen brauchen Lebewesen normalerweise keine Sexualität. Hier genügt eine optimale Anpassung an die Umwelt durch Mutationen.

Bei sich überwiegend parthenogenetisch fortpflanzenden Arten, bei denen die Nachkommen aus unbefruchteten Eiern entstehen, wird sogar von Zeit zu Zeit eine sexuelle Rekombination eingefügt. So vermehren sich Läuse im Sommer, wenn ein hohes Nahrungsangebot zur Verfügung steht, ungeschlechtlich und produzieren nur Weibchen. Im Herbst werden die Umweltverhältnisse schlechter, die Nahrungsangebote kleiner. Nun treten auch Männchen auf. Durch die jetzt mögliche sexuelle Fortpflanzung werden die Gene durchmischt: Neukombinationen erhöhen die Anpassungsfähigkeit an die härteren Bedingungen.

Nach der Hypothese der amerikanischen Biologen van Walen und Bell wird durch die ständige Neukombination des Erbguts bei der sexuellen Fortpflanzung auch das genetische Repertoire im Abwehrkampf gegen Mikroben permanent verändert. Dies sei ein entscheidender Vorteil in der Evolution, denn Parasiten und Krankheitserreger sind sehr unterschiedlich und mutieren zudem rasend schnell.

Als ein wichtiges Indiz wird eine neuseeländische Zwergdeckelschnecke (Potamopyrgus antipodarum) angeführt. Sie besitzt beide Methoden der Fortpflanzung, eingeschlechtlich und zweigeschlechtlich. Solange der Parasitenbefall durch einen bestimmten Wurm gering ist, wählt die Schnecke vorwiegend die erste Variante. Da dabei nur ein Elternteil benötigt wird, um Nachkommen zu haben, vermehrt sich die Schnecke rund doppelt so schnell wie bei der geschlechtlichen Variante. Steigt der Parasitenbefall an, schaltet das Tier zunehmend auf sexuelle Fortpflanzung. Unter diesen Bedingungen scheint es günstiger, weniger Nachkommen zu erzeugen, dafür aber solche mit großer genetischer Vielfalt.

Der genetische Unterschied

Im Laufe der Evolution entstanden bei Säugern – und unabhängig davon auch bei anderen Tierarten, z. B. Vögeln und einigen Insekten – aus einem gewöhnlichen (homologen) Chromosomenpaar zwei Geschlechtschromosomen. Aus ihnen entwickelten sich das heutige „weibliche“ Geschlechtschromosom X und das „männliche“ Geschlechtschromosom Y. Während weibliche Säuger das X doppelt besitzen (XX), haben männliche Individuen jeweils ein X und ein Y (XY). Das Y-Chromosom ist also verantwortlich für die Ausprägung des männlichen Geschlechts.

Die Entwicklung des Y-Chromosoms begann vermutlich vor vielleicht 350 Millionen Jahren bei reptilienartigen Vorfahren der Säugetiere, als auf einem Partner der beiden gleichartigen Chromosomen ein neues Gen entstand, das die weitere Entwicklung zum männlichen Phänotyp (Erscheinungsbild) lenkte: das SRY („sex-determining region Y“ / „geschlechtsbestimmende Region Y“). In der Folgezeit kam es mehrfach zu dramatischen Umstrukturierungen dieses Chromosoms. Während das X unbeschädigt überdauerte, schrumpfte das Y immer weiter zusammen. Es bewahrte sich nur eine Handvoll überlebenswichtiger Gene, zog aber auch für die männliche Fruchtbarkeit wichtige an sich.

Auf der Ebene der Geschlechtschromosomen treten neben der Kombination XX und XY auch einige Varianten auf, etwa solche mit einer fehlenden, einer zusätzlichen oder einer unvollständigen Kopie eines Geschlechtschromosoms. Beispiele sind die Monosomie X0 (Turner-Syndrom), das XXX- und XYY-Syndrom, sowie das XXY-Syndrom (Klinefelter-Syndrom). Menschen mit diesen Syndromen sind auch anatomisch keinem Geschlecht eindeutig zuzuordnen und werden deshalb Intersexuelle (auch Hermaphrodite oder Zwitter) bezeichnet. Sie sind häufig unfruchtbar und haben oft weitere individuell unterschiedlich ausgeprägte Beeinträchtigungen.

Aber auch schon kleinere genetische Veränderungen auf den Geschlechtschromosomen können durchaus nachhaltig Wirkung entfalten. Gelangt z. B. das Gen SRY durch einen Genaustausch während der Reifeteilung (Meiose) vom Y-Gen auf das X-Gen, so wird bei Frauen mit normalem Geschlechtschromosomensatz (XX) das für die Keimdrüsen angelegte Gewebe dennoch in Hoden ausdifferenziert, so dass sie vom äußeren Habitus her als Mann erscheinen. Diese Form der sexuellen Differenzierung wird als „XX-Mann“ oder „De-la-Chapelle-Syndrom“ bezeichnet. Dagegen bilden Menschen mit männlichem XY-Chromosomensatz, bei denen das SRY-Gen fehlt oder defekt ist (Swyer-Syndrom), eine – oft verkürzte – Vagina oder einen Uterus aus. Dieses Syndrom wird meist erst in der Pubertät bemerkt, wenn die Geschlechtsentwicklung stockt. Bis dahin erscheinen die Betroffenen eindeutig als Mädchen.

Unterschiede in der Entwicklung

In utero sind wir am Anfang alle weiblich, d. h. jeder Embryo besteht zunächst aus rein mütterlichem Gewebe mit den Anlagen für die weiblichen Geschlechtsorgane. Er entwickelt standardmäßig die weiblichen Geschlechtsmerkmale, wenn nicht das Gen SRY auf dem Y-Chromosom den Schalter in Richtung „männlich“ umlegt. Das nun gebildete Hodengewebe sorgt für die verstärkte Erzeugung des Sexualhormons Testosteron und die Umwandlung der weiblichen Genitalien in männliche, woran auch noch andere Hormone beteiligt sind. Ohne SRY (und die Hoden-Hormone) bildet der Organismus hingegen vermehrt die Hormone Östradiol (ein Östrogen) und Progesteron. Sie führen zur Ausbildung von Uterus und Eierstöcken und den anderen weiblichen Geschlechtsmerkmalen. Mädchen sind sozusagen der Standardfall der Natur.

In der zweiten Schwangerschaftshälfte – nachdem die Entwicklung der Geschlechtsorgane abgeschlossen ist – formt sich durch die Geschlechtshormone im Fötus auch ein mehr oder weniger männliches oder weibliches Gehirn. Es ist der jeweilige „Hormoncocktail„, der lenkend auf Organisation und Verdrahtung des sich entwickelnden Organs einwirkt und Struktur und Neuronendichte verschiedener Bereiche beeinflusst. Nach Ergebnissen aus Tierversuchen wirkt sich Testosteron u. a. auf die Hirngröße aus, indem es die Produktion eines Wachstumsfaktors (des BDNF – „Brain Derived Neurotrophic Factor“) anregt. So reift das männliche Gehirn zwar im Schnitt langsamer, wird aber am Ende größer als das weibliche. Testosteron scheint beim Fötus im Mutterleib auch die Ausbildung der rechten Gehirnhälfte verstärkt zu fördern – und die trägt besonders viel zum musikalischen und räumlichen Verständnis eine Menschen bei. Daher könnten Musikalität und räumliches Denken ursächlich miteinander zusammenhängen – könnten aber auch unabhängig voneinander Leistungen erbringen, die jeweils vom Testosteron beeinflusst werden.

Bei weiblichen Föten entwickelt sich dagegen die linke Gehirnhälfte schneller, weshalb Frauen gemäß dem britischen Psychologen Simon Baron-Cohen von Anfang an einen Vorsprung in Bezug auf Sprache und soziale Intelligenz haben. Beim Jungen hingegen werde die Entwicklung der linken Gehirnhälfte verzögert. Ursache sei das Testosteron. Je niedriger der Testosteronspiegel während und nach der Schwangerschaft sei, um so einfühlsamer und sprachbegabter werde das Kind; je höher der Wert, umso geringere Sozialkompetenzen und umso spezialisiertere Interessen werde es später entwickeln. Das Gehirn eines Autisten ist demnach die Extremform des männlichen Denkorgans: Hoch systematisch, aber zur Empathie unfähig.

Unterschiede in der Gehirnanatomie

Die Korrelation zwischen der Größe einer Hirnregion bei Erwachsenen und der Wirkung von Sexualhormonen in der Gebärmutter deutet darauf hin, dass zumindest einige der geschlechtsspezifischen Unterschiede in den kognitiven Funktionen nicht durch kulturelle Einflüsse oder hormonelle Änderungen während der Pubertät entstehen – sie sind von Geburt an vorhanden. So haben Männer durchschnittlich ein um rund 12% größeres und schwereres Gehirn als Frauen; nach Studien sind Männerhirne im Mittel 1241 cm3 groß, Frauen rund 1100 cm3. Dabei existiert aber ein erheblicher Überlappungsbereich zwischen beiden Gruppen. Betrachtet man das relative Gehirnvolumen (also bei Berücksichtigung der individuellen Köperabmessungen) reduzieren sich die geschlechtsspezifischen Größenunterschiede um zwei Drittel.

Nach den vorliegenden Daten wirkt sich der Größenunterschied nicht auf die kognitive Leistungsfähigkeit aus. Frauen machen den Nachteil des kleineren Gehirns durch mehr Hirnwindungen wett, denn die Leistungsfähigkeit des Kortex (der Großhirnrinde) ist bekanntlich proportional zu seiner Oberfläche. Und eine stärkere Furchung des Gehirns führt zu einer Vergrößerung seiner Oberfläche, ohne das Volumen zu erhöhen.

Zwischen den Gehirn eines Mannes und einer Frau gibt es aber auch eine erstaunliche Palette an strukturellen, chemischen und funktionellen Unterschieden. Sie sind möglicherweise das Resultat von Selektionsdrücken während der Evolution und beeinflussen (mehr oder weniger) offenbar viele Bereiche der Kognition und des Verhaltens, z. B. Gedächtnis, Emotionen, Sehen, Hören, das Verarbeiten von Gesichtern und die Reaktion des Gehirns auf Stresshormone. Diese Unterschiede werden heute allerdings kontrovers diskutiert.

Erwiesen ist, dass Männer mehr graues Hirngewebe, also eine etwas dickere Hirnrinde, haben, Frauen mehr weiße Substanz. Die graue Substanz ist bei Frauen aber deutlich dichter gepackt. Manche geschlechtsspezifische Unterschiede hängen vermutlich eng mit der Lateralisierung des menschlichen Gehirns, also der Spezialisierung der Gehirnhälften, zusammen, deren Ausmaß deutlich mit dem Geschlecht variiert. Während Männer rechtshemisphärische Funktionen wie große zielgerichtete Bewegungen (wie z. B. beim Werfen) besser beherrschen – sie besitzen ein größeres Volumen des verantwortlichen Areals -, sind Frauen in von der linken Hemisphäre gesteuerten Aufgaben, wie z. B. feinmotorischen Bewegungen, überlegen. Umstritten ist, ob es eine signifikante Differenz der Geschlechter in der Verbindung zwischen den beiden Gehirnhälften gibt. Bei Frauen scheinen sich beide Gehirnhälften bei der Bewältigung verschiedener Aufgaben gleichmäßiger zu beteiligen, während Männer vermehrt jeweils eine Hirnhälfte aktivieren. Die Sprachproduktion, auf die die linke Hirnhälfte spezialisiert ist, scheint jedenfalls bei Frauen weniger lateralisiert, was zu höherer Wortflüssigkeit beiträgt.

Frauen sind unter dem Strich mitfühlender und reagieren sensibler auf emotionale Reize als Männer. Sie verarbeiten die Betonungsinformation – die emotionale Information, die mit einem Wort mitschwingt – Millisekunden früher, Männer dagegen zuerst den Inhalt des Wortes. Forscher vermuten, dass die hemisphärenbezogenen funktionellen Geschlechtsunterschiede auch dazu führen, dass Frauen mit höherer Wahrscheinlichkeit Details von emotionalen Ereignissen behalten, Männer dagegen eher den Hauptinhalt. Bei Frauen ist das Verhältnis zwischen einer Region, die an der Kontrolle von Gefühlen beteiligt ist (Orbitofrontalregion), und den Mandelkernen, die eher für die Erzeugung von Gefühlen zuständig sind, bedeutend größer als bei Männern, was bedeuten könnte, dass Frauen im Schnitt emotionale Reaktionen besser in den Griff bekommen. Bei Schizophrenen ist dieses Verhältnis bei Frauen kleiner, bei Männern merkwürdigerweise größer, was vermuten lässt, dass Schizophrenie bei Männern und Frauen eine jeweils etwas andere Krankheit ist und auf das Geschlecht bezogen behandelt werden müsste.

Das Sehzentrum von Frauen und Männern ist unterschiedlich aufgebaut, so dass Frauen eher zusammenpassende Objekte erkennen können und über eine höhere Wahrnehmungsgeschwindigkeit verfügen. Bei räumlichen Aufgaben schneiden sie aber schlechter ab, wobei das Ergebnis der Frauen allerdings abhängig ist vom Hormonstatus des Menstruationszyklus (s. u.). Männer verfügen allgemein über ein besseres räumliches Vorstellungsvermögen und lösen leichter Aufgaben, bei denen ein Gegenstand in der Vorstellung gedreht werden muss oder die Orientierung über einen Weg verlangt wird. Offenbar gehen Männer eher „holistisch“ an visuell-räumliche Aufgaben heran. Sie schätzen eher Entfernung und Richtung ab und lassen sich von Details nicht so leicht aus dem Konzept bringen, während Frauen eher analytisch vorgehen und sich an Landmarken orientieren. (Ähnliche Unterschiede zeigen sich schon bei wenigen Monate alten Babys.) Beide Geschlechter verwenden also andere Strategien aufgrund unterschiedlicher Vernetzungen im Gehirn, um sich in ihrer Umgebung zu orientieren.

Insgesamt können Männer und Frauen, so stellten neuere Studien fest, Denkaufgaben gleich gut bewältigen, nutzen dafür aber teilweise andere Gehirnareale. Über die Ursache dafür kann man derzeit nur spekulieren.

Wirkung der Geschlechtshormone

Hormone sind maßgeblich an der Entstehung von Unterschieden im Denken und Fühlen und dem Verhalten von Männern und Frauen beteiligt. So kann der gerade vorherrschende Hormonhaushalt die neuronale Verarbeitung verändern. Beispielsweise bewältigen Frauen zu Beginn des Menstruationszyklus – also während der Periode, wenn weniger Östradiol und mehr Testosteron in ihren Gehirnen vorhanden ist – Testaufgaben besser als in der Mitte des Zyklus. Der Rückgang der visuell-räumlichen Vorstellungskraft in der Zyklusmitte hängt statistisch also vor allem eng mit hohen Östradiolwerten zusammen. Da sich bei Männern der Testosteronlevel im Herbst deutlich verändert und höher ist als im Frühling, schneiden sie in dieser Jahreszeit bei räumlichen Vorstellungs-Tests etwas besser ab als während des restlichen Jahres. Frauen finden während ihrer fruchtbaren Phase kurz vor dem Eisprung typisch männliche Gesichtsmerkmale (z. B. ein breites Kinn) besonders attraktiv. Auf Männer wiederum wirken Frauen mit einem hohen Östrogenspiegel allgemein attraktiver, weiblicher und gesünder.

Die Forscher vermuten, dass das SRY-Gen die Stressreaktion durch vermehrte Ausschüttung von Katecholaminen (z. B. Adrenalin) und die damit verbundene Erhöhung des Blutdrucks im männlichen Organismus vorbereitet, was zu einer Stimulierung der aggressiven Grundstimmung führt. Dagegen sollen Östrogene und die Ausschüttung von körpereigenen Opiaten, die eigentlich der Schmerzlinderung dienen, bei Frauen aggressive Reaktionen bremsen. Östrogen steigert offenbar die Sensibilität für das Stresshormon Cortisol, was möglicherweise dazu beiträgt, dass Frauen häufiger an Depressionen erkranken als Männer. Es macht sie ängstlicher und hindert sie daran, dominant aufzutreten. Testosteron dagegen fördert wettbewerbsorientiertes Verhalten. Daher geht es in Männergruppen oft aggressiver und kompetitiver zu und es kommt eher zur Bildung einer Hackordnung als in rein weiblichen Ensembles.

Auch bei psychischen Störungen unterscheiden sich offenbar Frauen und Männer. So stellen Männer mit einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) im Mittel 52% mehr Serotonin (ein Hormon, das die Stimmung hebt) her als Frauen, was ebenfalls miterklären könnte, warum diese eher zu Depressionen neigen. Östrogen scheint die Ausschüttung des Hormons Dopamin, das in bestimmten Schaltkreisen des Gehirns positive Gefühle vermittelt, in jenen Hirnregionen zu steigern, die für die Regulation von drogengerichtetem Verhalten bedeutsam sind. Daher erliegen Frauen leichter den Wirkungen von Drogen wie Kokain und Amphetaminen und werden gewöhnlich schneller als Männer abhängig.

Die Neurowissenschaftler sind aber noch weit davon entfernt, all die geschlechtsbezogenen anatomischen und hormonellen Unterschiede im Gehirn und ihren genauen Einfluss auf kognitive Fähigkeiten und Krankheitsanfälligkeiten zu kennen. Ihre Auswirkungen, aber auch ihre Ursachen, sind auf alle Fälle sehr komplex.

Relativität der Unterschiede

Die Tatsache, dass jemand als Mädchen oder Junge erzogen wird und oft unterschiedlichen Lernwelten ausgesetzt ist, hat biologische Auswirkungen auf das Gehirn. Bis heute gibt es allerdings keine stichhaltigen Beweise dafür, dass soziale Faktoren unsere Geschlechtsidentität im späteren Leben tiefgreifend verändern. Nach Verhaltensstudien gehen Spielzeugvorlieben von Kindern zumindest teilweise auf angeborene biologische Unterschiede zurück. Laut Melissa Hines von der University of Cambridge (England) hantieren Jungen besonders gern mit solchen Gegenständen, die rollen können oder sich anderweitig durch den Raum bewegen – wie Fahrzeuge oder Bälle. Typisches Mädchenspielzeug sei dagegen eher ortsgebunden. Vergleichbare geschlechtskonforme Vorlieben unter Menschenaffen deuten auf mögliche evolutionäre Wurzeln hin.

Aber das verhaltensbiologische Erbe wird in nahezu allen Gesellschaften heute von kulturellen Einflüssen überlagert. Manche Forscher behaupten, psychologische und soziale Faktoren beeinflussten geschlechtsspezifische Verhaltensweisen stärker als angeborene biologische Unterschiede und färbten auf die Geschlechtsidentität ab. Inwieweit menschliche Verhaltensweisen tatsächlich biologische Wurzeln haben und inwieweit sie kulturell-moralischen Normen folgen, ist oft aber schwer zu entscheiden.

Die Plastizität unseres Nervensystems machen es problematisch, von dem Männerhirn oder dem Frauenhirn zu sprechen. Studien legen zwar nahe, dass sich bestimmte Hirnregionen zwischen Männern und Frauen unterscheiden, allerdings nur im Mittel. Nach einer Studie enthielt ein Drittel der untersuchten Gehirne sowohl typisch männliche als auch typisch weibliche Anteile. Dagegen waren nur sehr wenige Gehirne ausschließlich männlich oder weiblich. Der Rest lag irgendwo dazwischen. Die Gehirne der meisten Menschen scheinen demnach Mosaike mit weiblichen und männlichen Eigenschaften zu sein. Oft fallen die Geschlechtsunterschiede im Gehirn so marginal aus, dass geschlechtsspezifische Stereotype kaum zu rechtfertigen sind.

Das biologische Geschlecht ist also selten ganz eindeutig. Die häufig gestellten Fragen nach „typisch männlich“ und „typisch weiblich“ enthalten daher schon im Ansatz typologische Vereinfachungen, indem die tatsächlich überlappende geschlechtstypische Häufigkeitsverteilung der Merkmalsausprägungen ausgeklammert wird. Daher ist es sachlich nicht gerechtfertigt, aus den Durchschnitten von Individuen „natürliche“ oder „biologisch bedingte“ Rollenvorschriften oder Gegensätze zwischen den Geschlechtern abzuleiten. Wenn den Geschlechtern traditionell verschiedene Rollen zugeordnet werden, wie etwa „die Frau ist besser geeignet für … (z. B. Erziehung der Kinder)“, „der Mann ist besser geeignet für … (z. B. Berufe mit schwerer Arbeit)“, wird also leicht übersehen, dass es die Frau und den Mann überhaupt nicht gibt.

Genau genommen gibt es daher in den Verhaltensmerkmalen keine klaren Unterschiede zwischen weiblich und männlich. Vielmehr scheinen bei den meisten Merkmalen Zwischenformen fast jeden Grades möglich. Die amerikanische Psychologin Janet Hyde formulierte die „Hypothese der Geschlechterähnlichkeit„, wonach die Übereinstimmungen der psychologischen Profile von Männern und Frauen größer sind als die Unterschiede.

Transidentität

Zwischen „männlich“ und „weiblich“ liegen also viele Übergangsstadien – und alles ist immer eine Frage der Definition. Geschlechtszugehörigkeit wird nicht allein von körperlichen Geschlechtsmerkmalen, sondern wesentlich von der subjektiven Geschlechtsidentität bestimmt. Transidente (transgeschlechtliche) Menschen empfinden das ihnen bei der Geburt zugeschriebene Geschlecht als falsch. Sie können sich mit ihrem Körper nicht identifizieren, sondern fühlen sich dem anderen Geschlecht zugehörig. Es gibt Trans* Männer (Frau-zu-Mann) und Trans*Frauen (Mann-zu-Frau). (Das Sternchen soll Raum für mögliche Identitäten lassen.)

Transident sind auch Menschen, die sich geschlechtlich nicht eindeutig verorten lassen oder nicht verorten lassen wollen. Diese sog. Transgender fühlen sich durch ihr biologisches Geschlecht unzureichend beschrieben. Manche von ihnen leben zwischen den Geschlechtern, andere beschreiben sich als „weder-noch“ oder lehnen das Zweigeschlechtersystem ganz ab. (Zu ihnen gehören auch die Intersexuellen; s. o.) Die meisten Wissenschaftler gehen davon aus, dass Transidentität angeboren ist, also biologische Ursachen hat – etwa in der vorgeburtlichen Hirnentwicklung. Da sich das Gehirn des Embryos erst in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft formt, wenn die körperliche Ausprägung schon abgeschlossen ist, können körperliches und Gehirngeschlecht voneinander abgekoppelt sein und sich verschieden entwickeln, glaubt der Neurowissenschaftler Dick Swaab von der Universität Amsterdam. Dazu passt, dass manche Transidente schon als kleine Kinder wissen, dass sie „anders“ sind.

Auf einigen Südseeinseln ist Transsexualität voll akzeptiert. Die Betroffenen sind gesellschaftlich angesehen und arbeiten traditionell als Hebammen. Der Wunsch nach einer geschlechtsangleichenden Operation belächeln sie als „westlichen Import“. Man sieht: Toleranz entsteht aus der Akzeptanz biologischer Tatsachen.

Transsexuelle besitzen statt der für ihr Geburtsgeschlecht typischen Neuronenzahl eine, die typisch ist für das Geschlecht, dem sie sich zugehörig fühlen. Während ein Abschnitt (BSTc) des Hypothalamus (der u. a. das Sexualverhalten steuert), bei Männern etwa doppelt so groß ist wie bei Frauen, ist er bei Transsexuellen genauso ausgeprägt wie beim „gefühlten“ Geschlecht. Ein weiteres Areal des Hypothalamus (INAH-3) fällt bei Transfrauen (gefühlte Frauen mit männlichem Körper) kleiner aus als bei Männern – das Volumen entspricht jenem heterosexueller Frauen. (Ähnliches gilt für die Homosexualität: So ist z. B. bei Homosexuellen die spezielle Zellgruppe INAH-3 im Hypothalamus kleiner als bei heterogenen Männern – ungefähr so groß wie bei Frauen.) Das Gehirn Transsexueller ist wahrscheinlich auch anders verschaltet.

Vermutlich führt ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren zur Transidentität. Denn auch frühkindliche Prägung könnte eine Rolle bei der Entstehung der Identitätsstörung spielen, z. B. der Einfluss eines sehr dominanten Elternteils. Eine übermächtige Mutter könne etwa ihren Sohn in eine weibliche Rolle drängen. Auch diskutieren Forscher seit langem , ob es nicht auch eine sog. sekundäre Transgeschlechtlichkeit gibt, die erst im Erwachsenenalter auftritt, da manche Menschen erst im Laufe ihres Lebens plötzlich ihr Geschlecht ändern wollen.

Es gibt Beispiele im Tierreich dafür, dass männliches und weibliches Verhalten in Sekundenschnelle – und ohne Mitwirkung von Sexualhormonen – an- oder ausgeknipst werden kann. Forscher fanden im Gehirn von Mäuseweibchen Neuronenschaltkreise, die das männliche Paarungsverhalten steuern. Umgekehrt wurden Netzwerke für mütterliches Verhalten auch bei männlichen Mäusen nachgewiesen. Wenn man nur den richtigen Schalter in ihrem Gehirn umlegt, können diese Netzwerke aktiviert werden. Der Schalter dafür liegt im Vomeronasalorgan, das beim Weibchen im Normalfall den männlichen, beim Männchen den weiblichen Weg blockiert. Das ist mit hoher Wahrscheinlichkeit bei allen Wirbeltieren so, vom Fisch bis zum Homo sapiens. Ziemlich sicher aber ist auch, dass bei uns der Schalter nicht durch Manipulation am Riechorgan umgelegt werden kann. Beim Menschen könnte ein visueller Schalter beteiligt sein, oder auch ein sozialer.

Der natürliche Prozess, bestimmte Einzeleigenschaften von Geschlechtern nach Bedarf in einem Lebewesen zu mischen, wird offenbar von der Anforderungen im Evolutionsprozess angestoßen. Er kann mit recht komplexen Veränderungen der Genstruktur einhergehen, die in der Folge dann die genetische Regulation verändern. (Junge Blaupunkt-Korallengrundeln, eine Fischart in Australien, besetzen einen Brutplatz und warten auf einen Partner. Dessen Geschlecht ist ihnen egal, denn sie nehmen einfach das gegenteilige an. – Beim Maulwurf sehen Tiere mit zwei X-Chromosomen zwar säugertypisch wie Weibchen aus und bekommen Nachwuchs. Sie können aber ebenso das Geschlecht wechseln oder Zwitter sein. Wie diese Vielfalt im Körper reguliert wird, ist verwirrend komplex.) Dieser Mechanismus wurde bisher womöglich unterschätzt. Es ist denkbar, dass er häufiger als gedacht hinter bislang ungelösten Rätseln phänotypischer Varianten und Anpassungen im Tierreich steckt.

Fazit

Ein feines Zusammenspiel von Genen, Hormonen und Enzymen sowie Umweltfaktoren leiten also insgesamt die geistige und psychische Entwicklung der Geschlechter. Sicher ist heute, dass vor allem frühe Einflüsse vor der Geburt, vor allem der individuelle „Hormoncocktail“ in der Gebärmutter, die Geschlechtsentwicklung mitbestimmen. Sie entscheiden oft, in welchem Grad sich männliche und weibliche Merkmale ausbilden und prägen auch die Geschlechtsidentität im späteren Leben. Schon graduelle Verschiebungen in der Hormonzusammensetzung können diese Prozesse beeinflussen. Neue Techniken der Zellbiologie und DNA-Sequenzierung verdeutlichen: Fast jeder Mensch hat sein eigenes Geschlecht. (Es findet sich sogar manchmal in Körperzellen ein Geschlecht, das nicht zum Rest des Körpers zu passen scheint.)

REM

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