Zu den Schlüsselerlebnissen des Menschen gehört auch die Verunsicherung über das, was eigentlich „wirklich“, also Realität ist. Was sehen wir, wenn wir die Welt betrachten? Erkennen wir sie so, wie sie tatsächlich ist, oder konstruiert unser Gehirn lediglich ein Abbild von ihr? Oder sehen wir gar nur eine Scheinwelt, gaukelt uns unser Gehirn also nur eine Realität vor?
Der Skeptizismus, eine philosophische Richtung, die einen Ursprung bei den Vorsokratikern, aber auch bei Sokrates selbst und den Sophisten hat, stellt unser Wissen von der Außenwelt grundsätzlich in Frage. Wir verfügen über kein direktes und belastbares Wissen über unsere Außenwelt, können uns also nicht sicher sein, dass wir nicht nur in einer Scheinwelt leben und einer generellen Täuschung unterliegen. Für die Vertreter des Idealismus gibt es eh keine Dinge unabhängig von unserem Geist. Die Wirklichkeit ist nur, das, wodurch sie uns erscheint. Diese extrem radikale und höchst umstrittene erkenntnistheoretische Position wurde und wird nur von wenigen Denkern vertreten, beispielsweise dem irischen Philosophen George Berkeley (1685-1753). Die Welt, so seine mutige These, verschwinde augenblicklich, sobald niemand mehr ihrer gewahr werde. „Esse est principi“ („Sein ist Wahrgenommenwerden“) lautet sein berühmtes Diktum.
Der erkenntniskritische Idealismus führt unweigerlich zum Solipsismus, dessen Vertreter behaupten, die Welt sei eine reine Konstruktion des Geistes, und eine unabhängige Wirklichkeit existiere nicht. „Wir sind die ultimative Maschine, um Realität zu schaffen.“ (Rodolfo Llinas, Neurowissenschaftler) Streng logisch genommen kann man diese Position nicht widerlegen, da sie alles – jeden Sinneseindruck und jede Erfahrung – zu einer Illusion erklärt. Auch für die buddhistische Schule Cittamatra sind Raum und Zeit nur abstrakte Gedankengebilde. Sobald die Wahrnehmung eines Phänomens verschwindet, ist es nicht mehr vorhanden. Da aber mein Bewusstseinsstrom mit dem der anderen Menschen verwoben ist, provoziert das die Erscheinung einer gemeinsamen externen Welt, trotzdem ist diese Welt Illusion.
Viele Philosophen oder philosophierende Wissenschaftler betonen heute, dass gesichertes Wissen über die bewusstseinsunabhängige Außenwelt prinzipiell unmöglich ist. Die Frage kann daher nicht sein, ob ich nachweisen kann, dass es eine unabhängige Welt gibt, sondern nur, ob es plausibel ist, von ihrer Existenz auszugehen.
Der Materialismus geht von der Tatsache aus, dass keine reproduzierbaren Daten für eine globale Täuschung vorliegen. Es muss also irgendetwas Stoffliches geben. Und daher darf eine von uns unabhängige Außenwelt angenommen werden. Wozu haben wir denn unsere Sinnesorgane, wenn es außerhalb unseres Selbst nichts geben sollte, das sinnlich wahrnehmbar ist? Sobald man neben der „Welt der Erscheinungen“ aber von der Existenz einer bewusstseinsunabhängigen Außenwelt ausgeht, sollte auch Wissen über die Außenwelt durchaus möglich sein.
Auch für die Anhänger des Realismus existiert eine objektive Wirklichkeit unabhängig von uns. Materie, Raum und Zeit werden als reale und von Erkenntnis- und Bewusstseinsprozessen völlig unabhängige Kategorien angesehen, die wir als objektive Beobachter quasi von außen her erkennen können. Der „kritische Realismus“ schränkt allerdings ein, dass die Erscheinungen der Welt nicht unmittelbar eingesehen und verstanden werden können.
Konstruktivismus
Wir alle verhalten uns im Alltag wie naive Realisten. Wir nehmen wie selbstverständlich an, dass die äußere Welt dem Bild entspricht, das uns unsere subjektiven Sinneseindrücke, aufgenommen etwa über druckempfindlichen Tastsensoren in den Fingerspitzen oder Sehsinneszellen im Auge, von ihr liefern. Was wir haben, ist jedoch letztlich nur die Gewissheit über diese Sinnesdaten. Kein einziges Atom aus unserer Umwelt gelangt aber ins Gehirn. Vielmehr verlaufen Aktionspotenziale von den Sinneszellen über viele Stationen in ein bestimmtes Hirngebiet, lösen dort weitere Nervenaktivität aus und werden mit anderen Impulsen zusammengeschaltet. Auf jede Nervenzelle mit „Außenkontakt“ kommen schätzungsweise 100 000 weitere, die nur mit anderen Neuronen, aber nicht mit der Umwelt kommunizieren.
Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Wirklichkeit, die wir erleben, durch die Aktivität unseres zentralen Schaltorgans erzeugt wird. Sie besteht also aus nichts weiter als elektrischen Signalen, interpretiert von unserem Verstand. Jedes Gehirn konstruiert sich so sein Bild von der Welt. In der Erkenntnisphilosophie wird daher die Palette von Theorien, die die Trennung von Erkennenden und zu Erkennendem, zwischen Subjekt und Objekt, aufheben, als Konstruktivismus bezeichnet. Der Akt des Erkennens beeinflusst stets auch Art und Inhalt des Erkannten. Psychologen und Neurowissenschaftler sammelten inzwischen zahlreiche Belege dafür.
Im Gegensatz zum Solipsisten sagt der radikale Konstruktivist: Es mag eine bewusstseinsunabhängige Welt geben (Realismus), aber wir haben keinen Zutritt zu ihr. Es gibt keine wahrnehmbare Realität, keine Wirklichkeit, die wir von außen betrachten und analysieren können. Die Welt, wie wir sie sehen, ist daher eine vom Gehirn konstruierte Wirklichkeit, eine mentale Scheinwelt. Der Hirnforscher Antonio Damasio spricht gar von einer „geistigen Multimedia-Show“, zu der unsere Neurone den Strom der inneren und äußeren Reize verarbeiten. Über die Existenz einer objektiven Wirklichkeit vermögen wir nichts auszusagen, geschweige denn, sie zu beweisen.
Für uns ist also nur eine subjektive Realität wahrnehmbar. Das, was wir für die Wirklichkeit halten, gibt es eigentlich gar nicht – jedenfalls nicht in der von uns wahrgenommenen Form, meinte auch der verstorbene Neurowissenschaftler Francis Crick. Die Welt – ein Hirngespinst? Wissen und Erkenntnis nicht Abbildungen der Realität, sondern reine Konstrukte? Der Radikale Konstruktivismus gehört jedenfalls zu den einflussreichsten Denkschulen der letzten Jahrzehnte, rief aber auch Kritiker auf den Plan. Sie bemängeln die theoretischen Grundlagen und weisen auf logische Widersprüche hin.
Auch die Vertreter des Gemäßigten Konstruktivismus halten es für sehr wahrscheinlich, dass es eine äußere Welt gibt, eine Welt außerhalb unseres Bewusstseins. Sie ist nicht lediglich in unseren Köpfen, wenn wir sie erschaffen – sie ist wirklich da draußen, zugleich mit allen ihren möglichen Auswirkungen. Aber die äußere Welt ist nicht so, wie wir sie wahrnehmen und erleben, sondern sie erscheint uns lediglich in der Art und Weise, wie wir sie interpretieren.
Die Informationen über die äußere Realität (den „Input“) erhalten wir über Rezeptoren, unsere Sinnesorgane. Über viele Prozesse konstruiert unser Gehirn daraus ein Gesamtbild der Außenwelt, wobei der größte Teil der Sinnesinformationen ausgemustert wird. Das schließliche Abbild der Wirklichkeit wird auch von unserer Bedürftigkeit und unserem Interesse beeinflusst – und ist nie frei von Gefühlen. Erst in diesem komplexen Prozess von Filtern und Gewichten, Denken und Fühlen entsteht unser Weltbild.
Immanuel Kant argumentierte im 18. Jahrhundert, das Chaos der uneingeschränkten sensorischen Eindrücke bliebe immer sinnlos, wenn es nicht durch bereits vorhandene Vorstellungen und „Überzeugungen“ eine Struktur erhielte. Er postulierte, dass der menschlichen Erkenntnis apriorische Denkformen der Anschauung (z. B. Zeit und Raum), des Verstandes (z. B. Ursache und Wirkung) und der Vernunft vorgegeben seien. Sie ermöglichten überhaupt erst Erfahrungserkenntnis – und formten und begrenzten zugleich den Erkenntnisbereich. Anders als mit Hilfe und im Rahmen dieser Strukturen können wir demnach überhaupt nichts erfahren, nichts über die Welt erkennen; anders als räumlich, zeitlich und kausal geordnet kann unsere Erfahrung gar nicht sein. Unseren begrenzten Fähigkeiten, die Welt zu erklären, entspricht der uns vertraute Erfahrungsbereich (der sog. Mesokosmos), der sich nur auf sehr begrenzte Regionen der Raumzeit erstreckt und auch dort nur sehr punktuell ist. Unsere Wahrnehmung und Erfahrung, unser Erkennen und Wissen und die Art, wie wir wahrnehmen, erfahren, erkennen und wissen ist demnach bestimmt durch die Struktur unseres Erkenntnisvermögens.
Wenn diese Grundstruktur nichts mit der Struktur der eigentlichen Realität zu tun hat, dann werden wir die eigentliche Realität (Kant nennt sie „Dinge an sich“) niemals erkennen, ja wir werden sie uns nicht einmal vorstellen können. Das, was wir als real in der Welt zu erkennen glauben, sind nach Kant ausnahmslos nur Erscheinungen. Wir erkennen die Dinge immer und mit Notwendigkeit nur so, wie sie uns erscheinen – und das heißt, bedingt durch unseren Erkenntnisapparat, also unsere Wahrnehmungs- und Denkfähigkeit. Über die wirklich realen „Dinge an sich“ sagt Kant kurz und bündig: Was sie sein mögen, weiß ich nicht und brauche es nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders als in Erscheinung vorkommen kann. Kants Argumentation hat ihre offenkundige Berechtigung, denn eine Erkenntnis aus der modernen Physik ist, dass man nicht sagen kann, wie die Dinge wirklich sind, sondern nur, wie sie uns erscheinen. (s. u.)
Die individuelle Wirklichkeit und die vom Bewusstsein unabhängige Realität sind also zwei verschiedene Dinge. Wir haben nur eine annähernde Beschreibung der Wirklichkeit, die viel reicher ist als unser Bewusstsein von ihr. Aus diesem Grund ist der kontinuierlich ablaufende Vorgang des bewussten Erlebens weniger ein Abbild der Wirklichkeit als vielmehr ein „Tunnel durch die Wirklichkeit“ (Kant).
Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz, Kants zeitweiliger Nachfahre auf dem Königsberger Lehrstuhl, hatte als einer der ersten ab den 1940er Jahren die Kant’schen „Apriori“ ins „rechte Licht“ der stammesgeschichtlichen Anpassung gesetzt und die Evolutionstheorie von Darwin mit der Erkenntnistheorie Kants unter dem Namen Evolutionäre Erkenntnistheorie verknüpft, ausgebaut und diskutiert. Den „angeborenen Ideen“ entspricht demnach die genetisch übertragene Information über die Welt. Sie steckt also in unserem Erbgut, und somit auch in den Sinnesorganen, im Zentralnervensystem, im Gehirn.
Die Evolution hat unser Erkenntnisvermögen geprägt und bestimmt die Leistungen und Grenzen unseres Weltbildes. Eine exakte, vollkommene und umfassende Abbildung der Welt wäre biologisch nicht sinnvoll und nicht nötig. Die Hauptaufgabe des Gehirns ist es, dem Menschen die Orientierung und das Überleben in seiner spezifischen Umwelt – der natürlichen und der sozialen – zu ermöglichen. Zu seinen Aufgaben gehört sicherlich nicht, die wahre Natur der Dinge zu erkennen und die letzten kosmischen Wahrheiten zu entdecken.
Das Gehirn des Frosches nimmt nur das aus seiner Umgebung wahr, was für ihn interessant und wichtig ist: Das sind vor allem Wasseroberfläche, Beute und Feinde. Mehr ist biologisch nicht notwendig. Die Eigenart seiner Weltsicht ist in seiner Anatomie begründet. Jede einzelne Nervenbahn, die vom Auge zum Gehirn führt, ist mit vielen Sehzellen verbunden, so dass ein ganzes Muster übertragen wird. Das Auge spricht also in einer bereits gedeuteten Sprache zum Gehirn und gibt nicht nur eine mehr oder weniger exakte Kopie der Lichtverteilung in den Rezeptoren des Auges weiter.
Zum (Über)Leben in seiner Welt braucht auch der Mensch nicht diese Unmenge an Information, die die äußerst komplexe Umwelt bereithält. Sie würde sein Aufnahmevermögen völlig überfordern. Daher muss aus der Fülle der Informationen, die sein Gehirn erreicht, vieles für ein stimmiges Gesamtbild über Bord geworfen werden. Unser Zentralorgan entscheidet, was für uns in der jeweiligen Situation wichtig und was unwichtig ist, wobei persönliche Erfahrungen und Erinnerungen eine große Rolle spielen. Alles andere ist Interpretation.
Außerdem ergänzt unser Denkorgan nicht vorhandene Einzelheiten, die zu dem genetisch vorgegebenen Schema dazugehören. Wir merken es nicht einmal, so wir wir eben auch den Blinden Fleck in unserem Auge nicht sehen. Die aktuellen Sinnesreize sind also nur der Anlass für unser Gehirn, bewährte und gespeicherte Konstrukte aus dem Gedächtnis abzurufen und auch in einem verworrenen Bild bekannte Strukturen zu erkennen. Auf diese Weise halten wir ein kohärentes und stimmiges Weltbild (und Selbstbild) aufrecht.
Aus kleinen Stückchen Information und Erinnerung bauen wir uns also unsere Realität. Nach Heisenberg hängt das, was immer wir aussagen, von unserer Fragestellung ab, von unseren Entscheidungen, was und in welcher Weise wir beobachten. Diese Beobachtungen beruhen wiederum auf dem Inhalt unserer Gedanken, diese auf unseren Erwartungen, unserem Bedürfnis nach Kontinuität.
Die Welt, in der wir bewusst leben, ist also nicht die Wiedergabe unserer realen Umwelt, sondern vor allem ein Produkt unseres (stammesgeschichtlichen und individuellen) Gedächtnisses und unserer Erfahrung. Was wir tatsächlich wahrnehmen, sind die Modelle, die unser Gehirn aus einer Kombination von sensorischen Informationen und Apriori-Erwartungen von der Welt kreiert. Beide, sowohl sensorische Information als auch Erwartungen, sind für diesen Prozess wesentlich. Wenn keine sensorische Information zur Verfügung steht, füllt unser Gehirn die Lücke einfach aus. Unsere Modelle von der Welt sind also nicht die Welt selbst, sie decken sich nicht mit der Realität, aber für uns sind sie so gut wie die Welt.
Nach dem Hirnforscher Gerhard Roth gibt es keinen Zweifel daran, dass es für uns bzw. unser Gehirn prinzipiell unmöglich ist, zu überprüfen, ob und inwieweit die Konstrukte unseres Denkorgans mit den Verhältnissen in der bewusstseinsunabhängigen Welt („Realität“) übereinstimmen: Jede Wahrnehmung ist eine Hypothese. Das widerspricht jeder Art von erkenntnistheoretischem Realismus. Allerdings haben sich die Konstrukte des Gehirns in aller Regel in der Stammesgeschichte offenbar gut bewährt, da die Art, wie das menschliche Gehirn seine Welt konstruiert, kaum von der Art abweicht, wie dies andere Wirbeltiere seit 250 Millionen Jahren tun. Hinzu kommt die Bewährung über die individuelle Erfahrung, die überwiegend unbewusst und nach Versuch und Irrtum geschieht. Wir konstruieren also als bewusstes Ich die Welt nicht nach unserem Geschmack. Das geht schon deshalb nicht, weil auch dieses Ich ein Konstrukt des Gehirns ist.
Moderne Physik
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckte man, dass Wirklichkeit mehr und anders ist, als man bisher dachte. Sie lässt sich nicht durch sinnliche Wahrnehmung erfassen, sondern wird letztlich bestimmt durch die Gesetze der Quantenmechanik. Diese Welt im Kleinsten ist nicht unsere Welt, sie ist total anders! Die alte Vorstellung, dass wir uns die Welt als dingliche Wirklichkeit denken können, ist nur in mesokosmischen und makrokosmischen Systemen möglich.
Bei der Suche nach verlässlicher Erkenntnis haben sich naturwissenschaftliche Test- und Messmethoden bewährt. Überaus befremdlich ist für uns, dass eine Messung in der mikroskopischen Welt nicht Aufschluss gibt über Eigenschaften, die ein Objekt einfach hat, ob man es nun beobachtet oder nicht. So etwas erwartet man von einer realistischen Theorie. Albert Einstein und andere Realisten hatten noch gefordert, die Physik müsse ein geistiges Abbild der objektiven Realität zustande bringen – und sei es noch so unvollkommen. Antirealisten wie Nils Bohr fanden, solche Abbilder seien zum Scheitern verurteilt. Die Forscher sollten sich darauf beschränken, empirische Vorhersagen zu machen und zu überprüfen. Es gelang schließlich, die Annahme, Objekte hätten Eigenschaften unabhängig von der Beobachtung, experimentell zu widerlegen, während die Quantentheorie bei solchen Experimenten voll bestätigt wurde. Man kann in diesem Sinne paradoxerweise sagen, die Quantentheorie sei unrealistisch, aber richtig.
Die meisten Menschen haben die naive Vorstellung, die auch unter Naturwissenschaftlern weit verbreitet ist, dass sich Wissen und Realität entsprechen. Aber nicht nur das ist real, was dann wirklich Wissen wird, sondern auch das, was man wissen kann. Die Quantenphysik spricht von potenziellem Wissen. Die Quantenphysik zwingt uns also, den Realitätsbegriff drastisch zu erweitern. Wirklichkeit ist Potenzialität. Die Verwirklichung der Möglichkeiten geschieht durch eine Messung, und über deren Ausgang macht die Quantentheorie Wahrscheinlichkeitsaussagen.
Als Gefangene unserer neuronalen Architektur sind wir unfähig, ein unmittelbares Verständnis für die in der modernen Physik postulierten Phänomene zu entwickeln. „Die Realität können wir uns nicht vorstellen“, sagt Gerhard Roth. Aber: Man „kann doch etwas über die bewusstseinsunabhängige Welt aussagen, man muss es sogar, wenn man z. B. Neurobiologe ist. Ich muss mir aber klar darüber sein, dass ich mich immer nur in Umschreibungen, bildhaften Vergleichen, Metaphern ausdrücken kann.“
Eine solche Metapher sei beispielsweise die Wellenlänge, die man braucht, wenn man den Sehvorgang untersuchen will. So sagt man, Licht von 400 Nanometern Wellenlänge trifft auf die Netzhaut und erzeugt auf sehr komplizierte Weise in der Großhirnrinde schließlich den Eindruck blauviolett. Wir sind davon überzeugt, dass es dieses blauviolette Licht wirklich gibt, und es nicht nur eine Erfindung unseres Gehirns ist.
Erwin Schrödinger stellt in seinem Buch „Mind and Matter“ fest, dass die Beschreibung der Wirklichkeit als Wellen und Teilchen der bisher gelungenste Versuch ist, die physikalische Wirklichkeit als Bilder zu verstehen. Diese Bilder, die wir jetzt haben, sind aber nicht die einzig Möglichen. Wir erfinden immer wieder neue Realitätsbilder. Sie verdrängen die alten Ideen niemals völlig, sondern ersetzen sie großenteils durch Konzepte, die besser funktionieren und die Natur besser beschreiben. Dann kommt die nächste Umwälzung und wirft alles über den Haufen. Und wir sind jedes Mal wieder überrascht, dass das alte Denken auf den gewohnten Bahnen einfach versagt.
Manche Dinge können wir uns anschaulich vorstellen, manche nicht. Auch Einsteins abstrakte, vierdimensionale Geometrie ließ sich nur schwer veranschaulichen. Vorstellbar wurde sie durch mathematische Beziehungen. Diese überdauern, während die alten Realitätsbegriffe verblassen. Auch die Quantenfeldtheorie ist ein mathematisches Gebilde. Sie beschreibt das Verhalten von Quarks, Myonen, Photonen und diversen Quantenfeldern, die ihre Realität aus den Naturgesetzen beziehen, in denen sie nur als Begriffe auftreten und zur Ableitung von experimentell überprüfbaren Aussagen dienen. Nach dem Teilchenphysiker Henning Genz ist den Gesetzen der Physik eher Realität zuzusprechen als den Objekten, deren Existenz sie behaupten.
Aber auch naturwissenschaftliche Aussagen können nie den Anspruch erheben, objektiv wahr zu sein. Unsere Theorien sind letztlich – so erfolgreich sie auch die Natur beschreiben – mathematische Modelle, also Konstrukte des menschlichen Geistes, die zwar immer weiter verfeinert werden, aber nie die Natur ganz erfassen können. Das wissen die Philosophen des Ostens schon seit Jahrtausenden. Auch der theoretische Physiker Leonard Susskind ist davon überzeugt, dass wir über die Realität wohl keine endgültigen Aussagen machen können – wobei die naive Realität von Billardkugeln und Zeigerstellungen nicht berührt wird. Susskind fordert daher die Trennung von dem Wort „Realität“. Der Begriff störe; er beschwöre Dinge herauf, die uns kaum helfen. Das Wort „reproduzierbar“ sei nützlicher als „real“. Der Begriff Realität habe mehr mit Biologie und Evolution zu tun als mit Physik, er betreffe eher unsere biologische Hardware.
Die meisten Physiker nehmen aus diesem Grund eher eine sog. instrumentelle Haltung ein und verneinen, dass physikalische Theorien die Welt widerspiegeln sollen. Für sie stellen Theorien bloß Instrumente dar, mit denen sich experimentelle Vorhersagen machen lassen. Vielen Physikern genügt das. Sie sprechen daher fast nie von Realität. Werden sie mit dem Begriff Realität konfrontiert, wollen sie ihn pragmatisch verstehen. Es geht ihnen also nicht darum, zu verstehen, was Realität letztlich ist, sondern darum, was wir meinen, wenn wir diesen Begriff verwenden.
Dennoch sind die meisten Wissenschaftler überzeugt, dass ihre Theorien zumindest einige Aspekte der Natur abbilden, wenn Experimentatoren eine Messung durchführen. Die physikalische Realität ist, wie sie ist, und verhält sich, wie sie will – und wir lernen mühsam, unsere mathematischen Werkzeuge an ihr ungebärdiges Verhalten anzupassen. Mit jeder Vervollkommnung des mathematischen und technischen Werkzeugs lernen wir aber auch neue Aspekte der Wirklichkeit kennen.
REM