Das Rätsel der Materie

Schon im alten Griechenland stellten sich die Philosophen die Frage, was denn dieser Stoff, aus dem die Welt besteht, sei. So glaubte Thales von Milet, dass alle materiellen Stoffe Aspekte des Urstoffes Wasser seien, für Anaximander war es die Luft, für Heraklit das Feuer. Andere wiederum vermuteten die Erde als Urstoff. Aus diesen Annahmen entwickelte sich die Vier-Elemente-Theorie, die einen kontinuierlichen, alles umfassenden Urstoff, bestehend aus den vier Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft, postuliert. Diesen entsprechen die vier Zustände der Materie: fest, flüssig, gasförmig und Plasma.

Die Anhänger einer konkurrierenden Denkschule im antiken Griechenland, die Atomisten, vertraten hingegen die Position, dass die gesamte Natur aus elementaren, kleinsten und unteilbaren Teilchen bestehe. Demokrit, ein Schüler des Naturphilosophen Leukipp, nannte sie Atome (nach griechisch: atomos = unteilbar) und wurde zum Begründer der Atomtheorie. Wie andere griechische Materialisten sah er in der Materie das Unveränderliche und Grundlegende gegeben: „Nur scheinbar ist ein Süß oder Bitter, nur scheinbar hat es Farbe; in Wirklichkeit gibt es nur Atome und den leeren Raum.“ Im 19. Jahrhundert lieferte die chemische Forschung immer stärkere Argumente für die Atomtheorie Demokrits.

Das Atom

Die traditionelle Sichtweise konstatiert, dass Materie aus kleinen Grundbausteinen, Atomen und Molekülen, besteht. Jedes Atom sollte jeweils eine bestimmte Masse und Größe haben und sich bei chemischen Umwandlungen nicht verändern (Konstanz). Ein typisches Atom besitzt einen Durchmesser von einem Hundertmillionstel Zentimeter (10-8 cm).

Ende des 19. Jahrhunderts entdeckte man, dass das Atom nicht fundamental ist, sondern offenbar aus einer positiv geladenen Masse im Kern und einer negativ geladenen Hülle besteht. Ernest Rutherford schlug 1910 ein „planetares“ Modell des Atoms vor: Ein Atomkern, der aus positiv geladenen Protonen und (außer beim Wasserstoff) ungeladenen, also elektrisch neutralen Neutronen besteht, und einer Hülle mit negativ geladenen Elektronen. Da die Anzahl der Protonen und Elektronen in einem Atom normalerweise immer jeweils gleich ist, ist ein Atom insgesamt elektrisch neutral. Beide, Protonen und Elektronen, bestimmen die Form des Atoms, seine weiteren chemischen Eigenschaften, seine Dynamik.

Die starke Kernkraft verhindert, dass die Kernteilchen (Nukleonen) – also Protonen und Neutronen – entgegen der abstoßenden elektrischen Kraft der positiv geladenen Protonen auseinander fliegen und ermöglicht so stabile Atomkerne. Deren Durchmesser ist mehr als 20 000- bis 150 000-mal kleiner als der der Elektronenhülle. Anschaulich dargestellt: Hätte das Atom die Größe eines Golfplatzes (80 Hektar), wäre der Kern ungefähr so groß wie eines seiner Löcher (knapp 11 Zentimeter). Aber in diesem winzigen Atomkern sind mehr als 99% der Masse des gesamten Atoms konzentriert.

Nach der Entdeckung des Elektrons (1897), des Protons (1917) und des Neutrons (1932) schien der Aufbau der Materie verstanden. Für die Alltagswelt gilt dies auch annäherungsweise.

Bau der Nukleonen

In den 1960er Jahren glaubten noch viele Physiker, die Bausteine des Atomkerns (Nukleonen) seien so etwas wie kleine Kügelchen, durch und durch mit derselben Materie angefüllt. Murray Gell-Mann und George Zweig postulierten als Erste, dass sie aus noch fundamentaleren Partikeln aufgebaut sind und über ein äußerst komplexes Innenleben verfügen. Die Quantenchromodynamik (QCD) erklärt heute den Aufbau der Atombestandteile sowie die Kräfte (Wechselwirkungen) zwischen ihnen.

In einem Proton oder Neutron befinden sich demnach jeweils drei Massekonzentrationen, die als Quarks bezeichnet werden. Das Proton enthält zwei u- und ein d-Quark (uud), das Neutron zwei d- und ein u-Quark (ddu), die normalerweise ständig im Inneren der Kernteilchen eingeschlossen sind. Diese Quarks heißen Valenzquarks, da sie den Teilchen ihre äußeren Eigenschaften wie Teilchenart und Ladung verleihen. Andere, schwerere Quarks sind am Aufbau unserer Welt, der „normalen“ Materie, praktisch nicht beteiligt und haben nur subtile Rückwirkungen auf das physikalische Verhalten der u- und d-Quarks.

Quarks verhalten sich wie punktförmige Objekte – in dieser Beziehung ähneln sie den Elektronen (s. u.) – und sind auf jeden Fall kleiner als ein Tausendstel, manchen Messungen zufolge sogar kleiner als 0,2 Tausendstel der Protonengröße. Sie sind also sehr, sehr winzig – vielleicht haben sie sogar eine Ausdehnung von null, dem experimentell nichts widerspricht. Ihr Abstand voneinander in einem Kernteilchen beträgt etwa ein Femtometer (10-13 Zentimeter). Entfernen sich die Quarks voneinander, so beginnen sie sich anzuziehen. Es ist so, als seien sie durch ein unsichtbares Gummiband verbunden, das ein zu starkes Auseinanderdriften verhindert, und das erschlafft, wenn Quarks eng beisammen sind. Der einzige Weg Quarks zu trennen, erfordert Energien, wie sie nur kurz nach dem Urknall herrschten und heute fast nur noch im Inneren von Neutronensternen zu finden sind.

Die Elektronen sind unendlich kleine Massepunkte, mindestens tausendmal so klein wie ein Atomkern – und der ist bekanntlich schon zehntausendmal so klein wie ein Atom. Sie liefern den kleinen Rest für die Masse des Atomkerns (weniger als 1%). Die Elektronen gehorchen, wie auch die Quarks, dem sogenannten Pauli-Prinzip, das besagt, dass sich diese Teilchen nicht weiter verdichten lassen. Sie „kreisen“ in festen Schalen (und nicht beliebig) um den Atomkern. In jeder Schale, die jeweils durch eine bestimmte Energie gekennzeichnet ist, findet nur eine bestimmte Anzahl Elektronen Platz. (Die relativ schwache elektromagnetische Kraft hält sie auf ihrem Energieniveau.)

Die Größe eines Atoms wird also durch seine Elektronenhülle festgelegt. Erst durch den Abstand der Schalen vom Atomkern werden die Atome so „riesenhaft“, verglichen mit der Größe des Kerns. Der leere Raum, in dem die Elektronen herumwirbeln, ist ungefähr eine Billion Mal so groß wie dessen Rauminhalt. Diese durch das Pauli’sche Ausschließungsgesetz erzwungene universelle Größe der Atome bringt ein wesentliches Element der Stabilität in die Natur ein. Ohne dieses gäbe es keine chemischen Elemente, keine Materie, wie wir sie kennen.

Im theoretischen Bild sind Elektronen und Quarks keine kleinen Kugeln mehr, sondern mathematische Punkte, die mit Kraftfeldern ausgestattet sind. Sie beanspruchen nach keiner Richtung hin Raum, entfalten aber ihren Einfluss innerhalb der mit ihnen verknüpften Kraftfelder. (Dass es Teilchen ohne Rauminhalt gibt, wird sich nie beweisen lassen, denn es wird niemals möglich sein, ein Teilchen von der Größe Null zu messen.)

Zumindest bis zu einer Grenze von etwa 10-16 Zentimeter sind Quarks wie die Elektronen strukturlos. Vielleicht aber bestehen diese im Standardmodell als punktförmig und unteilbar geltenden Teilchen aus noch kleineren Komponenten. Forscher haben schon zahlreiche Vorschläge für hypothetische Teilchen gemacht, aus denen sie zusammengesetzt sein könnten. Sie tragen unterschiedliche Namen, werden aber alle unter dem Begriff Preonen zusammengefasst. Falls diese Vermutung zutrifft, wäre das heutige Standardmodell der Elementarteilchentheorie in Frage gestellt. (Aber auch die Preonenmodelle haben ihre Probleme.)

Das Standardmodell der Teilchenphysik, die umfassende Theorie über die fundamentalen Eigenschaften der Materie, erklärt nicht nur die Fermionen Elektron, Proton und Neutron, also die Atombausteine, sondern auch die zwischen ihnen wirkenden Naturkräfte (Wechselwirkungen). Für diese ist ein fundamental anderer Teilchentyp, die so genannten Bosonen, zuständig. Diese vermitteln die Kräfte zwischen den Materiepartikeln bzw. Bausteinen der Materie, indem sie, bildlich gesprochen, zwischen den Fermionen hin- und herflitzen. Ohne sie wäre die Welt nur eine ungeordnete Ansammlung von Materiekrümeln. Erst die Kräfte geben der Welt ihre Gestalt und bestimmen, wie sich die Materieteilchen miteinander verbinden und wie sie sich durch den Raum bewegen. Photonen beispielsweise sind die Überträger der elektromagnetischen Kraft, die Gluonen („Klebeteilchen“ – von engl.: glue = Leim) die der starken Wechselwirkung, die ja die Quarks in den Nukleonen gewissermaßen zusammenklebt.

Die Grundlage der uns wohlvertrauten („gewöhnlichen“) Materie, aus der auch wir selbst zusammengesetzt sind, bilden also die leichten Up- und Down-Quarks sowie die leichten Elektronen. Dazu kommen in unserer Alltagswelt noch Gluon, Photon und das Higgs-Boson (s. u.) vor.

Quarksee

Protonen und Neutronen sind aber keineswegs die einfachen Systeme aus drei Quarks, sondern weitaus komplexer. Um das Trio wabert ein See aus kurzlebigen Quark-Antiquark-Paaren, die ständig gewissermaßen aus dem Nichts entstehen und Gluonen austauschen und nach winzigen Bruchteilen von Sekunden gleich wieder verschwinden. Diese Quantenfluktuationen kann man sich wie ein ununterbrochenes submikroskopisches Feuerwerk vorstellen. Das Vakuum „bebt“. Erst wenn die Physiker einen „Filter“ aufsetzen, der das kurzlebige Werden und Vergehen ausblendet, erkennen sie im Proton das einfache Bild von drei stabilen Quarks.

Ein Vakuum ist für Physiker kein völlig leerer Raum und lässt sich auch nicht erzeugen. Selbst wenn man alle Materie entfernt, verfügt er immer noch über eine gewisse Energiedichte. Physiker verstehen unter einem „Vakuumzustand“ daher den Zustand niedrigster Energie eines Systems. Die Energie des Vakuums wird repräsentiert durch virtuelle Teilchen („virtuell“ im Sinne von „möglicherweise vorhanden“), die spontan ständig als Teilchen-Antiteilchen-Paare entstehen und wieder verschwinden (Fluktuationen). Ihnen steht nicht genügend Energie zur Verfügung, um als reale Teilchen in Erscheinung zu treten. Das Vakuum, so sagt man, verleiht Energie – viel für kurze, wenig für lange Zeit. Da die virtuellen Teilchen nur für den Bruchteil einer Sekunde existieren, widerspricht dies nicht dem Energiesatz bzw. dem Impulserhaltungssatz der klassischen Physik, der die Entstehung von Materie und Energie aus dem Nichts verbietet. In der Quantenmechanik muss nämlich die Energieerhaltung nicht für begrenzte Zeitintervalle, sondern nur über längere Zeiträume gelten.

Protonen und Neutronen sind also eigentlich eine klumpige, brodelnde Suppe aus realen und virtuellen Quarks (Seequarks) und ihren Antiteilchen sowie Gluonen, die die starke Kernkraft zwischen ihnen vermitteln. Rechnerisch beschreibt man die Nukleonen darum im Rahmen des Konstituenten-Quark-Modells, in dem alle diese Teilchen samt ihren Einflüssen zusammengefasst werden. Die Masse der drei Valenzquarks ist für die Masse der Neutronen und Protonen und für die gesamte Atommasse fast vernachlässigbar. Diese ergibt sich vor allem aus der enorm starken Bindungsenergie, aus der somit stammt fast die gesamte Masse der uns vertrauten Materie um uns herum stammt.

Masse und Energie sind laut Albert Einsteins Relativitätstheorie zwei Seiten einer Medaille (E = mc2). Masseteilchen sind dementsprechend etwas wie „gefesselte“ oder „eingekapselte“ Energie. Daher werden Teilchenmassen der leichteren Vergleichbarkeit halber auch oft in der Einheit Elektronenvolt (eV) angegeben.

Masse

Wir müssen zwei Massebegriffe unterscheiden: Zum einen ist da die mikroskopische Masse, die wir aus dem Alltag kennen. Wenn ein Gegenstand 10 Kilogramm auf die Waage bringt, dann ergibt sich seine Masse aus den Atommassen. Sie entstehen, wie beschrieben, aus der Bindungsenergie im Inneren der Protonen und Neutronen – entsprechend der Äquivalenz von Masse und Energie.

Zum anderen ist da die Masse der Elementarteilchen, also die Masse von fundamentalen Partikeln wie Elektronen, Quarks oder den Kraftteilchen. Das Standardmodell weist allen Elementarteilchen grundsätzlich die Masse 0 zu – eine der rätselhaftesten Eigenschaften der Teilchen, die Konsequenz aus dem symmetrischen Prinzip (Ordnung), auf dem die gesamte Theorie der Teilchenphysik beruht. Danach darf es zwischen den Teilchen keine Asymmetrie geben. Teilchen mit Ruhemasse 0 werden als masselos bezeichnet. Gemäß Einsteins Spezieller Relativitätstheorie bewegen sich masselose Teilchen mit Lichtgeschwindigkeit. Wenn aber alle Teilchen sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, haben sie keine Möglichkeit, eine Bindung einzugehen. Die ganze zusammengesetzte Materie bekommt erst eine Chance, wenn sich Teilchen viel langsamer als mit Lichtgeschwindigkeit bewegen.

Um die Standardtheorie zu ergänzen und die Massen der Fermionen in die Theorie als Parameter einzufügen, haben die Physiker ein Quantenfeld (das Higgs-Feld, benannt nach dem theoretischen Physiker Peter Higgs) eingeführt, das den ganzen Raum gleichmäßig erfüllt und in das folglich alle Teilchen eingebettet sind. Durch die Interaktion mit diesem Feld wird den eigentlich masselosen und lichtschnellen Teilchen ihre träge Masse verliehen. Bei diesem Prozess wird gleichsam Energie aus dem Vakuum herausgesaugt und an das Elementarteilchen abgegeben. Je stärker das Teilchen mit dem Feld wechselwirkt, umso langsamer kommt es voran, d. h. umso größer ist seine Masse. Da ein Photon oder Gluon keine Wechselwirkung mit dem Higgs-Feld haben, können sie weiter mit Lichtgeschwindigkeit zwischen Elektronen bzw. Quarks vermitteln.

Da die Physiker in der Standardtheorie jedem Feld ein Teilchen zuordnen (dem elektromagnetischen z. B. das Photon), musste auch dem Higgs-Feld zwangsläufig ein Teilchen, das Higgs-Boson, zugewiesen werden. Es wurde inzwischen nachgewiesen und tritt als eine extrem kurzlebige Anregung des Feldes in Erscheinung. Es ist aber kein Bestandteil von Materie oder von Wechselwirkungen wie die übrigen Teilchen des Standardmodells, zählt also weder zu der einen noch zu der anderen Kategorie – ein Spezialfall, der noch viele Fragen offen lässt.

Nach heutiger Vorstellung lag das Higgs-Feld kurz nach dem Urknall in einem Zustand hoher Symmetrie (in geordnetem Zustand) vor. Alle Elementarteilchen waren bei den damals sehr hohen Energien dementsprechend masselos. Erst nach einer Abkühlung auf 1015 Grad Celsius, als sich die elektroschwache Kraft aufspaltete, ging das Higgs-Feld spontan aus dem Vakuum hervor. Man sagt: Es wurde für Teilchen spürbar. Anschaulich gesprochen trifft ein Teilchen, das sich durch den Raum bewegt, ständig auf Higgs-Bosonen. Solche Vorgänge verlangsamen das Teilchen, und diese Trägheit nennen wir Masse.

Ohne das Higgs-Feld wären also alle Elementarteilchen masselos, gäbe es keine Atome und somit auch nicht die „gewöhnliche“ Materie. Sich dieses Quantenfeld gleichermaßen korrekt und anschaulich vorzustellen, ist nicht möglich. So verwendet man unterschiedliche Metaphern für das Feld wie z. B. „zäher Kuchenteig“ oder „Honig“, um seine Wirkung zu verdeutlichen.

Der Higgs-Mechanismus ist mathematisch sehr ausgefeilt und gut verstanden. Wegen der fundamentalen Bedeutung dieses Feldes für unser Verständnis der Welt – sowohl der Naturgesetze (Struktur der Materie) als auch die Geburt des Universums (Anfangsbedingungen) – war die Entdeckung des Higgs-Teilchens die wichtigste Pioniertat der physikalischen Grundlagenforschung. Sein Fund ist der jüngste Beleg dafür, dass theoretische und mathematische Überlegungen große Erklärungskraft besitzen und sogar neue Teilchen und neue physikalische Mechanismen voraussagen können – ein großer Triumph der theoretischen Physik.

Teilchen-Welle-Dualismus

Nach der Quantenmechanik gibt es subatomare Teilchen im klassischen und anschaulichen Sinn als etwas Substanzielles, als beharrliche Träger von dynamischen und raumzeitlichen Wesenseigenschaften, nicht. Sie besitzen also keine Individualität; ihre Eigenschaften sind nur im dynamischen Zusammenhang zu begreifen – ausgedrückt in Bewegung, Wechselwirkung und Umwandlung – und lassen sich nur noch mit Zahlen und Gleichungen beschreiben. Das stimmt nicht mehr mit dem gesunden Menschenverstand überein.

1802 hatte Thomas Young mit der Beugung von Licht an einem Doppelspalt dessen Wellennatur bewiesen: Läuft ein Lichtstrahl durch zwei Spalte, kommt es auf einem Beobachtungsschirm dahinter zu einem Interferenzmuster aus helleren und dunkleren Streifen. Ein solches Streifenmuster kennen die Physiker sonst nur von Wellenerscheinungen: Wenn z. B. eine Wasserwelle auf ein Hindernis mit zwei Löchern prallt, überlagern sich dahinter die beiden Teilwellen. Ein solches Muster entsteht auch, so weiß man inzwischen, wenn man anstatt Photonen Elektronen oder andere Teilchen durch einen Doppelspalt schickt. Das beweist, dass auch Materie Welleneigenschaften hat, eine Einsicht, die erstmals 1924 Louis-Victor de Broglie verkündete. Zusätzlich zu Eigenschaften wie Masse und Ladung besitzt also jedes Teilchen eine Wellenlänge und kann gestreut werden. Diese Grundaussage der Quantenmechanik ist inzwischen in unzähligen Experimenten eindrucksvoll belegt worden.

Erwin Schrödinger gelang es, den Quantenzustand eines Teilchens durch einen mathematischen Kunstgriff darzustellen, der wellenartiges Verhalten zeigt. Damit war es möglich, beispielsweise ein Elektron oder Atom ähnlich einer Welle zu beschreiben, die über ein ganzes Gebiet verteilt ist. Schrödingers 1926 formulierte Wellengleichung ist die grundlegende Formel der Quantentheorie, mit der seitdem quantenphysikalische Erscheinungen und im Prinzip sogar das ganze Universum beschrieben werden kann.

Beim Doppelspaltversuch ist also das, was durch beide Spalten geht, eigentlich kein physikalisches Teilchen, aber auch keine klassische Welle, sondern eine sogenannte Wellenfunktion – eine abstrakte mathematische Beschreibung für den Zustand eines Teilchens, in diesem Fall seine Position. Sie liefert in diesem Fall die Wahrscheinlichkeiten für die Orte auf dem Schirm, an denen das Photon vorgefunden werden könnte. Die Physiker sprechen von Wahrscheinlichkeitswellen.

Die Wellenfunktion für ein Elektron ist räumlich ausgedehnt, so dass es nicht einen bestimmten Platz einnimmt, sondern sich an vielen möglichen Orten befinden kann. Seine Position ist quasi über einen bestimmten Bereich „verschmiert“. Wenn schon das Elektron keine räumliche Ausdehnung hat (es ist punktförmig) – die Wahrscheinlichkeitswolke, die zu ihm gehört, besitzt ganz gewiss eine. Auf bestimmten Bahnen (übereinander liegenden Schalen) laufen die Elektronen demnach als „stehende Welle“ um den Atomkern. Bei einer Messung „kollabiert“ die Wellenfunktion auf irgendeine Weise und erhält eine greifbare Größe. Einstein konnte und wollte diese Aussagen der Quantenmechanik nicht akzeptieren.

Aus der Schrödinger-Gleichung kann man durch einen mathematischen Trick teilchenähnliche Zustände herausholen. Sie entsprechen gewissermaßen den Stellen, wo die Wahrscheinlichkeitswellen konstruktiv interagieren. Die kontinuierliche Gleichung hat also in diesem Fall diskrete Lösungen, die quantisierte Materie beschreiben.

Teilchen und Wellen – das ist und bleibt das Grundproblem der Quantenphysik. Beide Positionen beruhen auf unterschiedlichen Auffassungen der Wirklichkeit, die beide für eine Beschreibung der Natur je nach der zugrunde liegenden Fragestellung notwendig sind. Es sind zwei sich ergänzende Beschreibungen derselben Wirklichkeit, von der jede nur teilweise richtig ist und eine beschränkte Anwendungsmöglichkeit hat. Auf der atomaren und subatomaren Skala wird der Unterschied zwischen Teilchen und Wellen verwischt, d. h. alles, was im Bereich des mikroskopisch Kleinen existiert, ist Welle und Teilchen zugleich. Man kann auch sagen, beispielsweise ein Elektron ist weder ein Teilchen noch eine Welle, aber es kann in einigen Situationen teilchenähnliche, in anderen wellenähnliche Aspekte haben.

Tatsächlich versteckt sich das Teilchen sozusagen in der Welle. Deren Intensität gibt an, mit welcher Wahrscheinlichkeit es sich an einem bestimmten Ort aufhält. Auf gewisse Weise existiert das Teilchen aber nicht wirklich. Objektiv bzw. physikalisch fundamental scheint nur die Welle zu sein. Korrekter: Das Verhalten von Teilchen wie Elektronen lässt sich immer mit einer Wellengleichung beschreiben – und manchmal auch als Teilchen interpretieren. Der Teilchenbegriff ist somit vermutlich rein subjektiv – subjektiv für den Teil der Welt, den wir klassisch sehen. Er ist das Relikt eines Weltbilds, das von den altgriechischen Atomisten abstammt und mit den Theorien Isaac Newtons seinen Siegeszug vollendete.

Jedes Objekt muss demnach als eine Materiewelle aufgefasst werden – auch makroskopische Körper von Bakterien bis Autos und Menschen. Für alle praktischen Zwecke ist das Wellenäquivalent eines solchen Objekts aber so klein, dass es vernachlässigt werden kann. Beim Elektron beträgt die Wellenlänge etwa ein Millionstel Zentimeter, beim Bakterium hat sie nur noch die Größe eines Atomdurchmessers und bei einem Fußball praktisch unmessbare 10-32 Zentimeter. Materiepartikel verbergen also ihre Wellennatur, solange die ihnen zugeordnete Wellenlänge klein ist. Aufgrund dessen überwiegt im Makrokosmos der Teilchenaspekt.

Was die Wellenfunktion aber eigentlich ist, stellt eine zentrale Frage der Quantenmechanik dar und bleibt bis zum heutigen Tag ein gewaltiges und heiß umstrittenes Problem. Das Phänomen ist anschaulich schwer zu fassen und sperrt sich bis heute hartnäckig dem menschlichen Alltagsverstand.

Quantenfeld

Newton mutmaßte, dass Schwerkraft über riesige Entfernung nicht direkt wirkt, sondern durch „die Vermittlung von etwas anderem, das nicht materiell ist“. Fast zwei Jahrhunderte später folgte Michael Faraday einem ähnlichen Gedankengang, als er Elektrizität und Magnetismus mittel sogenannter Kraftlinien oder Felder beschrieb. Für ihn stand nicht mehr Materie im Mittelpunkt der Physik; die eigentliche Realität bildeten die Kraftlinien. Materie sei nur die umgangssprachliche Bezeichnung für die Dichte von an sich ununterscheidbaren Feldlinien.

Ende der 1920er Jahre wurde die Quantentheorie von Bohr, Heisinger und Schrödinger, um deren Deutung Experten immer noch streiten, bald überholt von der Quantenfeldtheorie. Sie vereinigt quantenmechanische Prinzipien mit der Theorie klassischer Felder und liefert die begriffliche Grundlage für das Standardmodell der Teilchenphysik, die mathematisch exakt die fundamentalen Teilchen und die zwischen ihnen wirkenden Kräfte (Wechselwirkungen) und damit auch die Materie – also all das, was die Welt im Innersten zusammenhält – beschreibt. Demnach besteht die gesamte materielle Welt aus Quantenfeldern, die die Raumzeit durchdringen. Sie verhalten sich nicht wie klassische Felder und besitzen keinerlei materielle Basis, verfügen aber – wie Materie – über Energie und Impuls und können in Wechselwirkung mit Materie treten. So lassen sich Gluonen beispielsweise auch als Felder interpretieren, die die Quarks in den Nukleonen zusammenhalten.

Die Quantenfeldtheorie bildet heute das Rahmenmodell für alle ernstzunehmenden Theorien der Elementarteilchen, zu der sowohl das Standardmodell als auch alternative Theorien (wie die Superstringtheorie) gehören. Sie hat eine sehr hohe Genauigkeit (10-11) und gilt neben der Allgemeinen Relativitätstheorie (Genauigkeit von 10-14) als die exakteste physikalische Theorie überhaupt. (Allerdings ignoriert sie Gravitationseffekte.)

Jedes Quantenfeld besitzt ein ihm zugehöriges Teilchen (z. B. das elektromagnetische Feld das Photon), das einer Anregung (einem „Schwingungszustand“) des Energiefeldes entspricht. Bosonen kann man so als gequantelte Energiepakete (Quanten) von Kraftfeldern betrachten. Somit scheint die Unterscheidung zwischen Teilchen und Feldern künstlich zu sein. Auch unter diesem Aspekt wird der Begriff eines Teils oder erst recht eines Teilchens bedeutungslos. Es hat also wenig Sinn, lokalisierte Teilchen als die Grundelemente der Wirklichkeit anzunehmen. Darum ist die Bezeichnung Teilchenphysik eigentlich irreführend. Man kann zur Not von Quantenteilchen sprechen, obwohl diese praktisch nichts mit klassischen Partikeln gemein haben. Konsequenterweise sollte man den Begriff ganz fallenlassen. Felder und Energie sind also das grundlegende Substrat der Materie und damit der physikalischen Wirklichkeit geworden.

Bei einem Quantenfeld handelt es sich aber um abstrakte mathematische Ausdrücke, die keine bestimmte Messwerte darstellen. Sie fluktuieren als Folge der Unschärfe der Natur um bestimmte Mittelwerte. Daher repräsentieren sie zwar physikalische Werte, doch diese lassen sich nicht bestimmten Punkten der Raumzeit zuordnen, sondern nur „verschmierten“ Gebieten. Die vermeintlich fundamentalen Quantenfelder legen nicht einmal Wahrscheinlichkeiten fest; das tun sie erst, wenn sie mit dem sogenannten Zustandsvektor kombiniert werden, der das gesamte System beschreibt und sich nicht auf einen bestimmten Ort bezieht. Es ist anschaulich kaum vorstellbar.

Die Quantenfeldtheorie spricht also in Rätseln, wenn es um die Frage geht, was eigentlich hinter unseren Beobachtungen steckt. Sie beschreibt zwar das Verhalten von Quarks, Elektronen, Photonen und diversen Quantenfeldern, aber sie sagt nichts darüber aus, was ein Photon oder Quantenfeld wirklich ist. Deren Eigenschaften weichen erheblich von dem ab, was man sich im täglichen Leben unter Teilchen und Feldern gewöhnlich so vorzustellen pflegt.

Fazit

Materie besitzt auf jeden Fall weniger „Substanz“, als es unseren Sinnen erscheint. Auf die Dimensionen eines Wohnblocks vergrößert ist praktisch die ganze Masse eines Atoms in einem stecknadelkopfgroßen Kern (ein Billionstel des Atoms) im Zentrum konzentriert. Im Umkreis von hundert Metern schwirren Elektronen, deren Ausdehnung selbst in dieser Vergrößerung unsichtbar bleibt. Der Raum zwischen Kern und Elektronenhülle aber ist leer! Und weder in den Atomkernen noch in den Bausteinen hat man bisher etwas wirklich „Greifbares“ entdeckt. Wenn man sich die Frage stellt, welcher Prozentsatz des Raumes, den das Universum umfasst, denn von Materie besetzt ist, kommt man zu dem Schluss, dass die „echte“ Substanz des Universums praktisch keinen messbaren Raum einnimmt. Das materielle Substrat kann also nicht der Stoff sein, aus dem sich die sichtbaren Körper aufbauen.

Obwohl das materielle Substrat nicht das ist, was dauert, gibt es im Universum nicht nur ein Meer formloser Energie. Dass die Dinge um uns herum fest oder flüssig oder gasförmig erscheinen, dass man sie unter Druck setzen, erhitzen, verdünnen, umformen, anfassen kann, hat nicht etwa damit zu tun, dass der Raum, den diese Dinge einnehmen, tatsächlich „ausgefüllt“ ist. Es ist vielmehr so, dass die Nadelspitzen von Stoff, die das alles bewirken, miteinander nichts zu tun haben wollen. Es sind die Gesetze, die den Teilchen ihre Form verleihen. Das Pauli-Prinzip bewirkt, dass sich einzelne Atome nicht durchdringen können und Materie damit überhaupt einen nennenswerten Raum belegt und stabil ist. Es sorgt im Makrokosmos dafür, dass sich beispielsweise zwei „Materiestücke“, etwa ein Glas und ein Holztisch, nicht gegenseitig durchdringen und ein Stoß mit dem Kopf gegen die Wand für uns schmerzhaft ist.

Im 18. Jahrhundert stellte George Berkeley, ein irischer Bischof, eine kühne Behauptung auf: „Materie gibt es nicht wirklich!“ Er meinte, was wir als festen Stoff wahrnehmen, Holz etwa oder Eisen, ist nicht weiter als ein Eindruck, den Gott in unseren Köpfen erzeugt – eine Aussage, die damals sehr gewagt war. Und Max Planck sagte Anfang der 1920er Jahre: „Es gibt keine Materie, sondern ein Gewebe von Energien, dem durch intelligenten Geist Form gegeben wird.“ Der Begriff Materie könnte sich tatsächlich als idealistisch herausstellen – und damit mindestens als überflüssig, wenn nicht gar irreführend in fundamentalen Diskussionen. „Der Materialismus hat sich selbst überwunden.“ (Raimund Popper)

Es gibt keinen zwingenden Beweis dafür, dass die Physik – oder gar der Alltagsverstand – die Welt so oder ungefähr so beschreibt, wie sie ist. Beschreibt etwa die Wellenfunktion eine physikalische Realität oder ist sie schlicht ein mathematisches Hilfsmittel ohne Bezug zur Realität? Viele Physiker nehmen eine sogenannte instrumentelle Haltung ein und verneinen, dass physikalische Theorien die Welt widerspiegeln sollen. Für sie stellen Theorien bloß Instrumente dar, mit denen sich experimentelle Vorhersagen machen lassen. Die physikalische Realität sei, wie sie sei, und verhalte sich wie sie will – und wir lernten mühsam, unsere mathematischen Werkzeuge an ihr ungebärdiges Verhalten anzupassen. Die eigentliche Veranschaulichung der Materie hänge vom jeweiligen Wissensstand, von unserem Wissen und Unwissen, ab. Mit jeder Vervollkommnung des mathematischen und technischen Werkzeugs kämen aber auch immer neue Aspekte der Wirklichkeit hinzu.

Allmählich setzt sich in der Wissenschaft die Meinung durch, die Welt könne aus etwas ganz anderem als Teilchen, Wellen und Felder bestehen. Manche Wissenschaftstheoretiker betrachten die Natur als eine letztlich nur mathematisch fassbare Struktur, ohne irgendeinen Bezug auf Einzeldinge. Alles ließe sich vollständig auf Strukturen (Strukturenrealismus) oder Bündel von Eigenschaften reduzieren. Demzufolge werden wir niemals das wirkliche Wesen der Dinge erkennen, können aber wissen, wie sie miteinander in Beziehung stehen.

REM

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