Auf der mittleren der Kleinen Sunda-Inseln, Flores, in der indonesischen Inselkette zwischen Java und Timor gelegen, wurden in Wolo Sege Steinwerkzeuge gefunden, die mindestens 1,02 Millionen Jahre alt sind. Es mussten also damals schon Frühmenschen auf dem Eiland gelebt haben, das auch zu Zeiten des niedrigsten Wasserspiegels stets durch mindestens 19 Kilometer offenes Meer von der westlich gelegenen Nachbarinsel Sumbawa getrennt war.
Zwar lag der Meeresspiegel während des eiszeitlichen Pleistozän (2,6 Millionen bis 11 700 Jahre v. h.), als enorme Mengen Süßwasser in Gletschern und Schnee gebunden waren, periodenweise um 150 Meter tiefer als heute und Java und Bali waren mit dem asiatischen Festland verbunden. Östlich davon befindet sich aber offene See, so dass es wahrscheinlich nie eine Landverbindung zur Nachbarinsel Lombok gab. Diese sog. Wallace-Linie, 25 Kilometer breit, trennt auch die asiatische von der australischen Tierwelt. Während Java und Bali die reiche Fauna Südostasiens aufweisen, ist die Tierwelt auf den östlicheren Inseln (Lombok, Sumbawa, Flores, Sumba, Timor), von Vögeln abgesehen, verarmt. Die Inseln waren auch untereinander und trotz des niedrigeren Meeresspiegels durch breite Wasserstraßen voneinander getrennt. Auf entwurzelten Bäumen oder im Wasser treibendem Gestrüpp waren gelegentlich offenbar Nagetiere sowie Reptilien angeschwemmt worden. Aber für größere Säugetiere war das Meer ein unüberwindliches Hindernis, außer für Elephantide (Stegodonten), die sich gern im Wasser aufhalten und in der Lage sind, bis zu 20 Kilometer von einem Eiland zum nächsten zu schwimmen.
Die Ahnen der Elefanten verließen erst vor 30 Millionen Jahren die Seen und Flussläufe ihrer tropischen afrikanischen Heimat und passten sich an ein Leben zu Land an, suchten aber nach wie vor noch gerne das Wasser auf. Auf den Andamanen- und Nikobaren-Inseln im Indischen Ozean, östlich des indischen Subkontinents, kann man heute noch Elefanten auf hoher See beobachten, die von einer Insel zur nächsten schwimmen.
Weitere etwa 700 000 Jahre alte Steingeräte und Skelette auf Flores zeigen, dass hier Frühmenschen lebten, die bereits über erhebliche technische und kulturelle Fähigkeiten verfügt haben müssen, um mit seetüchtigen Fahrzeugen die offene See zu überbrücken. Es könnte sogar eine Zeit lang einen sozialen Austausch zwischen Frühmenschen auf Flores und den Bewohnern des Festlands gegeben haben, worauf Langzeitparallelen bei der Entwicklung der Steinwerkzeuge hindeuten.
Homo floresiensis
Wer waren die Menschen? Als erstes käme dafür Homo erectus infrage, der vor rund zwei Millionen Jahren als großwüchsige Menschenform in Afrika auftauchte und von dem Populationen spätestens vor 1,8 Millionen Jahren Afrika verließen und bis nach Asien vordrangen. Sicher belegt ist, dass sie sich vor 1,2 Millionen Jahren auch in Ostasien aufhielten. Der australische Archäologe Mike Morwood und seine Kollegen von der University of New England nehmen an, dass Homo erectus schon um diese frühe Zeit mit Bambusbündeln oder -flößen auf Inseln übersetzte, so auch nach Flores. Sie glauben, dass er damals schon sprechen konnte, denn Sprache sei zur Planung und Logistik solcher Meeresüberquerungen notwendig.
Für Kritiker wie den australischen Anthropologen Dr. Colin Groves von der University of Canberra ist die Tektonik der vulkanischen Inseln in Indonesien derart instabil, dass es eventuell doch Landbrücken nach Flores gegeben haben könnte. Allerdings konnten solche bisher nicht durch geologische oder zoologische Befunde gesichert werden.
Die auf Flores gefundenen Werkzeuge waren überwiegend sehr einfach, in ihrer Machart ähnlich der afrikanischer früher Menschen vor fast zwei Millionen Jahren, die man in der Oldovai-Schlucht in Tansania fand (Oldowan-Technik). Am Fundort Mata Menge wurden sie vor 700 000 Jahren aus kleineren Abschläge von Felsgestein hergestellt. Auf ähnlich primitive Weise wurden die meisten Artefakte vom Fundort Liang Bua, 50 Kilometer weiter östlich, hergestellt, die allerdings weniger als 100 000 Jahre alt sind. Um diese einfachen Abschlaggeräte aus vulkanischem Gestein oder Feuerstein herzustellen, hatten die Menschen größere Stücke vom Felsen draußen abgehauen und in die Höhle mitgenommen, um dort kleinere Abschläge zu machen. Vielleicht handelte es sich bei den Liang-Bua-Bewohnern um Nachfahren der Mata-Menge-Bewohner. (Eine Handvoll scheinbar ausgeklügelterer Gerätschaften in Liang Bua halten manche Wissenschaftler für Zufallsprodukte. Das sei bei einer solchen Massenanfertigung , die in die Tausende ging, nichts Besonderes.)
Möglicherweise ernährte sich der Flores-Mensch von dem, was die Raubtiere auf der Insel übrig ließen. Wahrscheinlich ging er aber auch selbst auf die Jagd, worauf Pfeilspitzen hindeuten. Manche Wissenschaftler glauben, dass er regelmäßig Riesenratten und Zwergelefanten jagte. Knochen der Riesenratten fanden sich zu Abertausenden neben denen anderer Rattenarten in der Liang-Bua-Höhle. Von den Stegodons fanden sich hauptsächlich Knochen von Kälbern. Um diese Tiere zu jagen, mussten die Frühmenschen raffinierte Jagdmethoden beherrschen und wohl auch sprachlich kommunizieren können. Sie nutzten schon Feuer, um ihre Mahlzeiten zu bereiten.
Die Sensation waren aber die gefundenen Skelette und Skelettteile. Das erste Skelett, das in der Liang-Bua-Höhle gefunden wurde, stammt von einer etwa 30-jährigen Frau, die nur etwa einen Meter groß und zwischen 16 und 36 Kilogramm schwer war. Ihre Skelettteile haben ein Alter von mindestens 60 000 Jahren. Mittlerweile existieren Überreste von schätzungsweise 14 Individuen aus der Zeit von vor 90 000 bis 60 000 Jahren. Insgesamt wirken die Skelette wie aus archaischen und modernen Merkmalen zusammengewürfelt. Vor allem vom Hals abwärts ähneln sie stärker Vormenschen (Australopithecinen) als der menschlichen Gattung Homo. Es gibt Hinweise auf relativ lange Arme. Das Schlüsselbein ist kurz und gebogen – bei uns länger und gerader. Das Becken war wie eine Schaufel geformt, ähnlich wie bei den Australopithecinen; seit dem Homo erectus hat es Trichterform.
Die Füße hingegen wirken in mancher Hinsicht modern. So weist der große Zeh in die gleiche Richtung wie die anderen – ist also nicht abgewinkelt wie bei Menschenaffen oder Australopithecinen. Im Verhältnis zu den kurzen Beinen waren die Füße aber riesig: 20 Zentimeter lang, im Verhältnis zur Beinlänge sehr viel länger als beim Menschen. Außerdem war der große Zeh ziemlich kurz, die anderen Zehen waren verhältnismäßig lang und leicht gekrümmt. Ein richtiges Fußgewölbe fehlt. Die Menschen gingen zwar mit Sicherheit aufrecht, aber damit zu laufen dürfte nicht einfach gewesen sein. Bei so kurzen Beinen und großen Füßen haben sie die Beine beim Gehen wohl besonders hoch gehoben, vielleicht ähnlich wie wir mit Schwimmflossen vorwärts tappen.
Der Schädel macht die Sache jedoch kompliziert. Auch er frappiert durch eine Kombination alter und moderner Merkmale. Die fliehende Stirn mit dem starken Oberaugenwulst und der kinnlose Unterkiefer sind typisch für frühe Menschen. Das gesamte Gesichtsskelett wirkt dagegen klein und zart wie beim modernen Menschen. Es steht nicht vor, sondern scheint gleichsam unter das Gehirn geschoben. Die Zähne, ungefähr so klein wie unsere, die schmale Nase und die Dicke der Schädelknochen – das alles passt zur Gattung Homo. Aber die Größe des Gehirns ist mickrig: 380 bis 470 Kubikzentimeter – es entspricht eher dem eines Schimpansen.
Ungewöhnlich ist eine solche Kombination von alt und neu in der Menschenevolution nicht – ein moderner Schädel zusammen mit altmodischerem Rumpf und solchen Gliedmaßen. Die ersten Vertreter der Gattung Homo, etwa Homo rudolfensis und Homo habilis, die vor mehr als zwei Millionen Jahren in Afrika lebten, sind dafür gute Beispiele. Angesichts seiner einzigartigen Merkmalskombination klassifiziert man den Flores-Menschen heute als eigene Art, die es dementsprechend schon vor mehr als 700 000 Jahren gegeben haben muss: den Homo floresiensis.
Manche Archäologen erwägen nicht nur eine eventuelle Beziehung zu den ältesten Homininen, sondern sogar zu den Vormenschen (Australopithecinen). Gruppen von ihnen könnten schon einige hunderttausend Jahre früher als Homo erectus Afrika verlassen haben – allerdings eine sehr provokante Hypothese. Für diese Szenarien gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt. Die Anthropologen trauen den primitiven Arten nicht zu, von Afrika bis nach Südostasien gelangt zu sein. Auch gibt es keine einzige Spur von ihnen außerhalb von Flores.
Der Flores-Mensch passt aber auch nicht zu heutigen kleinwüchsigen Menschengruppen, etwa den afrikanischen Pygmäen. Diese sind im Mittel unter 1,50 Meter klein, haben aber ein großes Gehirn; ihr Wachstum verzögert sich erst in der Pubertät, wenn das Gehirn bereits seine endgültige Größe erreicht hat.
Der Kleinwuchs der Pygmäen ist vermutlich eine Begleiterscheinung einer starken Immunität gegenüber ansteckenden Krankheiten. Tatsächlich sind Pygmäen fortlaufend intensiven Attacken durch Krankheitserreger ausgesetzt. Ein starker Selektionsdruck wirkte daher auf eine hohe Widerstandsfähigkeit gegen Infektionen wie Malaria oder Tuberkulose hin. Eines der Gene, die eine wichtige Rolle bei der Regulation des Immunsystems spielen, hemmt auch das menschliche Wachstum.
Der Flores-Mensch ähnelt aber auch nicht heutigen Menschen, die im Wachstum zurückbleiben. Diese haben weitere abnorme Merkmale und erreichen selten das Erwachsenenalter. Auch die Behauptung, das Skelett stamme von einem Homo sapiens, der am Down-Syndrom litt, wurde nach eingehenden anatomischen Untersuchungen eines internationalen Forscherteams widerlegt. Eine Zugehörigkeit zu Homo sapiens kommt daher wohl nicht in Betracht.
Insel-Hypothese
Die Ähnlichkeiten mit den älteren Linien könnten auch nachträglich mit dem Zwergwuchs hervorgetreten sein. Heute halten viele Anthropologen nach wie vor die Einordnung des Flores-Menschen in einen Seitenzweig des Homo erectus, der in Südostasien verbreitet war, für wahrscheinlich, obwohl noch keine eindeutigen Belege für eine enge Verwandtschaft gefunden wurden. Viele Einfaltungen des Gehirns ähneln nach Computermessungen auffällig denen des allerdings erheblich größeren Gehirns des Homo erectus. Die Körperhöhe von einem Meter liege durchaus im Rahmen der genetischen Möglichkeiten der Gattung Homo – nämlich zwischen 60 und 250 Zentimetern.
Die Flores-Menschen könnten demnach späte Nachfahren von einer Form des Homo erectus verkörpern, die vor mehr als einer Million Jahren die Küsten Indonesiens erreichten und damals auf die Insel Flores kamen, als sie z. B. Elefanten folgten oder vor einem heftigen Vulkanausbruch flohen. Sie könnten sich dann im Laufe der Zeit, isoliert von ihren Artgenossen zu einer eigenständigen Art entwickelt haben. Ihre „Verzwergung“ – ein ausgewachsener Jäger brachte es zum Schluss nur noch auf 1,10 Meter – erklären sich die Forscher mit dem „Inseleffekt“.
Inselbewohner sind bekannt für ihre extremen Anpassungen. Unzählige Tierarten, die es erstmalig auf abgelegene Eilande verschlug, haben sich hier dramatisch verändert – und dies manchmal in einem geradezu rasanten Tempo. In relativ wenigen Generationen schrumpften sie zu Miniaturausgaben ihrer selbst – oder sie gewannen enorm an Körpergröße, wie beispielsweise die Schildkröten auf den Galapagos-Inseln.
Auf Madagaskar lebten einst Mini-Flusspferde, die von großen Verwandten auf dem afrikanischen Festland abstammten, auf den Channel-Islands vor Kalifornien winzige Graufüchse und auf der russischen Wrangel-Insel im Nordmeer noch bis vor einige tausend Jahren Wollhaarmammuts in Miniaturausgabe. Ähnliche Miniaturisierungen auf Inseln sind etwa bei Hirschen und Ziegen nachgewiesen. Als vor rund 125 000 Jahren ein Rotwild-Gruppe auf der Insel Jersey vor der französischen Atlantikküste von ihren Artgenossen auf dem Festland abgeschnitten wurde, dauerte es höchstens 6000 Jahre, bis die Tiere auf ein Sechstel ihrer Körpergröße geschrumpft waren. Die auf Sumatra lebende Tigerart wird maximal 140 Kilogramm schwer – ebenso wie die auf den Inseln Bali und Java inzwischen ausgestorbenen insularen Tigerarten. Es sind wahre Leichtgewichte und Kleinausgaben im Vergleich zu dem Sibirischen Tiger und Königstiger, die immerhin bis zu 300 Kilogramm Körpergewicht besitzen.
Auf den Mittelmeerinseln Malta, Sizilien und Zypern lebten im Eiszeitalter vor einigen zehntausend Jahren gerade mal 90 Zentimeter große Zwergelefanten, die sich innerhalb von nur 5000 Jahren aus vier Meter großen Vorläufern entwickelt hatten. Auch Borneo-Elefanten, von denen es heute noch höchstens 2000 gibt, sind mit gut zwei Metern Körperhöhe deutlich kleiner als ihre Verwandten auf dem Festland, deren männliche Tiere drei Meter erreichen. Nachdem sie erst während der letzten Eiszeit zwischen 18 000 und 11 000 Jahren v. h. eingewandert waren, verarmte das Erbgut der kleinen Gruppe nach der Eiszeit, glauben die Wissenschaftler. Den Elefanten machten vermutlich die kargen Böden des geologisch jungen Borneo zu schaffen, weshalb sie nur energiearme Kost fanden und mit der Zeit verkümmerten.
Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass fast durchweg die verfügbaren Ressourcen über die Entwicklung der Arten auf einer Insel entscheiden. Tiere haben hier meist einen viel kleineren Lebensraum mit vergleichsweise weniger Ressourcen zur Verfügung als ihre Verwandten auf dem Festland. Kleinere Individuen kommen mit einem knapperen Nahrungsangebot aus. Oft gibt es auf Inseln zudem weniger Feinde. die Größe und Stärke erfordern. Die räumliche Isolation und Inzucht lassen die Nachkommen daher oft immer kleinwüchsiger werden.
Fehlen spezialisierte Räuber, wie das häufig auf Inseln der Fall ist, kann für viele zugewanderte Arten bei ausreichend vorhandenen Nahrungsressourcen auch der Druck sinken, die Körpermaße reduziert zu halten. Ohne natürliche Feinde haben sich auf den Galapagos-Inseln Riesenschildkröten, auf der Insel Jicaron vor der Küste Panamas innerhalb einer evolutionär kurzen Zeitspanne Riesenfrösche entwickelt. Auch Riesenmäuse sind mehrfach unabhängig voneinander entstanden. Vor allem bei territorialen Arten steigt der Körperumfang und auch die Aggressivität, wenn sie auf Dauer Zugang zu Ressourcen verteidigen müssen. Die natürliche Auslese begünstigte daher z. B. auf der Insel Anaho die Entstehung großer Leguane.
Flores selbst ist ein erstklassiges Beispiel für Insel-Evolution: Hier werden Ratten so groß wie Hunde (z. B. die Flores-Riesenratte mit einer Körperlänge von 45 Zentimetern), Eidechsen so groß wie Warane. Die ausgestorbenen Elefanten der Gattung Stegodon dagegen schrumpften hier zu Zwergelefanten, die nicht größer als Kühe waren. Der Marabu-Verwandte Leptoptilos robustus wurde wiederum 1,80 Meter groß.
Verzwergung und Gigantismus auf Inseln ist also nichts Außergewöhnliches. Auch für die Menschen auf Flores könnte das der Grund für ihre Größenabnahme gewesen sein. Ihnen gefährliche Raubfeinde gab es wenige. Nur zwei Riesenechsen bedeuteten für den Zwergmenschen eine Gefahr: Der Komodowaran, der noch in Restbeständen auch auf anderen Inseln vorkommt, sowie ein noch größerer damals lebender Waran.
Es wäre auch möglich, dass die Gründerväter und -mütter der neuen Menschenart keine besonders typischen Vertreter ihrer Ursprungsart gewesen sind. Vielleicht entwickelte sich der Flores-Mensch aus sehr wenigen Individuen, die gar nicht alle typischen Merkmale ihrer Ursprungspopulation mitbrachten. Mike Morwood, einer der Koordinatoren des Liang-Bua-Projekts, vertritt inzwischen die Ansicht, dass schon jene Vorfahren von niedriger Statur gewesen seien, als sie nach Flores kamen – auf jeden Fall viel kleinwüchsiger als selbst die kleinsten bekannten Vertreter von Homo erectus. Vor Ort, meint Morwood, könnte dann noch etwas Inselverzwergung dazu gekommen sein.
Bis heute leben auf Flores kleinwüchsige Ureinwohner, die Flores-Pygmäen, deren körperliche Ähnlichkeit mit den Homo floresiensis-Funden auf eine nahe Verwandtschaft hinzuweisen scheinen. Sie leben in der Nähe zur Höhle, wo die Fossilien der Flores-Menschen gefunden wurden, sind aber nach genetischen Untersuchungen ganz typische moderne Menschen. Allerdings unterscheiden sich bestimmte Regionen im Genom der Flores-Pygmäen von den Sequenzen ihrer nahen Verwandten auf den größeren Inseln wie auf Neuguinea und dem asiatischen Festland. Diese Gene, die u. a. auch die Kleinwüchsigkeit regulieren, haben sich hier über geraume Zeit hinweg stärker verändert als beim Rest der Menschheit. Die Forscher sehen darin eine Bestätigung der Insel-Hypothese.
Der Luzon-Mensch
Hinweise auf Verzwergung von Menschen gibt es auch auf der größten Philippineninsel Luzon. Sie ist seit mindestens 700 000 Jahren von Menschen bewohnt. Damals war ein Nashorn mit schlichten Steinwerkzeugen zerlegt worden. Wie die Menschen auf die Insel gelangten, ist unklar. Sie hätten den Forschern zufolge eine erhebliche Strecke auf dem Meer zurücklegen müssen. Denn auch in den Zeiten, als der Meeresspiegel weit über 100 Meter tiefer lag als heute, war die Insel durch eine Wasserstraße vom asiatischen Festland getrennt, so dass sich hier die Tier- und Pflanzenwelt weitgehend isoliert entwickelte.
Zwischen 2007 und 2019 fand man in der Callao-Höhle auf Luzon 13 zwischen 50 000 und 67 000 Jahre alte Skelettteile, darunter Fuß- und Handknochen, sowie Zähne und einen Oberschenkelknochen, allerdings weder DNA-Reste noch Teile des Gesichtsschädels. Das Skelett, die winzigen Knöchelchen und Zähnchen, erinnern in ihrer Größe und Urtümlichkeit an den Homo floresiensis. Auch erreichten die Luzon-Menschen ebenfalls nur rund einen Meter Körpergröße und hantierten mit einfachen Steinwerkzeugen. Vermutlich war auch ihr Gehirn ähnlich klein.
In anatomischen Details unterscheiden sich die Zwergmenschen von Flores und Luzon allerdings so deutlich, dass sie nicht als Angehörige derselben Art gelten können. Manche Skelettmerkmale des Luzon-Menschen passen sogar eher zu Homo sapiens als zu anderen möglichen Verwandten, was zeitlich schon nicht möglich ist. Sie passen aber nicht zu Homo erectus, dem einzigen Kandidaten, den man nach Lage der Dinge als Vorfahren erwarten würde. Die Anatomie weist teilweise sogar eher in ein urtümlicheres Afrika und erinnert an diverse Australopithecus-Arten. Auch zu den robusten vormenschlichen Paranthropus-Arten und zum Homo habilis gibt es Parallelen. Gebogene Hand- und Fußknochen legen nahe, dass der Mensch von Luzon noch zumindest teilweise an das Klettern angepasst war, aber aufrecht ging.
Aus dem Morphologie-Puzzle ergibt sich jedenfalls der Schluss, dass es sich um eine eigenständige Menschenart handelt, den Homo luzonensis, der hier einen eigenen Entwicklungspfad einschlug. Er war ein Werkzeugmacher und Jäger, wie die Wissenschaftler aus Schnittspuren an einem Hirschknochen schließen. In der Abgeschiedenheit der südostasiatischen Inselwelt hat er wohl bis in jüngste Zeit überdauert – als Zeitgenosse von anderen Menschenarten.
Das Gehirnproblem
Offen ist die Frage, ob es biologisch überhaupt möglich ist, dass vor allem das Gehirn in nur wenigen hunderttausend Jahren so stark und so unverhältnismäßig schrumpft. Mallorca-Gemsen haben für ihre Gehirn-Verkleinerung fünf Millionen Jahre gebraucht. Almut Schüz vom Tübinger Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik ist skeptisch. Beim modernen Menschen gelten 800 Kubikzentimeter Gehirnvolumen als absolute Untergrenze. Spätestens darunter kommt es zu massiven Beeinträchtigungen der kognitiven Fähigkeiten, die den Menschen auszeichnen. Zumindest die menschliche Großhirnrinde lässt sich schwerlich noch dichter packen. Sie ermöglicht es uns, Zusammenhänge in dieser Welt zu erschließen. Das Gehirnvolumen des Flores-Menschen unterbietet aber selbst das eines Homo habilis – schätzungsweise immerhin 509 Kubikzentimeter – nochmals um etwa ein Fünftel.
Bei Nahrungsknappheit kann allerdings am Gehirn am meisten Energie eigespart werden. Es verbraucht bei 2% Körpergewichtsanteil über 20% der Körperenergie. Großwildjagd und Geräteherstellung waren den Vorfahren schon bekannt, die Evolution brauchte also nur die Gehirnstrukturen, die diese Fähigkeiten enthielten, zu konservieren. Einige Wissenschaftler argumentieren, dass es bei Hominiden eigentlich generell keine direkte Beziehung zwischen Gehirngröße und Intelligenz gibt. Der Schlüssel liege vielmehr in der Organisation des Gehirns. Dabei könnten die Zwergmenschen auch extrem dicht gepackte Nervenzellen besessen haben.
Manche Menschen leiden an Mikrozephalie. Bei dieser Krankheit beginnen die Stammzellen in der Entwicklung des Organismus möglicherweise zu früh damit, Neurone zu bilden, anstatt sich erst einmal fleißig weiterzuteilen und damit die Zahl an Vorläuferzellen zu vergrößern. Auch andere Ursachen können noch dazu kommen. Die Patienten besitzen am Ende also sehr kleine Gehirne. Verblüffend ist, dass sie trotzdem oft überraschende geistige Fähigkeiten zeigen: „Sie sind zwar geistig langsamer, haben aber durchaus Sprachvermögen, bilden einfache Sätze“, betont die Genetik-Professorin Heidemarie Neitzel.
Beim Enzephalisationsquotient EQ wird in einem komplizierten mathematischen Verfahren absolute Hirngröße und Zu- bzw. Abnahme der Körpergröße zueinander in Beziehung gesetzt. Er ist ein Maß für die überschüssige Gehirnmasse, die im Normalbetrieb eines Säugetierkörpers nicht benötigt wird und die deshalb frei ist für anderes – für Nachdenken beispielsweise. Mit einem EQ von 7 hat Homo sapiens dementsprechend durchschnittlich das Siebenfache dessen, was er unbedingt für sein Überleben brauchen würde – ein Maximalwert, den keine andere Art annähernd erreicht. Schimpansen schaffen Werte von 2, Homo erectus lag bei 3,3 bis 4,4. Homo floresiensis hatte je nach Gewichtsschätzung einen EQ von 2,5 bis 4,6, womit er im selben Bereich liegt wie Homo erectus.
Immerhin fand man am Gehirn des Flores-Menschen eine einzigartige Form, die auch wir und große Menschenaffen besitzen. Bei jenem aber ist sie die größte, die jemals nachgewiesen wurde. Dieser Gehirnteil, Aerea 10 im präfrontalen Kortex, ist besonders wichtig im Zusammenhang mit Hirnfunktionen, die uns zum Menschen machen: Vorausplanung, Initiative ergreifen, Ziele verfolgen.
Aussterben
Anhand der Knochen konnten die Forscher nachvollziehen, wie sich die Umwelt der Liang-Bua-Höhle auf Flores im Lauf der Zeit änderte: Das offene Grasland wich vor 100 000 Jahren nach und nach dichtem Dschungel. Mit der Zeit verschwanden jene Arten, die in offener Landschaft lebten, zugunsten jener, die sich, wie die Riesenratten, unter einem dichten Blätterdach zu Hause fühlten.
Auch Homo floresiensis scheint es am Ende in der Liang-Bua-Höhle nicht mehr behagt zu haben. Vor rund 50 000 Jahren verliert sich seine Spur. Ob die archaischen Menschen zu diesem Zeitpunkt ausstarben oder an noch unentdeckten Orten weiterlebten, ist offen. Die heutigen Ureinwohner von Flores erzählen Geschichten von „Gogo“, der „Großmutter mit dem unersättlichen Appetit“. Das gnomenhafte Fabelwesen trottet, komische Laute murmelnd, auf zwei Beinen durch den Wald. Es soll im Gesicht voll behaart gewesen sein und lange Arme gehabt haben. Die Menschen erzählen sogar, dass man „Ebu gogo“ noch begegnete, als die Holländer im 19. Jahrhundert auf Flores siedelten. Vielleicht versteckten sich die letzten Gruppen in abgeschiedenen Regenwaldgebieten.
Jedenfalls überdauerten die merkwürdigen Frühmenschen in ihrer abgeschiedenen Welt viel länger als Homo erectus in Asien und selbst der Neandertaler in Europa. Möglicherweise beendete ein massiver Vulkanausbruch, dem gleichzeitig alle höheren Säugetiere, wie z. B. auch die Zwergelefanten (Stegodons), zum Opfer fielen, abrupt die Geschichte der Flores-Menschen. Oder es war der moderne Mensch, der ihren Untergang besiegelte. Er muss seine kleinwüchsigen Verwandten jedenfalls noch getroffen haben und lebte vielleicht 20 000 Jahre oder sogar länger mit ihnen zusammen.
REM