Unser Mesokosmos

Unser Gehirn hat nur einen indirekten Zugang zur Welt. Von dem, was „da draußen“ (in der Außenwelt) vorgeht, bekommt es nur etwas mit, wenn es entsprechende Signale erhält, die von unseren Sinnesorganen aufgenommen werden können. Diese sind unsere „Fenster zur Außenwelt“, durch die das Gehirn mit Informationen über unsere Umwelt versorgt wird.

Die Leistungen unserer Sinnesorgane sind das Resultat der Evolution. Sie haben sich in unserer Stammesgeschichte in Anpassung an unsere unmittelbare Umwelt zum Zwecke der Orientierung entwickelt. Ihre Strukturen passen heute auf die Strukturen der Wirklichkeit um uns herum aus demselben Grund, aus dem die Flügel eines Vogels zur Luft oder der Fuß eines Kamels auf den Wüstensand passt. In einer Welt, in der es beispielsweise gar keine elektromagnetische Strahlung im sichtbaren Licht gäbe, hätten sich auch dafür keine Augen entwickelt. Wozu hätten sie dienen sollen? Die Evolution steckt aber keine Energie in nicht unbedingt nötige Strukturen.

Auch die Reichweite unserer körperlichen Sinne ist auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt, ihr Empfindungsbereich ist eng begrenzt. Unsere Sinne erfassen vor allem nur jenen Teil der Realität, der für die Orientierung und das Überleben in der Umwelt unserer stammesgeschichtlichen Vorfahren besonders wichtig war. Andere Dinge fallen in unserer Wahrnehmung aus der für uns objektiven Wirklichkeit normalerweise heraus.

Daher ist unsere Wahrnehmung günstigenfalls nichts anderes als ein abstrahiertes Abbild der Umwelt. Die Evolutionäre Erkenntnistheorie bezeichnet jenen Ausschnitt der Welt, den unser Organismus ohne künstliche Hilfsmittel erkennend, also rekonstruierend und identifizierend bewältigt, als kognitive Nische oder Mesokosmos. Diese mesokosmischen Strukturen sind demnach solche, die wir als anschaulich bezeichnen.

Der Mesokosmos des Menschen entspricht einer Welt der mittleren Dimensionen. Er reicht von Millimetern bis zu Kilometern, vom subjektiven Zeitquant (eine sechzehntel Sekunde) bis zu Jahren, von Gramm bis Tonnen, von Stillstand bis etwa Sprintgeschwindigkeit, von gleichförmiger Bewegung bis zu Erd- und Sprintbeschleunigung, vom Gefrierpunkt bis zum Siedepunkt des Wassers, usw. Er schließt Licht ein, Röntgen- oder Radiostrahlung dagegen aus. Elektrische und magnetische Felder gehören nicht zu der kognitiven Nische des Menschen (allerdings mancher Tiere). Im Hinblick auf Komplexität reicht der Mesokosmos von Komplexität null (isolierte Systeme; gleichförmige Zusammensetzung) bis zu bescheidener Komplexität (lineare Zusammenhänge).

Aus dem breiten Spektrum elektromagnetischer Wellen, das von Gammastrahlung auf der kurzwelligen Seite bis zu Infrarotstrahlen auf der langwelligen Seite reicht, kann unser Auge nur einen verschwindend kleinen Ausschnitt verarbeiten: Wellenlängen zwischen 380 und 760 Nanometern (1 nm = ein Milliardstel Millimeter). Von den mechanischen Schwingungen in Gasen (z. B. Luft), Flüssigkeiten (z. B. Wasser) oder festen Körpern (z. B. Knochen) kann unser Ohr nur Frequenzen zwischen 16 und 20 000 Hertz (Schwingungen pro Sekunde) registrieren, die wir dann als Töne oder Geräusche hören.

Die reale Welt umfasst also weit mehr Strukturen, als wir mesokosmisch bewältigen – einfach ausgedrückt, vor allem die besonders kleinen (Mikrowelt), die besonders großen (Makrowelt) und die besonders komplizierten (komplexen) Systeme. Diese sind für uns nicht unmittelbar zugänglich. Sie wahrzunehmen hätte für unsere Vorfahren einfach auch keinerlei Selektionsvorteile gebracht.

Erschließung der Welt

Im Laufe der Evolution aber hat sich die Fähigkeit zur Erschließung der nicht sinnlich erfahrbaren Welt offenbar als nützlich erwiesen. Die Erkenntnisstrukturen des Gehirns befähigten den Menschen, den eigenen Körper, Raum und Zeit zu überwinden.

Schon die Herstellung eines zweckmäßigen Steinwerkzeugs ist ohne eine Ahnung des künftigen Gebrauchs kaum denkbar. Als die Menschen es im Laufe der Evolution verstanden, ihr Wissen systematisch weiterzugeben und auszutauschen, konnten sie ihr technologisches Know-how hochtreiben. So verfügten sie bald über eine Reihe von Technologien, mit deren Hilfe sie nicht nur die für sie nutzbare Umwelt erweiterten, sondern auch ihre körperlichen Grenzen sozusagen verschoben: Fertigkeiten von der Werkzeugherstellung über das Kochen bis zum Bau von Behausungen.

Zu einem wichtigen Hilfsmittel zur Erschließung der Welt wurde die menschliche Sprache. Mit ihrer Hilfe können wir Erwartungen und Vermutungen aussprechen, Fragen und Zweifel äußern. Sie erlaubt uns, Sachverhalte zu entwerfen und Dinge zu beschreiben, die wir uns nicht mehr anschaulich vorstellen können (z. B. vierdimensionale Welten oder nicht-kausale Ereignisfolgen), sogar solche, die überhaupt nicht existieren können (wie z. B. „fliegende Teppiche“). Und mit ihr sind wir in der Lage, abstrakte Zusammenhänge zu erkennen.

Der Mensch strebte nach zuverlässigem Wissen über die Natur und die Welt, unabhängig von Phantasie und Spekulation. Dazu entwickelte er die Wissenschaft. Dabei war sein ursprüngliches Ziel, die göttlichen Prinzipien in der Welt zu entdecken. Er begann, seine Umwelt systematisch zu beobachten. Aus einer oder mehreren Einzelbeobachtungen schloss er auf das Allgemeine: Die Sonne geht auf und die Sonne geht unter, also wird die Sonne auch in Zukunft auf- und untergehen – ein Induktionsschluss. Später tritt zur Induktion, also der Erkenntnisgewinnung durch Beobachtung, das Experiment: Lernen durch Versuch und Irrtum. Die Wissenschaft akzeptierte nur noch das, was durch Experiment oder Beobachtung, also empirisch, überprüft war.

Nach der „Kopernikanischen Wende“ stimmte das, was die Wissenschaft erkannt hatte, zum ersten Mal nicht mehr mit dem Augenschein überein. Als Geburt der modernen Wissenschaft in Europa gilt der Beginn des 17. Jahrhunderts. Zu ihren Gründungsvätern gehörte der Italiener Galileo Galilei. Seither sind die Wissenschaftler bei der Erforschung der Wirklichkeit immer mehr auf Abstand zum sinnlichen Erleben gegangen und konzentrierten sich auf das technisch messbare.

Überwindung des Mesokosmos

Eine unverzichtbare Brücke zwischen den experimentellen Messungen und Beobachtungen auf der einen Seite und dem Auffinden von Naturgesetzen und Grundprinzipien auf der anderen ist eine Theorie. Sie ist dann eine gute Theorie, wenn sie zu einem Modell führt, das sich an nachprüfbaren Fakten orientiert und eine Fülle von Beobachtungen widerspruchsfrei beschreiben kann. Außerdem muss es imstande sein, die Ergebnisse zukünftiger Beobachtungen vorherzusagen. Wenn die Voraussage sich bestätigt, ist das ein Test für den Wirklichkeitsgehalt des Modells.

Die Ebene der Modelle ist der Bereich, der heute die wissenschaftliche und technische Innovation immer schneller – und immer weniger kontrollierbar – vorantreibt. Modelle sind aber immer Vereinfachungen. Sie sollen die größte Vielfalt an komplexen Phänomenen mit der einfachsten Menge an Konzepten erfassen, die für das menschliche Gehirn verständlich sind. Ob sie die Realität treffen, ist eine abstrakte Frage.

Über Gedankenexperimente müssen sich die Wissenschaftler oft erst mal einen Weg bahnen, wie etwas ungefähr vorstellbar ist. Selbst wenn Versuche im Geist oft mehrere Interpretationen zulassen, werfen sie ein neues Licht auf althergebrachte Ansichten und erzeugen fruchtbare Diskussionen. Mit dieser Methode lassen sich gedanklich auch Annahmen überprüfen, die experimentell nicht erforscht werden können, und Theorien hinterfragen.

Die menschliche Sprache taugt für die physikalische Wirklichkeit nur begrenzt. Sie hat sich an den Gegenständen unserer alltäglichen Erfahrung entwickelt und hält, beispielsweise für die Befunde der subatomaren Realität, keine Begriffe mehr bereit. Auf der Wirklichkeitsebene des Atoms lassen sich die Befunde und Entdeckungen endgültig nur noch in der Sprache der Mathematik ausdrücken.

Bedeutung der Mathematik

Die Mathematik erwies sich als ein wirkungsvolles Instrument, um die Umwelt, die Natur, besser verstehen und beschreiben zu können. Sie gehörte von Anfang an zur menschlichen Kultur. Die Basis aller Mathematik ist der angeborene Zahlensinn: Mengen von bis zu vier Gegenständen werden auf einen Blick erfasst. Größere Mengen können wir zunächst nur näherungsweise schätzen. Dieser angeborene Schätzsinn erlaubt keine Genauigkeit, war aber wohl in der Evolution von Nutzen. Wahrscheinlich schaffte die Fähigkeit, Mengen zu erfassen, Vorteile im Überlebenskampf.

Stanislas Dehaene nimmt an, dass unser angeborener Zahlensinn logarithmisch funktioniert – wie auch unser Gehör, das Lautstärken nach logarithmischen Dezibel wahrnimmt. Die Zahlenreihe sei erst durch kulturelle Einflüsse zur Gerade gestreckt worden. Darauf deutet hin, dass z. B. einzelne archaisch lebende Völker, wie die Mundurucu- Indianer vom Amazonas, Zahlen nicht linear, sondern logarithmisch ordnen – wie das auch europäische Kindergartenkinder tun.

Auf dem evolutionär alten Schätzsystem basiert unser exaktes Rechenvermögen, wozu aber erst die Fähigkeit, Symbole zu schaffen, beitrug. Auf den Zahlsymbolen, die noch vor den Schriftzeichen erfunden wurden, baut das Denksystem der Mathematik auf.

Die Wissenschaftler benutzen die Mathematik als Formelsprache in ihren Modell-vorstellungen. Weil unser Anschauungsvermögen nur mesokosmischen Strukturen gerecht wird, ist eine Naturwissenschaft, die sich nicht mit Beschreibungen zufrieden gibt, sondern Erklärungen sucht, auf die Verwendung mathematischer (und damit oft unanschaulicher) Strukturen unabdingbar angewiesen. Eine Theorie muss daher in aller Regel zunächst in mathematischen Gleichungen ausgedrückt werden, erst dann ist sie durch Beobachtungen überprüfbar.

Mathematik kann die verschiedensten Dinge und Ereignisse in der Realität modellieren, d. h. durch Gleichungen beschreiben. Sie liefert aber keine direkte Erkenntnis über die Welt, sondern stellt in vielfältige Weise nur Strukturen zur Verfügung, die wir auf ihre Anwendbarkeit bei der Beschreibung der Natur prüfen können. Ihre Gleichungen formulieren exakt oder sogar quantitativ, was wir uns vage und qualitativ immer schon vorgestellt haben, erfassen aber auch Strukturen, die uns anders überhaupt nicht zugänglich sind, darunter auch sehr komplizierte und komplexe Systeme.

So vermögen wir mit Hilfe der Mathematik zu einer tieferen Ebene des Verständnisses der Welt vorzudringen und zu weiterführenden Schlussfolgerungen über sie zu gelangen. Auf Grund seiner mathematischen und technologischen Fähigkeiten schuf der Mensch technische Hilfsmittel, mit denen es ihm gelang, die Grenzen des Mesokosmos zu überwinden. Zunächst waren das Teleskope und Mikroskope. Er schuf Ultraschallgeräte und Tomographen, er erzeugte Laser und entwarf unter Zuhilfenahme eines Rechners komplizierte logische Konstruktionen. Bald wird der erste Quantencomputer anwendungsbereit sein. Die Vielfalt der Anwendungen, der Inspirationen und der Methoden ist unermesslich.

Die mathematischen Strukturen wie Zahlen, Vektoren, Gleichungen und geometrische Objekte beschreiben die Welt erstaunlich wahrheitsgetreu. Über den Zusammenhang zwischen Mathematik und Natur gibt es zwei diametral entgegengesetzte Meinungen, die bis auf die antiken Philosophen Platon und Aristoteles zurückgehen. Nach Aristoteles ist die physikalische Realität grundlegend und die mathematische Sprache nur eine nützliche Annäherung. Platon zufolge ist die mathematische Struktur das eigentlich Reale, das von Betrachtern nur unvollkommen wahrgenommen wird. Kinder, die noch nie von Mathematik gehärt haben, sind spontane Aristoteliker. Die platonische Sicht wird erst allmählich erworben.

Theoretische Physiker neigen heute mehrheitlich zum Platonismus. Sie vermuten, dass die Mathematik das Universum so gut beschreibt, weil es an sich mathematisch ist. Schon Galilei schrieb: „Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben.“ Algebraische und geometrische Systeme sind nicht nur nützliche Instrumente und Erfindungen, sie existieren auch außerhalb von Raum und Zeit, meinen heute die meisten Wissenschaftler. Mathematische Strukturen werden demnach nicht erfunden, sondern entdeckt. Sie sind im ganzen Universum wahr.

Die Welt um uns herum lässt sich mit den seltsamen Symbolen und Zeichen der Mathematik beschreiben und erklären. „Verstehen“ können wir sie trotzdem nicht, denn das, was die Formeln ausdrücken, entzieht sich unserer Vorstellungskraft – es liegt außerhalb unseres Mesokosmos. Viele der tiefgründigsten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts – Relativitätstheorie, Quantenmechanik, Kurt Gödels Unvollständigkeitssatz, Chaos-Theorie – ziehen dem begreifenden Geist bestimmte Schranken. Quantenfelder, Strings, Wurmlöcher, Urknall oder die Topologie des Universums lassen sich nur über den schmalen Grat der höheren Mathematik erreichen.

Die Physik muss zusätzlich zu den mathematischen Beschreibungen die Wirklichkeit erklären: mit theoretischen Modellen. Sie haben aber keinen absoluten Wahrheitsanspruch. Sie müssen immer wieder kritisch hinterfragt werden und im Licht neuer Indizien und Entdeckungen gegebenfalls modifiziert oder sogar ersetzt werden. Daher nähern sich unsere Theorien und Vorstellungen der Wirklichkeit nur an und sind lediglich begrenzt gültig. Man weiß keineswegs, ob der Raum wirklich gekrümmt ist, wie das die Allgemeine Relativitätstheorie behauptet. Aber bis heute ist keine physikalische Sicht der Welt bekannt, die überzeugender wäre als diejenige, sich den Raum „gekrümmt“ vorzustellen.

Das Realismusproblem ist ein Dauerthema der Philosophie und Wissenschaftstheorie. „Wir können nicht fragen, was die Wirklichkeit ist, denn wir haben keine modellunabhängigen Überprüfungen von dem, was real ist“, schrieb Stephen Hawking. „Ich stimme nicht mit Platon überein, nach dem die Naturgesetze unabhängig von uns existieren.“

Der theoretische Elementarteilchenphysiker Henning Genz setzt der These, dass das Universum mathematisch und Gott ein Mathematiker sei, die These entgegen, dass im Universum Prinzipien regieren, die ohne Mathematik formuliert und verstanden werden können. „Man kann geradezu sagen, dass fundamentale Fortschritte der Physik mit der Ablösung mathematischer Prinzipien durch nichtmathematische einhergehen.“ (Henning Genz: „Gedankenexperimente“; S.177) Die Mathematik sei praktisch gezwungen, ihre selbst auferlegten Grenzen zu verlassen, um zu immer komplexeren und reicheren Systemen vorzustoßen.

Es führt kein Weg daran vorbei, dass wir die reale Welt von ihrer mathematischen Beschreibung unterscheiden müssen. Daher werden wir sie nie mit vollkommener Genauigkeit erfassen, also nie endgültig erklären können. „Dort reicht das Auge nicht hin, die Sprache nicht, nicht der Geist.“ (Upanischaden)

REM

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