Der „Freie“ Wille

Seit der Antike beschäftigen sich Philosophen mit der Freiheit oder Unfreiheit des menschlichen Willens. Heute ist das Problem der freien Willensentscheidung eine der wichtigsten Fragen, die gegenwärtig an der Berührungsfläche zwischen Natur- und Kulturwissenschaften diskutiert wird.

Verschiedene Kriterien wurden aufgestellt, die erfüllt sein müssen, damit eine Entscheidung oder Handlung als freiwillig anzusehen ist. Die drei wichtigsten lauten:

1. Prinzip des Anderskönnens: Eine Person muss in einer Situation zwei oder mehr Handlungs- oder Entscheidungsalternativen besitzen, aus denen sie auswählen kann. 2. Prinzip der Urheberschaft: Es muss von der Person selbst abhängen, also im Einklang stehen mit ihren Motiven und Überzeugungen, welche der möglichen Alternativen ausgewählt wird. 3. Prinzip der Autonomie: Die Wahl der Alternative muss autonom, also selbständig durch die Person erfolgen. (Anders wäre dies, wenn jemand unter Zwang handelt.) In der Ethik bedeutet die Aussage, der Mensch habe einen freien Willen, dass er sittlich autonom über sich selbst verfügt und fähig ist, dem Handeln Zwecke vorzugeben, die von der Natur nicht vorgegeben sind.

Nach der landläufigen Vorstellung verfügen wir über einen freien Willen und könnten dementsprechend bei den meisten Entscheidungen auch anders wählen. Jedenfalls fühlt es sich intuitiv so an. Bei Philosophen und Naturwissenschaftlern gehen in der Frage der Willensfreiheit die Meinungen weit auseinander. Zwei Extreme scheinen sich in der Diskussion gegenüberstehen: „Mein Wille ist frei. Ich kann alles tun und wollen und völlig frei entscheiden. Neurobiologische Erkenntnisse haben keinerlei Bedeutung für unser Selbstkonzept als frei und verantwortlich handelnde Menschen.“ und „Für alles gibt es eine kausale Erklärung, also auch für menschliches Handeln und Entscheiden. Der ‚Freie Wille‘ ist eine Illusion. Personen handeln als Automaten, denen ihr Gehirn vorgaukelt, sie würden selbst entscheiden.“

Die Illusion

In der klassischen Physik gilt ein strenger Determinismus: Die Welt ist geschlossen, das Gegenwärtige ergibt sich nach festen Ursache-Wirkungs-Beziehungen zwangsläufig aus dem Vorhergehenden. Wenn fast alle physikalischen Prozesse festen Gesetzmäßigkeiten folgen – außer vielleicht Quantenprozesse*, die in ihrer Regellosigkeit aber keine vernünftige Basis für freie Willensakte sein können -, sind auch die Vorgänge im Gehirn stets durch vorangegangene neuronale Prozesse determiniert, also festgelegt. Es scheint keinen Raum für einen freien Willen zu geben, der unabhängig von allen materiellen Wechselwirkungen entscheidet und dann auf die neuronalen Prozesse so einwirkt, dass diese ausführen, was der Wille „will“. Ein freier Wille scheint also mit dem Determinismus nicht vereinbar (kompatibel).

*Tatsächlich hat es immer wieder Versuche gegeben, die freie Willensentscheidung mit quantenmechanischen Unbestimmtheiten in Verbindung zu bringen. Die probabilistischen Phänomene konnten bisher allerdings nur auf atomarer und subatomarer Ebene, nicht aber für makroskopische Systeme wie das Gehirn oder einzelne Neurone nachgewiesen werden. Vielmehr mitteln sich die Quanteneffekte schon auf der molekularen Ebene durch thermisches Rauschen vollkommen weg.

Die Experimente der Neurophysiologen Benjamin Libet und Bertram Feinstein legen die Schlussfolgerung nahe, dass wir in der Tat gar nicht das tun, was wir als bewusste Lebewesen wollen, sondern dass das, was wir wollen, aus einer im Verborgenen ablaufenden Kette von Hirnprozessen resultiert. Ihre Versuche ergaben, dass etwa 300 Millisekunden, bevor ich eine Entscheidung bewusst treffe, genau jetzt einen Finger zu krümmen, motorische Areale des Gehirns bereits die entsprechenden Weichen gestellt haben.

Libet interpretiert das so, dass in dieser Zeitspanne von einer knappen halben Sekunde ein die Bewegung vorbereitendes Bereitschaftspotenzial aufgebaut wird, das die spezifische Willkürbewegung anzeigt. Diese Hirnaktivität tritt nicht ins Bewusstsein, während der gewissermaßen hinterher hinkende bewusste Entschluss aber als das erste Glied des Entscheidungsprozesses erlebt wird. Das Bewusstsein stellt sich also selbst als Initiator unserer Handlungen vor, was es jedoch nicht ist, da die Ereignisse bereits im Gange sind, ehe es auftritt.

Die Empfindung, etwas zu wollen, ist demnach nur das Echo von unbewussten Prozessen, die zuvor in den Windungen des Gehirns abgelaufen sind. Nichts deutet darauf hin, dass die Kausalketten irgendwo unterbrochen wären. Falls es darüber hinaus noch Einflüsse des Zufalls gibt, etwa durch thermisches Rauschen, dann wird die je folgende Handlung etwas unbestimmter, aber dadurch noch nicht dem freien Willen unterworfen.

Je mehr die Neurowissenschaften über bewusste und unbewusste Hirnprozesse in Erfahrung bringen, desto enger scheint sich der Spielraum für freie Willensentscheidungen zusammenzuziehen. Neueste Forschungsergebnisse (mittels Kernspintomographie) erlauben sogar schon zu sagen, eine Versuchsperson wird jetzt dieses tun und nicht jenes. Und das bereits lange, bevor diese sich entschieden hat. Die Experimente legen darüber hinaus nahe, dass wir uns nachträglich Begründungen zurecht legen für die Entscheidungen, die durch die verborgenen Hirnprozesse generiert wurden. Das Gehirn scheint uns also Willensfreiheit vorzugaukeln, wo keine besteht. Willensfreiheit wäre dann also, freiwillig zu tun, was man unfreiwillig tun muss – oder, wie der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788 – 1860) schon im 19. Jahrhundert meinte: „Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber nicht wollen, was er will.“

Die Vorstellung, dass wir als handelnde Individuen ohne Ursache neue Ereignisketten in Gang setzen können, vertritt heute unter Philosophen längst nur noch eine kleine Minderheit. Es scheint unsinnig, dem deterministischen Denken der Hirnforscher ein Konzept der Willensfreiheit entgegenzustellen, das auf eine Art naiven Indeterminismus hinausläuft. Würden wir alle Faktoren kennen, die unsere Entscheidungen beeinflussen, dann würden wir unser eigenes Handeln vielleicht ähnlich betrachten wie das einer Robo-Ratte. Forscher können durch Fernsteuerung nicht direkt beeinflussen, was die Ratte tut, aber sie können beeinflussen, was die Ratte tun möchte.

Kausallücken?

Manche Philosophen und Theologen sehen aber noch ein winziges Schlupfloch zur Willensfreiheit. Sie spekulieren, dass die Naturgesetze hübsche kleine Lücken ließen, in denen der freie Wille agieren könne. Libet selbst brachte das Veto-Prinzip ins Spiel: Der menschliche Wille könne ja eine zerebral vorbereitete Handlung buchstäblich im letzten Moment unterbrechen bzw. stoppen. Der freie Wille initiiert demnach keinen Prozess, sondern kontrolliert ein letztes Mal, ob z. B. eine Bewegung tatsächlich sinnvoll oder notwendig ist. Ein solches „bewusstes“ Veto wäre also erst nötig, wenn sich der bewusste Wille und die nichtbewusste Regung widersprechen würden.

Tatsächlich stellte sich in Experimenten heraus, dass das Bewusstsein eine geplante Bewegung noch verhindern kann, wenn dafür genügend Zeit bleibt. So gelang es Probanden, einen Tritt aufs Pedal abzubrechen, nachdem der Computer bereits das Bereitschaftspotenzial aus ihren Hirnwellen herausgelesen hatte. Blendete der Computer das Stoppsignal allerdings weniger als 200 Millisekunden vor den ersten Muskelzuckungen der Versuchsteilnehmer ein, waren sie nicht mehr in der Lage, die Bewegung komplett zurückzuhalten. Die Signale waren bereits im Motorkortex angekommen und wurden ausgeführt – auch gegen den Willen der Probanden.

Einige Hirnforscher deuten die dem Entschluss vorangehende Hirnaktivität als eine Art Vorschlag, in einer bestimmten Art und Weise zu agieren. Erst wenn der Mensch zustimme, würde diese als bewusste Entscheidung empfunden. Manche meinen sogar, das sog. Bereitschaftspotenzial sei gar nicht ursächlich mit der Handlung verknüpft, sondern Ausdruck eines Grundrauschens, einer steten Hintergrundaktivität, welche die Entscheidung für eine Bewegung oder ein bewusstes Urteil erleichterte, sobald eine bestimmte Schwelle überschritten wird. Für andere wiederum spiegelt die neuronale Aktivität eine generelle Erwartung wider, die in die eine oder andere Handlung münden kann.

Dies erinnert an die Funktionsweise des Bremsassistenten bei Autos. Wenn er richtig funktioniert, so zeichnet er sich dadurch aus, dass eine elektrische Aktivität in den Steuerzentren für die elektronische Bremse messbar ist, noch bevor der Fahrer mit seinem Fuß das Bremspedal berührt, also sozusagen noch bevor dem Auto die Intention zu bremsen „bewusst“ werden könnte. Der Bremsassistent interpretiert hier ein eventuell schnelles Liften des Fußes vom Gaspedal als wahrscheinlich folgenden Bremswunsch und konfiguriert die Bremse schon mal vorsorglich hinsichtlich optimaler Bremskraft, d. h., er verändert das Ansprechverhalten und die Kennlinie des Bremskraftverstärkers.

Trotz allem wären damit die Einflussmöglichkeiten des Bewusstseins immer noch mehr oder weniger begrenzt, so dass auch die Willensfreiheit in gleichem Maße begrenzt wäre. Man könnte dann also allenfalls von einer mehr oder weniger eingeschränkten, einer sog. „bedingten“ Willensfreiheit sprechen. Kritiker meinen, dass selbst eine reduzierte Schiedsrichterfunktion wiederum allein durch Hirnprozesse gesteuert sein müsste.

Kompatibilität

Es scheint also sehr unwahrscheinlich, dass wir tatsächlich in einer Welt mit Kausallücken leben – ganz zu schweigen davon, dass ein autonomes Ich die Vorgänge im Gehirn völlig selbständig beeinflusst (abgesehen von der Frage, woher es kommt und wie es Wünsche und Überzeugungen generiert). Ein deterministisches Menschenbild widerspricht aber unserem intuitiven Selbstverständnis. Für uns Menschen ist der freie Wille eine reale Erfahrung – wir erfahren uns ja tatsächlich als frei in unseren Entscheidungen. Der Dichter Samuel Johnson (1709-1784) brachte es einst auf den Punkt: „Alle Theorie spricht gegen die Freiheit des Willens – und die gesamte Erfahrung dafür.“ Trotz der Gegensätzlichkeit der Standpunkte versuchen Philosophen und Hirnforscher, sie miteinander zu versöhnen und das Erlebnis der Willensfreiheit kompatibel zu machen mit dem in der Welt herrschenden Determinismus.

Es gibt wohl theoretisch tatsächlich einen Punkt, von dem aus ich völlig determiniert handle, aber dieser liegt sehr weit entfernt von meinem Erleben – am Endpunkt der Physik. Ein komplexes, vollständig bestimmtes und determiniertes System (z. B. Verhalten), das also ganz und gar von auf einfacheren Stufen wirkenden Gesetzen gesteuert wird, kann so kompliziert sein, dass wir es höchstwahrscheinlich niemals berechnen können. Das Nicht-voraussagen-können unseres eigenen Handelns könnten wir dann im Alltag als „Freiheit“ interpretieren. Willensfreiheit wäre in dem Sinne also die Beschreibung für eine weder vom Individuum selbst noch von Philosophen und Neurobiologen überschaubare Kausalität.

Unsere Freiheit existiert nicht auf der Mikroebene der Materie, der Ebene der Teilchen, sondern auf derjenigen der Menschen, der Makroebene des Geistes. Nach dem Philosophen Michael Pauen handelt ein Mensch frei und autonom, wenn seine Handlungen und Entscheidungen weder vom Zufall noch durch äußere Zwänge bestimmt werden, sondern nur von ihm selbst, von seinen in der Regel tief in seiner Person verankerten Überzeugungen, Erfahrungen, emotionalen Bewertungen, Motiven und Wünschen. Auch in der Psychoanalyse ist es mein Selbst, die einmalige Persönlichkeit mit ihrer unverwechselbaren Biografie, der die Entscheidungsgewalt zukommt.

Diejenigen Entscheidungen sind also frei, die wir selbst im Einklang mit erlernten Verhaltensmustern, erlernten oder angeborenen Vorlieben, Ereignissen der Vergangenheit, unbewussten Mechanismen usw. treffen und nicht etwa durch Zwang. Jeder Mensch hat einen durch sein Genom, seine Erlebensgeschichte und aktuelle Sachzwänge begrenzten Entscheidungsfreiraum. Sein Wille agiert demnach in einem strukturierten Feld; er hat seine Vorgeschichte. Die Wünsche, Ziele und Überzeugungen, die uns schon vor einer Entscheidung eigen sind, legen den Raum der Handlungsoptionen fest, in dem wir uns bewegen. Wir sind also Autoren unserer eigenen Handlungen, weil wir nicht aus einem willenlosen Entscheidungsvakuum heraus handeln, sondern in dem ständig fließenden Abgleich zwischen Wahrnehmungen, Erfahrung, langfristigen Interessen und Neigungen bis zu aktuellen Bedürfnissen.

Ein absolut freier und in jeder Richtung gleichermaßen offener Wille führt schon aus rein begrifflichen Gründen zu Widersprüchen. Ohne von Gründen, Prinzipien, Zielvorstellungen und Überzeugungen geleitet zu sein, wäre es unmöglich, ein gewolltes Ziel „frei“ zu erreichen. Wenn unsere Handlungen unter exakt gleichen Bedingungen auch anders ausfallen könnten, dann sind sie de facto nicht weit von einem Zufallsereignis entfernt. Aber Zufall ist gerade nicht das, was wir mit „Freiheit“ meinen.

Eine freie Handlung darf also sehr wohl determiniert sein, sofern die Determination vom Urheber ausgeht. In dieser Hinsicht besteht kein Widerspruch zwischen Handlungsfreiheit und Naturkausalität. Diese „kompatibilistische“ Sichtweise, die heute weit verbreitet ist, überwindet nicht nur den Gegensatz zu wissenschaftlichen Prinzipien, sondern wird auch unseren intuitiven vorwissenschaftlichen Vorstellungen besser gerecht. Wenn unser Verhalten auch durch Gesetze und Anfangsbedingungen vollständig festgelegt ist, erscheint es also trotzdem sinnvoll, es mit Begriffen wie Entscheidung und Wille zu beschreiben.

Die tagtägliche Entscheidung, dass wir zwischen Handlungsalternativen wählen können, ist also keine pure Illusion. Wir sind keine Automaten, in denen gerade Ursachen und Wirkungen ablaufen, die für uns selbst undurchsichtig bleiben. Es klingt wie ein Witz, wenn jemand sagt: „Ich kann über mein Tun und Denken nicht frei entscheiden; ich bin nicht freiwillig hier – und dass ich das sage, geschieht auch nicht freiwillig.“ Entweder geben unbewusste Motive oder Impulse den Ausschlag für eine Wahlentscheidung, oder die Vernunft trifft sie im Sinne eines dominierenden Interesses. Der Determinismus wird dadurch zwar nicht aufgehoben, aber der Mensch wird – sofern nicht äußere oder innere Zwänge dem entgegenstehen – in die Lage versetzt, zu tun, was er will. Der Schweizer Philosoph Peter Bieri spricht von einem „bedingt freien Willen„.

Heute glauben 80% der befragten Wissenschaftler zumindest an diese schwache Form der Willensfreiheit, die mit dem Determinismus vereinbar ist. Einige sprechen von einem Scheinproblem. Sie halten den philosophischen Begriff der Willensfreiheit für überholt. Statt sich mit dem allzu simplen Gegensatz von Freiheit und Determinismus zu beschäftigen, stehe eher das Verhältnis zwischen Handeln und den subjektiven Gründen dafür zur Debatte. In den Labors und Instituten beschäftigt man sich heute mehr damit, zu erkunden, wie Materielles und Geistiges zusammenhängen. Die Trennung von Körper und Geist erscheint als ein Relikt alter Zeiten, von dem sich die Forscher schon lange verabschiedet haben.

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Verantwortung und Schuld

Ein deterministisches Weltbild lässt sich nur schwer mit traditionellen Begriffen wie „Freiheit“, „Verantwortung“ und „Schuld“ vereinbaren, denn wenn das Gehirn durchweg deterministisch arbeitet, kann für diese Begriffe offensichtlich kein Raum sein. Wenn aber aus kompatibilistischer Sicht Verhalten und Urteile aus einem Prozess des Überlegens aus Motiven, Wahrnehmungen, Zukunftsvorstellungen und so weiter hervorgebracht werden, verlangt das auch Verantwortung für das, was ich sage und tue. Allerdings ist die Unterstellung, der Mensch wäre generell in der Lage, sich gegen Gewalt und für das Recht zu entscheiden, unter Strafrechtlern umstritten. Es gibt ganz handgreifliche und schwer zu leugnende Unterschiede hinsichtlich der Fähigkeit, das eigene Handeln zu steuern.

In früheren Zeiten wurden Epileptiker und Schizophrene noch als vom Teufel besessen angesehen, ausgegrenzt, verurteilt und brutal behandelt. Wir verstehen sie heute als Opfer, die für ihre Handlungen nichts können. Psychisch Kranke, aber auch Kinder, betrachten wir deshalb in einem wesentlich geringeren Maße als verantwortlich für ihr Tun als gesunde Erwachsene. Wir nehmen auch zumindest eine verminderte Schuldfähigkeit infolge von Drogenkonsum oder eines psychischen Ausnahmezustands an. Es muss also immer der Mensch mit seiner gesamten soziologischen und biologischen Vorgeschichte sowie im Licht hirnphysiologischer Erkenntnisse beurteilt und eventuell mit Strafe belegt werden – und nicht allein die abstrakte Handlung des Täters. Gerade besonders abscheuliche Delikte hängen nachweislich oft mit angeborenen oder früh erworbenen neuronalen Schäden zusammen. In einem solchen Fall muss ein Täter meist für unzurechnungsfähig erklärt werden.

Strafe scheint aber generell auch dann gerechtfertigt und in vielerlei Hinsicht eine wichtige Maßnahme zu sein, wenn ein Täter nicht anders hätte handeln können. Nicht nur die Kompatibilisten sagen: Ja, wir dürfen die Rechtsbrecher weiterhin für schuldig erklären und ihnen moralische Vorwürfe machen! Da Menschen sich Vorwürfe zu Herzen nehmen und ihr Verhalten danach ausrichten würden, sei es, so meinte der Physiker und Philosoph Moritz Schlick (1882-1936), durchaus sinnvoll, sie für ihr Tun moralisch zu verurteilen und strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Allein schon die Androhung von Freiheitsentzug sei ein effektives Abschreckungsmittel, das das Verhalten des Einzelnen beeinflusse.

Die Menschen haben ein substanzielles Interesse an einem Rechtssystem, das Leib und Leben, Hab und Gut schützt. Und es funktioniert offensichtlich nur dann, wenn es seinen Forderungen durch Strafen Nachdruck verleiht. Die neuzeitlichen und aufklärerischen Staatstheoretiker wie Thomas Hobbes (1588-1679), John Locke (1632-1704), Jean-Jaques Rousseau (1712-1778) und Immanuel Kant (1724-1804) hatten die Idee eines gesellschaftlichen Vertrages, der den Menschen Sicherheit für Leben und Besitz bieten sollte und von ihnen im Gegenzug verlangte, die Sicherheit anderer zu respektieren. Das schloss auch Strafen ein, sofern sie die Sicherheit garantierten und nur im Fall der Vertragsverletzung verhängt würden.

Nur „Wegsperren“ ist nicht unbedingt von Nutzen. Die Gesellschaft muss weitergehende Maßnahmen ergreifen, damit unerwünschtes Verhalten nicht wieder vorkommt. Dazu gehören u. a. Schulungs- und Therapieprogramme (auch präventiv). Social Engineering nennt man die Behandlung sozial schädlichen Verhaltens mit dem Ziel, es zu korrigieren oder wenigstens die Gesellschaft vor seinen Folgen zu schützen. Schließlich darf aber auch der Nutzen eines Strafsystems für die Opfer nicht vernachlässigt werden. Für diese ist es wichtig, Solidarität zu verspüren und zu wissen, dass das Geschehene nicht einfach hingenommen wird. Solche Erfahrungen bedingen auch zukünftiges Handeln mit.

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REM

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