Es fällt immer wieder auf, dass oft voreilige und teilweise spekulative Schlüsse aus Funden und wissenschaftlichen Untersuchungen gezogen werden. Die Entdeckung des „Danuvius guggenmosi“ genannten fossilen, aufrechtgehenden Menschenaffen, der vor über 11 Millionen Jahren im heutigen Ostallgäu lebte, kann sicherlich als Sensation betrachtet werden. Ihn aber in die direkte Evolution zum Menschen zu platzieren, erscheint dagegen zum jetzigen Zeitpunkt mehr als gewagt.
Die Entwicklung des aufrechten Ganges bei Primaten begann schon sehr früh in der Evolution – er scheint auch mehrfach entstanden zu sein. Darauf deuten beispielsweise 10 Millionen Jahre alte Beckenknochen, die man in Ungarn fand, hin, ebenso Skelettreste des „Dryopithecus laietanus“, eines fossilen Menschenaffen, der vor 9,5 Millionen Jahren in der Nähe des heutigen Barcelona lebte und der schon eine relativ aufrechte Körperhaltung besaß.
In der Evolution werden neue Eigenschaften häufig dadurch erworben, dass die betreffenden Organe zunächst für mehrere Funktionen geeignet sind. Solche Mehrfachfunktionen ermöglichen einen langsamen Wandel im Körperbau, ohne dass alle Teile gleichzeitig erfasst werden. Die Selektion sorgt dann dafür, dass eine Funktion an Bedeutung verliert oder sogar ganz wegfallen kann.
Bei Primaten kommen viele Erscheinungsformen des Kletterns vor, bei denen die gleichen Muskeln aktiviert werden wie beim Gehen. Das sogenannte Stemmgreifklettern wie auch das Aufrechtsitzen im Geäst gelten für viele Evolutionsbiologen als Präadaptationen für den Aufrechtgang. Als dieser sich entwickelte, war er daher anfangs noch mit der Fähigkeit zum Klettern verbunden.
Auch Danuvius guggenmosi war noch ein guter Kletterer – gleichzeitig hat er sich wohl auf Ästen zweibeinig fortbewegt, aber auch mit Armen von Ast zu Ast gehangelt. Seine vorderen Gliedmaßen waren noch vom Klettern dominiert, während die Hintergliedmaßen schon auf Zweibeinigkeit ausgerichtet waren. Zudem besaß er schon eine s-förmige Wirbelsäule, was entscheidend für das zweibeinige Gehen ist. Der Menschenaffe war ein Meter groß und wog gemäß den Funden zwischen 18 kg (Weibchen) und 31 kg (Männchen). Für einen so schweren Primaten ist zweibeiniges Gehen erstaunlicherweise ökonomischer als Vierbeinigkeit.
Der Primat soll in einer subtropisch warmen, waldigen Landschaft mit dichten Sümpfen und Flüssen und üppiger Ufervegetation gelebt haben. Er war, wie andere Urhominiden, wohl ein ökologischer Generalist, der mit den Verhältnissen am Boden ebenso zurecht kam wie mit denen am und im Wasser. Vielleicht hat sich dieser Menschenaffe im Fluss eine neue Nahrungsquelle erschlossen – und um im Wasser stehen und gehen zu können, musste er sich aufrichten. Möglicherweise wollte er aber auch nur an Früchte höherer Zweige gelangen.
Die letzten Jahre ist infolge einer größeren Zahl neuerer Funde, zu denen auch die vier Skelette des Danuvius guggenmosi aus der Tongrube „Hammerschmiede“ gehören, viel Bewegung in die Anthropologie gekommen. Es herrscht inzwischen eine große Vielfalt unter den frühen Hominiden. Aus dem Miozän* kennt man gut 100 Arten Großer Menschenaffen, darunter nicht wenige aus Eurasien. Sie wirken hinsichtlich Lebensraum und Lebensweise eher wie Varianten derselben Grundthemen.
*[Als Miozän bezeichnet man die Zeitepoche von vor circa 24 Millionen bis vor 5 Millionen Jahren. Aus Afrika und Asien drangen damals viele Tierarten über neu entstandene Landverbindungen nach Europa vor, was ein kompliziertes Wechselspiel von Verdrängung und Anpassung zur Folge hatte und die Zusammensetzung der Fauna in Europa veränderte.]
Eine gerade und direkte Stammeslinie vom affenähnlichen Lebewesen zum heutigen Menschen, dem Homo sapiens, hat es offenbar nicht gegeben . Die Natur hat heftig herumexperimentiert. Schwankungen des Klimas dürften sich vielfältig ausgewirkt haben. Ein bestimmter Körperbau, eine Ernährungsweise oder Art der Fortbewegung, die zu einer Zeit gut passten, waren zu einer anderen womöglich weniger ideal. Unsere biologische Entwicklung schritt also nicht gleichmäßig in derselben Richtung voran, sondern eher sporadisch mal hierhin, mal dorthin.
Merkmale wie aufrechter Gang, Gehirngröße Gebiss oder Hände haben sich in den einzelnen Populationen also unterschiedlich schnell entwickelt. Wenn diese dann irgendwann aufeinander trafen, trugen ihre Nachkommen Neukombinationen aus diesen Merkmalen. Man spricht von einer „Mosaik-Evolution“. Gleiche und ähnliche Merkmale bedeuten also nicht zwangsläufig eine Abstammungsverwandtschaft – nicht einmal dann, wenn die beiden Primaten zu verschiedenen Zeiten lebten. Viele Paläoanthropologen gehen daher heute von einem lockeren, ausladenden Stammbusch mit vielen verzweigten Ästen aus.
So hat sich auch der aufrechte Gang im Verlaufe der Primatenevolution wohl mehrfach entwickelt, als auch bei Primaten, von denen wir nicht abstammen. Daher ist es zumindest zu früh, davon zu sprechen, dass sich der Prozess der Entwicklung des aufrechten Ganges in Europa vollzog, geschweige denn davon, dass „Danuvius guggenmosi“ ein Vorfahre des modernen Menschen sei.
REM